Begegnungen mit Hilde Domin, geb. Hilde Palm Löwenstein.
Zum Zweck zweckfreier Lyrik – Die „Sprachhandwerkerin“
Sie nannte sich „mit dem Namen einer Insel“ [1] – nach Santo Domingo in der Dominikanischen Republik, die sich heute in die Dominikanische Republik und Haiti teilt. Der damalige Staat mit der gleichnamigen Hauptstadt hatte ihr das Überleben ermöglicht, und dort hatte sie zu schreiben begonnen. Hilde Domin, geborene Löwenstein, verheiratete Palm, begann nach dem Tod ihrer Mutter im Jahr 1951 zu schreiben. Da war sie 42 Jahre alt. In ihrem Gedicht „Landen dürfen“ findet sich der Verweis auf die Insel Santo Domingo, der eine Erklärung für den 1954 von ihr gewählten Künstlernamen liefert:
Landen dürfen
Ich nannte mich
ich selber rief mich
mit dem Namen einer Insel.
es ist der Name eines Sonntags
einer geträumten Insel.
Kolumbus erfand die Insel
an einem Weihnachtssonntag.
Sie war eine Küste
etwas zum Landen
man kann sie betreten
die Nachtigallen singen an Weihnachten dort.
Nennen Sie sich, sagte einer
als ich in Europa an Land ging,
mit dem Namen Ihrer Insel.
Der neue Name Hilde Domin bezeichnete ihre „zweite Geburt“ als Dichterin und diente auch dazu, ihr Werk nicht in Konkurrenz zu dem ihres Mannes, des Archäologen und späteren Hispanisten Erwin Walter Palm, treten zu lassen.
Biographischer Hintergrund von Hilde Domin
Hilde Domin, geboren am 27. Juli 1909 in Köln, stammt aus einer bürgerlichen, assimilierten jüdischen Familie und studierte Jura, Nationalökonomie, Soziologie und Philosophie in Köln, Bonn und Heidelberg. Sie promovierte 1935 in Florenz, nachdem sie das zunehmend vom Nationalsozialismus geprägte Deutschland 1932 mit ihrem Lebensgefährten Erwin Walter Palm auf der Flucht vor Hitler verlassen hatte. 1936 heirateten sie in Rom. Doch auch das faschistische Italien war bald kein sicherer Ort mehr für jüdische Emigranten. Nach London, wohin die beiden 1939 geflüchtet waren, wurde 1940 die Dominikanische Republik zur letzten Station ihres Exils.
Sämtliche Gedichte
Domin macht es offensichtlich Freude, ihre Leserinnen und Leser zu treffen. In einem Gespräch erzählte sie, wie sie und ihr Mann sich mit Lyrik Einblicke in die Kultur der Gastländer verschafften: „Wir haben uns jeweils eingelebt in dem neuen Land mit Gedichten. Erst italienische Gedichte. Als wir dann nach England gingen, schickten meine Eltern uns nach Italien englische Gedichte, und hinterher spanische Gedichte bei der Abreise nach Santo Domingo. Wir haben immer mit Gedichten die Sprachen gelernt.“
Dort angekommen arbeitete Hilde Palm zunächst als Übersetzerin, ab 1948 hatte sie eine Dozentur für deutsche Sprache an der Universität inne. 1961 kehrte sie nach Heidelberg zurück. Dort, in der Nähe des Schlosses, lebt sie noch heute und genießt den Blick aus ihrer Wohnung über die Stadt und den Neckar. In Domins 1968 erschienenen Roman „Das zweite Paradies“ [2] haben sich viele ihrer Erfahrungen der Rückkehr niedergeschlagen. Neben diesem und den Gedichten umfasst ihr Werk auch autobiographische, essayistische und lyriktheoretische Schriften. Ihre Reflexionen über das Schreiben und die Sprache, teils lyrisch, teils didaktisch-aufklärerisch, durchziehen auch viele ihrer poetischen Texte.
