Daniel Siemens: Horst Wessel. Tod und Verklärung eines Nationalsozialisten, München 2009.
Wer war Horst Wessel? Welche Person verbarg sich hinter der ins Riesenhafte aufgeblasenen Propagandagestalt des „Dritten Reiches“? Wie kam er zu Tode und wie wurde sein Tod politisch funktionalisiert? Diesen Fragen widmet sich der Bielefelder Historiker Daniel Siemens in einer materialreichen Studie, für die er bislang unberücksichtigte Quellen herangezogen hat. Der SA-Mann Horst Wessel, der in den 1920er Jahren in Berlin aktiv war, ist heute zu Recht weitgehend vergessen, die Zeit ist über diese propagandistische Kunstfigur hinweggegangen, und die Geschichtsschreibung hat sie auf normalmenschliches Maß eingedampft. Insofern ist es nicht mehr nötig, mit antifaschistischem Furor gegen den NS-Mythos Horst Wessel anzurennen, andererseits fragt man sich, ob mit einer Publikation zum 80. Todestag nicht schlafende Hunde geweckt werden oder eine rechtsextreme Klientel bedient würde, denn allein bei Neonazis gilt Wessel heute noch als denkwürdige Gestalt. Der Autor selbst ist sich dieser Gefahr durchaus bewußt, so sagt er in Interviews, der Kult um Wessel sei durchaus „reaktivierbar“. Allerdings würde Wessel-Verehrern die Lektüre von Siemens‘ Buch nicht schmecken, denn sie bringt wenig Heldenhaftes über ihn und viel Demaskierendes über den Totenkult der Nationalsozialisten zum Vorschein. Wofür steht die historische Figur Horst Wessel? Sein politisches Leben und Sterben steht für den Angriff der Nationalsozialisten auf die großstädtische Arbeiterbewegung, auf das proletarische Milieu der deutschen Hauptstadt. Er ist eine Symbolfigur des Bürgerkriegs, des Terrors der Provinz gegen das „Rote Berlin“.
Das „Rote Berlin“ war den Rechtsextremisten als „Brutstätte“ von Kommunismus, Sittenverfall und Verbrechen verhasst. Es wurde wie ein feindliches Territorium betrachtet, das erobert werden musste. Siemens zeigt, wie die SA beim Straßenkampf in den Arbeitervierteln vorging. Die permanenten Provokationen in Uniform und in Zivil, der stetige Ausbau eines Stützpunktnetzes mit Hilfe korrupter Kneipenwirte, die irritierende Übernahme „linker“ Parolen und Agitationsformen, die brutalen und systematischen Überfälle in Überzahl, das Vorgehen in Schützenlinien, Sturmtruppformationen und Marschsäulen, der Einsatz scharfer Waffen. Und schließlich ein entscheidender Vorteil im Straßenkampf: Die wohlgesonnenen strategischen Bündnispartner in Polizei und Justiz, auf deren Nachsicht man im Falle der Verhaftung stets rechnen konnte.
