Christina Ullrich: „Ich fühl’ mich nicht als Mörder“. Die Integration von NS-Tätern in die Nachkriegsgesellschaft, Darmstadt 2011.
Eine lesenswerte wissenschaftliche Diskussion zur Reintegration von NS-Tätern in die postnationalsozialistische Gesellschaft, die die verketteten Mechanismen einer Schuldverweigerung aufzeigt.
„… Die wirklich Schuldigen an den Verbrechen, die in der nationalsozialistischen Zeit und im Kriege begangen worden sind, sollen mit aller Strenge bestraft werden …“ Wie sah es aber tatsächlich mit der Strenge aus, die Konrad Adenauer hier in seiner Regierungserklärung vom 20. September 1949 einfordert?
Einleitung
Die Historikerin Christina Ullrich legt mit ihrer wissenschaftlichen Arbeit „Ich fühl’ mich nicht als Mörder“, Die Integration von NS-Tätern in die Nachkriegsgesellschaft den Fokus auf die Beständigkeit gesellschaftlicher Strukturen in der nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches neu gegründeten Bundesrepublik Deutschland. Exemplarisch stehen hierfür 19 Täter mit ihren Lebensläufen, die nach dem biografischen Bruch durch den Krieg fast nahtlos wieder in die Gesellschaft integriert werden. Integration bedeutet aber die Täter sind ein Teil der Gesellschaft und haben entsprechend teil an ihr. Wie sahen die gesellschaftlichen Mechanismen aus, die diese Wiederteilhabe ermöglichten, die den Gestapo Chef von der SD Dienststelle Minsk Georg Heuser, beteiligt an der Tötung von Tausenden von Juden und weiteren als lebensunwert geltenden Menschen, zum Leiter des Landeskriminalamtes Rheinland-Pfalz werden ließen?
Methodik und Aufbau
Methodisch nährt sich Christina Ullrich dieser Frage mit Hilfe der Biografieforschung an. Die Lebensläufe der 19 exemplarischen Täter der mittleren NS-Führungsebene werden qualitativ rekonstruiert. Die Auswahl orientiert sich an Merkmalgemeinsamkeiten wie der Beteiligung zum gemeinschaftlichen Massenmord in den Ostgebieten sowie dem beruflichen Wiedereinstieg nach dem Krieg. Die Arbeit gliedert sich in zwei Hauptteile. Der erste Teil hat die Täter im Blick. Im Fokus ist die postnazistische Zeit über die Entnazifizierung bis zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft.
Der zweite Teil beschäftigt sich mit der Verfolgung der NS-Straftaten. Hier liegt der Fokus auf der postnazistischen Gesellschaft und ihrer Haltung zu den Tätern in den 1950er- und 1960er-Jahren. Mit dem Aufkommen des Ulmer Einsatzgruppen- und des Auschwitz-Prozesses stellt sich die Frage, ob die prozessualen Strafverfolgungen zu einem biografischen Bruch geführt haben.
Inhalt
Bereits in der Übergangsphase von Kriegsende bis zur Entnazifizierung wird ein engmaschiges Netz, bestehend aus Tätern und der Gesellschaft sichtbar. Statt die Gräueltaten anzuprangern, wird die Tat gar nicht erst zur Kenntnis genommen oder die Täterschaft verharmlost und Zugehörigkeiten zu verbrecherischen Organisationen wie der Gestapo verwischt. Die Gesellschaft versucht sich von ihrer eigenen Schuld zu entlasten, in dem sie die Täter – und damit auch sich selbst – aus ihrer Verantwortung entlässt. Ein Konstrukt von Schuldigen wird geschaffen, der pathologische KZ-Täter. Die Einsatzgruppenmitglieder werden lediglich als verführte Gehilfen eines totalen Systems gesehen, die nur aufgrund des Befehlsnotstandes gehandelt haben. Persilscheine ehemaliger Kameraden und Fürsprecher aus der Gesellschaft formen ein idealisiertes Täterbild, das anknüpft an klassische bürgerliche Werte wie Anstand, Fleiß und Fürsorge für die Familie. Die Strafverteidiger benennen als Entlastung jüdische Kronzeugen. Und selbst im verbrecherischen Morden ist der Täter wieder Opfer, da die massakrierte Zivilbevölkerung schlichtweg zu Partisanen erklärt wird. Die für die Entnazifizierung zuständigen Spruchkammern übernehmen nicht nur dieses positive Täterkonstrukt, sondern sie verstärken es auch noch, in dem sie den Völkermord mit einem ganz „normalen“ Krieg gleichsetzen. Die beiden großen Kirchen leisten den Tätern ebenfalls Beistand und treten als ihre Fürsprecher auf. Die Verleugnung und Verdrängung der eigenen Schuld, einhergehend mit der Abwälzung auf Einzelne, führt dazu, dass sich die Täter und die Mehrheitsgesellschaft in solidarischer Einheit als Opfer der Siegerjustiz fühlen. Dieses zeigt sich in der erst in den 1960er-Jahren einsetzenden Verurteilungspraxis, die die Täter zu fast 90% als Gehilfen verurteilt sowie in der gesellschaftlichen Sicht, dass die Täter durch die Kriegsgefangenschaft und Internierungshaft genug Sühne gezeigt hätten. Die gesellschaftliche Maxime, die die Sühne für beendet erklärt hat, katapultiert die Täter gemeinsam mit der Politik wieder zurück in die Gesellschaft. Schwer Belastete werden ab 1949 durch die folgenden Amnestiegesetze zu freien geschätzten Bürgern. Salonfähige Bürger, die zurückkehren in ihre vor dem Krieg ausgeführten Berufe, vom Angestellten, über den selbstständigen Handwerker bis zum Beamten und hier insbesondere diejenigen bei der Kripo, die nun Karriere beim Bundesnachrichtendienst machen. Geschätzte Nachbarn, die sich überaus fürsorglich um die Jugend in den Vereinen kümmern.