Domin betonte bei einem Gespräch, dass sie bis zum Tod ihrer Mutter nie ans Schreiben gedacht hatte: „Ich habe keine Zeit gehabt, denn ich habe einerseits Geld verdient durch Unterricht, und andererseits habe ich Erwins Sachen bearbeitet. Das habe ich gerne getan! Ich habe zu seinen Büchern die Fotos gemacht, von den Baudenkmälern, den Monumenten in Santo Domingo, entwickelt, vergrößert, alles, ich war komplett ausgelastet. Er musste veröffentlichen. Er hat Italienisch, Englisch, Französisch, Spanisch geschrieben, alle seine Arbeiten habe ich druckfertig gemacht. Und dadurch bin ich Sprachhandwerkerin geworden. Aber ich selber hatte da keinerlei Wünsche. Das ist einfach über mich gekommen. Ich bin auch weiter Erwins Assistentin geblieben, aber plötzlich habe ich nach Mutters Tod eben angefangen zu schreiben. Und ich hatte auch gar nicht die Absicht zu veröffentlichen. Ich hatte überhaupt keine Absicht dabei, sondern es erleichterte mir das Überleben. Gedichte erleichtern das Überleben.“
Domin spricht damit Lyrik eine praktische Funktion zu, die jedoch nicht festgelegt sei durch bestimmte Absichten des Autors, sondern sich individuell und bei jedem Lesen neu ergebe. Sie unterstrich diese Position lebhaft: „Gedichte sind nicht auf andere gemünzt, sondern man schreibt für sich selber. Etwas ausdrücken, was einen belastet oder freut. Sie sind zweckfrei. Wie Liebe zweckfrei ist. Ich finde es sehr wichtig, dass etwas zweckfrei sein kann. Gedichte sind zweckfrei, aber hinterher wächst ihnen ein Zweck zu. Das kann sein.“ So bleibt auch in dem Gedicht „Wer es könnte“ [3] der Zweck des Wunsches offen:
Wer es könnte
Wer es könnte
die Welt
hochwerfen
daß der Wind
hinduchfährt.
Reflexion über Sprache im Gedicht
Domins Reflexionen über Sprache sind eng verknüpft mit den Erfahrungen der Leserinnen und Leser sowie der Autorinnen und Autoren: „Weil die Worte alle mehrdeutig sind, kann jeder Leser das Gedicht für sich aktualisieren. Sie machen fremde Gedichte zu ihren, sonst ist es ja uninteressant, dann sind es ja nur Objekte.“ Nach Domins Auffassung, die sie beispielsweise in dem Gedicht „Geburtstage“ formuliert, sind Worte dagegen selbstständig: „sie stehen auf/sofort/und gehn“ [4] .
Für Domin leitet sich ihre Literatur aus dem Lebenslauf ab. „Das kann gar nicht anders sein“, sagte sie. Die Heimat, ihr Verlust und die Frage nach ihrem Wiedererlangen, sowie das Exil, bilden zentrale Themen ihrer literarischen Texte. Zugleich wies Domin eine rein biografische Lesart zurück: „Mein Werk soll nicht auf das Biografische reduziert werden, es soll auf seine Wahrhaftigkeit hin und seine Lebenswürdigkeit hin, auf unser aller Lebenswürdigkeit hin angesehen werden.“ In diesem Anspruch lässt sich die Forderung nach gelebter Humanität sowie die aktive Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte erkennen, die Domin auch mit 95 Jahren noch aufmerksam betreibt: „Ich möchte wissen, was gespielt wird. Ich bin ein neugieriger Mensch.“