Der deutschnational und christlich imprägnierte Pfarrerssohn Horst Wessel, der Angehörige der Bismarckjugend und bürgerliche Corpsstudent begab sich in Gesellschaft depravierter SA-Straßenschläger ins verrufene „Verbrecherviertel“ am Alexanderplatz, um dort zu missionieren. Übersteigerter Nationalismus, christliches Sendungsbewußtsein und bürgerliches Überlegenheitsgefühl waren die ausschlaggebenden Motive. Seine SA-Kameraden waren ihm anfangs so fremd wie seine Gegner vom Rotfrontkämpferbund, doch der schmächtige Jüngling passte sich an, vernachlässigte das Jurastudium an der Friedrich-Wilhelm-Universität und gehörte bald zu den „Kerlchen mit blassen und frühharten Gesichtszügen, aber leuchtenden Augen“, wie es ein SA-Führer damals ausdrückte. Wessel befand sich in der Schnittmenge von rechtsextremen Akademikern, die später als Richter, Staatsanwälte und Verwaltungsbeamte ihre Weltanschauung „staatstragend“ manifestieren konnten, und dem heterogen Milieu der Berliner SA, wo sich in den 1920er Jahren lumpenproletarische Elemente, entwurzelte Soldaten, Pädophile und notorische Gewalttäter sammelten. Siemens‘ Quellen legen nahe, daß Wessel eher als innovativer Hetzer und Organisator statt als rabiater Faustkämpfer der ersten Reihe auftrat, darin seinem Mentor Joseph Goebbels durchaus verwandt. Seine größte propagandistische Innovation war der Aufbau einer Schalmeienkapelle, deren Klänge bislang ein Erkennungszeichen kommunistischer Demonstrationen gewesen waren. Seine körperlichen Kräfte waren hingegen begrenzt, Mensur-Kommilitonen beschreiben ihn als ungeschickten Fechter. Gute Dienste leistete er offenbar als Provokateur, der in SA-Uniform durch die Straßen radelte, unauffällig begleitet von Kameraden in Zivil. Sobald nun ein Linker Wessel beschimpfte oder angriff, wurde er von dem plötzlich auftauchenden Mob überrollt. Früh zeigt sich ein auffälliges Sendungsbewußtsein. So verfasste Wessel als 21-Jähriger eine (ungedruckte) reich bebilderte Autobiografie, die heute in der Berlinka-Sammlung der Jagiellonenbibliothek in Krakau lagert und Siemens zahlreiche neue Einblicke in die Geisteswelt ihres Autors ermöglichte.
Wessels Kampfplatz waren die Wohngebiete der nördlichen und östlichen Innenstadt, eine Domäne der KPD, bevölkert von Menschen, denen Döblin in seinem Roman Berlin-Alexanderplatz ein literarisches Denkmal gesetzt hat. Nirgendwo zeigte sich deutlicher, daß die KPD eine Milieupartei war. Halbwelt und „klassenbewußte“ Kommunisten waren hier eine Symbiose eingegangen. Die Partei deckte kriminelle Machenschaften, half mit Rechtsanwälten aus, Zuhälter und Hehler forderten ihre Ringvereine, Mitstreiter und Nachbarn zur Wahl der KPD auf und boten handfeste Unterstützung. Sie stellten die Männer „für’s Grobe.“
Der Überfall auf Wessels Wohnung durch Angehörige des „Kulturvereins Centrum“, einer Einheit des illegalen Rotfrontkämpferbundes, am 14. Januar 1930 und sein Tod in Folge einer Schußverletzung, die ihm der Zuhälter Albrecht Höhler bei dieser Rangelei beigebracht hatte, warfen ein grelles Licht auf die Vermischung von Politik und Unterwelt. Die Quellenlage spricht für eine spontane Tat, bei der sowohl politische als auch private und finanzielle Motive eine Rolle gespielt haben. Für einen geplanten politischen Mord, so wie es die NSDAP darstellte, war die Vorgehensweise der Rotfrontkämpfer zu dilettantisch gewesen. Für einen Streit unter Zuhältern, so die Version der KPD, war zuviel Politik im Spiel. Sowohl Kommunisten als Nationalsozialisten versuchten jetzt den Eindruck zu vermeiden, sie hätten Verbindungen ins Milieu. Die KPD versuchte ihren Gefolgsmann Höhler zunächst unauffällig im Ausland zu verstecken, und ließ ihn fallen, eventuell sogar bewußt auffliegen, nachdem er eigenmächtig nach Berlin zurückgekehrt war. Der politische Extremismus, der Gewalt und Revolution predigte, legte größten Wert darauf, in diesem Punkt als „anständig“ zu erscheinen: Links und Rechts predigten Familie, „gesunde“ Heterosexualität und „ehrliche“ Arbeit. Noch viel später, in der DDR, distanzierten sich SED-Funktionäre von ihren „asozialen“ politischen Freunden aus dem Scheunenviertel. Umsichtig diskutiert Siemens die Legenden und Hinweise, nach denen Wessel selbst als Zuhälter tätig war, denn ähnliche Fälle waren durchaus verbreitet, so war der Neuköllner SA-Sturm 25 als „Ludensturm“ bekannt. Unzweifelhaft hatte sich Wessel im Stricher- und Prostituiertenmilieu der Münzstraße bewegt.