Die Westintegration und der beginnende kalte Krieg entkoppeln die Entnazifizierung geradezu. Und mit dem Wirtschaftsaufschwung tritt an die Stelle einer Auseinandersetzung mit den NS-Tätern und ihrer Strafverfolgung eine Rückkehr in den normalen Alltag. Kennzeichnend hierfür ist auch der veränderte Sprachgebrauch hinsichtlich der Verbrecher, die nun nur noch Kriegsverurteilte heißen. Eine vermeintliche Zäsur findet in den 1960er-Jahren mit dem Ulmer Einsatzgruppenprozess und dem Auschwitz-Prozess statt. Im Fokus der Öffentlichkeit sind jetzt erstmalig die Gräueltaten des Völkermords. Gleichzeitig beginnt die Debatte um die Verjährungsfrage von NS-Verbrechen.
In ihrer Schlussbetrachtung stellt Christina Ullrich fest, dass es eine Zusammenballung von Faktoren ist, die die Reintegration der NS-Täter nicht nur erleichtert, sondern forciert. Da ist die Restauration der kleinbürgerlichen Werte wie Anstand und Moral zu nennen, die auf die Täter übertragen werden. Ferner eine mehrheitsgesellschaftliche und täterbezogene Opferhaltung, die die Schuld abwendet und verharmlost und die Kriegsfolgen gegeneinander aufrechnet. Die Verbrechenssuche, insbesondere der Spruchkammern, richtet sich auf ein NS-Täterprofil, das sich auf einzelne Abnorme konzentriert. Die Auffassung, dass die Kriminalpolizei im NS-Staat sich außerhalb der Politik gestellt hat, führt zur Entlastung des gesamten polizeilichen Täterkreises. Eine deutsche Justiz, die sich aus NS-Richtern zusammensetzt, akzeptiert die Handlungsziele des Sicherheitsdienstes in den Ostgebieten und sieht nichts Negatives in ihnen. Die politische Ausrichtung Richtung Westintegration und der Wirtschaftsaufschwung rufen zudem nach bürgerlicher Normalität.
Diskussion
„Durch die Denazifizierung ist viel Unglück und viel Unheil angerichtet worden. Die wirklich Schuldigen an den Verbrechen, die in der nationalsozialistischen Zeit und im Kriege begangen worden sind, sollen mit aller Strenge bestraft werden. Aber im übrigen dürften wir nicht mehr zwei Klassen von Menschen in Deutschland unterscheiden: die politisch Einwandfreien und die Nichteinwandfreien. Diese Unterscheidung muß baldigst verschwinden … Der Krieg und auch die Wirren der Nachkriegszeit haben eine so harte Prüfung für viele gebracht und solche Versuchungen, daß man für manche Verfehlungen und Vergehen Verständnis aufbringen muß.“ Dieser Auszug aus der Regierungserklärung des Bundeskanzlers Konrad Adenauer vom 20. September 1949 verdeutlicht nicht nur, dass eine Katharsis der postnationalsozialistischen Gesellschaft nicht stattgefunden hat, sondern dass sie überhaupt nicht angestrebt oder gewünscht war. Die Mehrheitsgesellschaft spricht von Krieg obwohl ein Krieg völkerrechtlich definiert eine „bewaffnete Auseinandersetzung von mindestens zwei Staaten“ ist. Bei den NS-Verbrechen handelt es sich aber um Völkermord und nicht um Krieg. Die Mehrheitsgesellschaft zeigt gar kein Interesse daran, sich mit dieser Schuld des Völkermordes auseinanderzusetzen. Die weit über 1 Million Toten in Auschwitz werden erst mit dem Auschwitz-Prozess 1963 bis 1965 wahrgenommen. Der viel gepriesene Paradigmenwechsel findet politisch und gesellschaftlich dennoch nicht statt. Deutlich wird diese Haltung auch in der Verjährungsdebatte vom 10. März 1965, in der sich Rainer Barzel (CDU), folgendermaßen äußert: „Hitler hat die vaterländische Gesinnung der Deutschen und ihren Idealismus missbraucht … Dieses deutsche Volk ist nicht kollektiv schuldig geworden … Wir haben immer säuberlich getrennt kriminelle Delikte von politischem Irrtum. Auch das werden wir weiter tun. Und nur wer Verbrechen begangen hat, gehört vor Gericht. Gehört vor Gericht, damit das Gericht endgültig und objektiv die Schuld feststelle und das Maß der Aussonderung aus der Gemeinschaft bestimme. Anders beim politischen Irrtum Es gibt keine Instanz, die Vorhandensein und Ausmaß von Schuld etwa beim politischen Irrtum feststellen könnte.