Domin tritt sowohl in ihrem theoretischen als auch in ihrem poetischen Werk für Humanität ein, ohne dass sich daraus eine Anweisung zur Interpretation ableitet. Bereits 1966 hatte Domin den Band „Doppelinterpretationen“ [5] herausgegeben. In dieser Anthologie zeitgenössischer Lyrik stehen neben jedem Gedicht jeweils eine Interpretation des Autors und die eines Kritikers. Das bildet Domins Auffassung ab, dass das Gedicht „zwischen Autor und Leser“ steht (wie es auch im Untertitel der Anthologie steht). Das Gedicht entspricht einem autonomen Wesen und gleichzeitig einer Folie für verschiedene Interpretationen innerhalb eines gewissen Rahmens. In der Einleitung der „Doppelinterpretationen“ schreibt Domin: „Befreit vom ‚Zufall der Entstehung‘ im Augenblick seiner Veröffentlichung, macht sich das Gedicht auf zu den ‚Zufällen seiner Aneignung‘: historisch-sozial-persönlich bedingten, in unabsehbarer Folge wechselnd, die sich ihm vorübergehend einverleiben, in jedem Augenblick so relativ wie im ersten. Nur anders. Der Sinn wandert mit, sich dauernd wandelnd.“ [6]
Die Entstehung der „Doppelinterpretationen“ gestaltete sich nach Domin schwierig: „Der Fischer-Verlag hat das damals abgelehnt, denn es war noch nie eine Doppelinterpretation da gewesen. Meine Idee war, weltweit, glaube ich, eine Novität. Eine Böse-Buben-Idee, wenn Sie so wollen. Was ist besser, die Selbst-, oder die Fremdinterpretation? Immer denkt man, der Autor müsse mehr von seinem Gedicht wissen, aber im Gegenteil, der Autor nimmt nicht genug Abstand, und infolgedessen sind die Fremdinterpretationen mit ganz, ganz wenigen Ausnahmen – zum Beispiel Enzensberger oder Franz Mohn – besser. Der Autor kriegt das Gedicht nicht richtig zu Gesicht, der ist zu sehr drin. Es ist die Frage, wie sehr man von sich selber, vom Ich Abstand nehmen kann.“ Verschiedene Interpretationen können also nebeneinander stehen, jede von ihnen bedeutet eine Annäherung an das Gedicht. Die Autorinnen bzw. Autoren verfügen darüber nicht, mögen sie auch eine bestimmte Vorstellung besitzen.
In den letzten beiden Strophen ihres Gedichts „Wie wenig nütze ich bin“ [7] hat Hilde Domin ein vorsichtiges Ideal formuliert:
Ich gehe vorüber –
aber ich lasse vielleicht
den kleinen Ton meiner Stimme,
mein Lachen und meine Tränen
und auch den Gruß der Bäume im Abend
auf einem Stückchen Papier.
Und im Vorbeigehn,
ganz absichtslos,
zünde ich die ein oder andere
Laterne an
in den Herzen am Wegrand.
Über die Wirkung der Verse entscheidet die Leserin bzw. der Leser. Der Zweck zweckfreier Lyrik – er entsteht bei jedem Lesen neu. Das ist Hilde Domins Vermächtnis.
Hilde Domin starb am 22. Februar 2006 in Heidelberg
Autorin: Dr. Margret Karsch
Literatur
Domin, Hilde: Gesammelte Gedichte. 7. Aufl., Frankfurt a.M. 1999
Domin, Hilde: Das zweite Paradies. Roman in Segmenten. München 1968.
Domin Hilde (Hrsg.): Doppelinterpretationen. Das zeitgenössische deutsche Gedicht zwischen Autor und Leser. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 1997 (1966).
Anmerkungen
[1] Hilde Domin: Landen dürfen. In: Gesammelte Gedichte. 7. Aufl., Frankfurt a.M. 1999 (1987). S. 229.
[2] Hilde Domin: Das zweite Paradies. Roman in Segmenten. München 1968.
[3] Hilde Domin: Wer es könnte. In: Gesammelte Gedichte. A.a.O., S. 264.
[4] Hilde Domin: Geburtstage. In: Gesammelte Gedichte. A.a.O., S. 312.
[5] Doppelinterpretationen. Das zeitgenössische deutsche Gedicht zwischen Autor und Leser. Hrsg. u. eingeleitet v. Hilde Domin. Frankfurt a.M. 1997 (1966).
[6] Ebd., S. 18.
[7] Hilde Domin: Wie wenig nütze ich bin. In: Gesammelte Gedichte. A.a.O., S. 30f.
Dazu auch. Artikel „zwei Türen“ auf faz.net – u.a. zu Rückkehr nach Deutschland, Anna Ditges, Lesung, Wozu Lyrik, Hilde Löwenstein und 1931.