Die Beteiligten am Überfall auf Wessel wurden rasch ermittelt und der Prozess fand großes Interesse der Öffentlichkeit. Ein Beobachter erinnerte sich, das Publikum habe zur Hälfte aus Mitgliedern der Ringvereine und ihren „Miezen“, zu anderen aus sensationslüsternen Bürgern aus dem feinen „Berlin-W“ bestanden. Zwei Welten trafen dort aufeinander. Die drei Kommunisten Höhler, Erwin Rückert und Josef Kandulski wurden im September 1930 wegen gemeinschaftlich begangenen Totschlags als Haupttäter zu sechs bzw. fünf Jahren Haft verurteilt – ein vergleichsweise hartes Urteil, besonders im Blick auf SA-Angehörige, die für ähnliche Delikte geringfügige Haftstrafen oder gar Freisprüche erhielten. Siemens kann hier auf die Jahrzehntelang vermissten Ermittlungsakten aus dem Jahr 1930 zurückgreifen, die sich im Sonderspeicher HA IX/11 des MfS befanden und wegen einer falschen Registraturnummer bislang unauffindbar waren.
Die Nationalsozialisten inszenierten 1934 einen zweiten Prozess gegen die bereits Verurteilten, in dessen Folge Haftstrafen verlängert und zwei Todesurteile verhängt und vollstreckt wurden. Zudem fielen Höhler und eine weitere Beteiligte Rachemorden von SA-Mitgliedern zum Opfer. Höhler wurde quasi aus Justizgewahrsam entführt und am 20. September 1933 in einem Waldstück bei Frankfurt an der Oder ermordet. Von den 16 Personen, die 1930 in der causa Wessel verurteilt worden waren, kamen acht Personen im „Dritten Reich“ ums Leben. Siemens weist nach, daß die verantwortlichen Täter in der Bundesrepublik nie belangt wurden und dort passable Karrieren machen konnten. So stellt Siemens im Fall des SA-Folterknechts Walter Pohlenz, der an der Ermordung Höhlers beteiligt war, fest: „So zynisch es klingt: Eine juristisch mögliche Verurteilung von Pohlenz wurde von den Verantwortlichen in beiden deutschen Staaten verhindert, um ein moralisches Faustpfand im Kalten Krieg zu gewinnen und der jeweils anderen Seite den Ermittlungserfolg zu versagen“. (S. 259).
Die Studie von Siemens birgt zwar keine wesentlichen Neuigkeiten, zeigt aber mithilfe einer dichteren Quellenbasis, wie sich in der causa Wessel Politik und Milieu, ideologischer Anspruch und soziale Realität, letztlich auch Privates und Zufälliges vermischten. Musterhaft wird hier die politische Radikalisierung einer jungen Generation in der Weimarer Republik deutlich, die Durchdringung von hehren politischen Programmen und banaler Alltagskriminalität, die gewaltförmige Prägung der Politik und die parallele Politisierung von Gewalttätern. Darüber hinaus leistet die Arbeit einen Beitrag zur Selbstreflexion der deutschen Justiz: Siemens hatte den Antrag gestellt, dass das nationalsozialistische Racheurteil gegen Sally Epstein, Hans Ziegler (beide Todesstrafe) und Peter Stoll (sieben Jahre Haft) kassiert werden solle. Kurz vor Drucklegung des Buches entschied die Berliner Staatsanwaltschaft, dass die Verurteilung von Epstein, Ziegler und Stoll wegen Mordes an Horst Wessel aufgehoben ist. Die Staatsanwaltschaft erkannte in dem Urteil ein politisches Exempel, das der Durchsetzung nationalsozialistischen Unrechts gedient habe. Für die Opfer dieses Justizmordes kommt diese Nachricht zu spät, dennoch zeigt sich hier wenigstens, so resümiert Siemens, „dass die deutsche Justiz inzwischen nicht nur zu einer kritischeren Sicht auf die eigene Geschichte bereit, sondern auch zu einer faktischen Korrektur früherer Fehlurteile in der Lage ist.“ (S. 277)
Autor: Christian Saehrendt
Daniel Siemens: Horst Wessel: Tod und Verklärung eines Nationalsozialisten, Siedler Verlag, München 2009, 352 S. ISBN 978-3-88680-926-4, 19,95 €