“ Und wieder der verführte Idealist wie wir ihn schon in der unmittelbaren Nachkriegsära erlebten. Aufgeputscht mit kleinbürgerlichen Werten, die einen Humanismus implizieren, der nicht vorhanden ist. Die Abwälzung einer Kollektivschuld als identitätsstiftendes Mittel, das vielmehr zur Bildung einer kollektiven Opferidentität führt. Der Völkermord gleichgesetzt mit politischem Irrtum kann keinen Schuldigen produzieren. Die Selbstwahrnehmung der Täter, der Gesellschaft und der Politik heißt im Urteil „Unschuldig“. Schuldig ist lediglich der pathologische kriminelle NS-Täter, der sich letztlich auf Einzelne reduziert. Eine Sichtweise, die mit Kriegsende von den Spruchkammern reflexionslos übernommen wird und sich wie ein roter Faden durch den gesellschaftlichen Entwicklungsprozess der neu gegründeten Bundesrepublik Deutschland zieht. Selbst 1996 spricht der damalige Bundespräsident Roman Herzog in seiner Proklamation vom 3. Januar von Folter und Mord durch eine Tätergruppe, nämlich dem nationalsozialistischen Regime. Die Schuldbefreiung wird auch deutlich sichtbar in dem äußerst geringen Strafmaß beim Ulmer Einsatzgruppen- sowie Auschwitz-Prozess, der Täter für die Beihilfe zum tausendfachen Mord mit Strafen von 3 bis 4 Jahren davon kommen lässt. Eine Nachkriegsjustiz, die sich Dank der Amnestiegesetzgebung überwiegend aus NS-Richtern zusammensetzt, die Verbrechen des im Osten eingesetzten Sicherheitsdienstes rechtfertigt, hat wenig mit Rechtsstaatlichkeit zu tun. Denn der Sicherheitsdienst ist explizit für die östliche Vernichtungspolitik eingesetzt gewesen und hat zur Vertuschung und Vernichtung von Massenmord an Juden beigetragen. Die Verbrecher werden ferner von der Justiz und im Übergang von der Politik und im gesellschaftlichen Konsens verharmlost, in dem von Kriegsverurteilten statt von Verbrechern gesprochen wird.
Festzustellen bleibt: Diese postnationalsozialistische Gesellschaft ist nicht entnazifiziert in die Demokratie gegangen. Die Schuld ist weiterhin gut versteckt im Gepäck. Deutlich macht dieses besonders die Schlussstrichdebatte, die seit 1949 kontinuierlich Bestand hat. So titelt die FDP auf einem ihrer Wahlplakate 1949 „Schlussstrich drunter!…“ Der Schriftsteller Martin Walser relativiert sogar die Schuld, in dem er diese runter bricht auf eine Schande, die missbraucht wird. Schlussstrich bedeutet aber, ein Thema ist beendet. Wie kann ein Thema aber beendet sein, wenn die Verbrechen nicht gesühnt sind? Diese tiefen Schatten setzen sich fort in der vielfach unverhältnismäßigen Kritik an Israel im Umgang mit den Palästinensern und dem Vorwurf des permanenten Friedensblockierers sowie dem Beklatschen jüdischer Kronzeugen.
Wie Adolf Arndt von der SPD, der sich in der Parlamentsdebatte vom 10. März 1965 eindeutig zur Schuld bekannte, indem er sagte: „Ich weiß mich mit in der Schuld. Denn sehen Sie, ich bin nicht auf die Straße gegangen und habe geschrien, als ich sah, daß die Juden aus unserer Mitte lastkraftwagenweise abtransportiert wurden. Ich habe mir nicht den gelben Stern umgemacht und gesagt: Ich auch!“ Sollten wir vor dem Hintergrund dieser erschreckend belasteten Hypothek sagen, wir auch und uns dem Thema der Strafverfolgung von NS-Verbrechen und ihrer gesellschaftlichen Nachhaltigkeit ohne Wenn und Aber stellen.
Autorin: Soraya Levin
Erstveröffentlichung auf der Website LIPOLA
Christina Ullrich: „Ich fühl’ mich nicht als Mörder“. Die Integration von NS-Tätern in die Nachkriegsgesellschaft (= Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart, Bd. 18). WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt 2011, 355 Seiten, ISBN 978-3-534-23802-6, EUR 49,90.