Wie zuvor die Judenemanzipation[1], so hat Ulrich Wyrwa nun die Entstehung des modernen Antisemitismus im deutsch-italienischen Vergleich untersucht. Als „verspätete Nationen“ entwickelten sie einen besonders radikalen Nationalismus und brachten das Gleichgewicht der europäischen Mächte durcheinander. In beiden Ländern folgten auf die Nationalstaatsgründung eine radikale Neuordnung des Verhältnisses von Staat und Kirche sowie eine rasante, aber regional extrem ungleiche, industrielle Entwicklung. Nach dem Ersten Weltkrieg scheiterte in beiden Ländern die demokratische Ordnung an der Herausforderung des Faschismus. Diese Parallelen spiegeln sich jedoch nicht in der Entstehungsgeschichte des modernen Antisemitismus, der im späten 19. Jahrhundert in Deutschland ungleich erfolgreicher war als in Italien.
Im Vordergrund von Wyrwas Studie steht die Frage, wie sich der moderne Antisemitismus in beiden Ländern als politische und soziale Bewegung in der Zeit zwischen Nationalstaatsgründung und Erstem Weltkrieg etablieren konnte bzw. unter welchen Umständen er scheiterte. Die bisherigen Interpretationsangebote der Geschichtswissenschaft spiegeln die tiefen Gräben in dieser Disziplin zwischen Sozial- und Kulturgeschichte. Als sozialgeschichtlicher „Klassiker“ ist seit den 1960er Jahren die Krisentheorie im Gebrauch. Statusunsicherheit in Zeiten sozioökonomischer Krisen der modernen Industriegesellschaft steigere die Akzeptanz von Vorurteilen und lasse die Toleranz gegenüber Minderheiten schwinden. Dieses von Hans Rosenberg entwickelte Modell bezog sich zunächst auf die „Große Depression“ von 1873, wird mittlerweile aber auf eine Fülle verschiedenster wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Krisenszenarien angewandt. Die in die „neue Kulturgeschichte“ hineinsozialisierte jüngere Historikergeneration bestreitet, dass wirtschaftliche und soziale Konflikte bei der Herausbildung des modernen Antisemitismus eine Rolle gespielt hätten. Vielmehr handle es sich beim Antisemitismus um einen sich selbst befeuernden Diskurs, der keiner äußeren Anläse bedurft hätte.
Wyrwa hält beide Ansätze für defizitär. Die Sozialgeschichte fokussiert sich auf Rahmenbedingungen und Trägerschichten, kann aber nicht erklären, warum bestimmte gesellschaftliche Konflikte, in denen die Juden gar keine Konfliktpartei waren, zu Antisemitismus führten. Auf der anderen Seite kann die Kulturgeschichte mit ihrem Faible für Mentalitäten, Diskurse und soziale Praktiken zwar präzise beschreiben, wie sich antisemitische Semantiken und Symboliken herausbildeten, nicht aber warum sie es taten. Das Ausweichen der Forschung auf den Zusammenhang zwischen Antisemitismus, Nationalismus und Religion bietet keine Alternative. Auch diese Faktoren können nicht erklären, warum sich der Antisemitismus in ein und derselben gesellschaftlichen Gruppe nicht universell, sondern nur in starker Abhängigkeit von Ort und Zeit durchsetzen konnte. Genau diese Orts- und Zeitgebundenheit bringt Wyrwa durch den Rückgriff auf Pierre Bourdieus Theorie der sozialen Konfliktfelder ins Spiel. In- und Exklusionsmechanismen von gesellschaftlichen Gruppen sind nicht stabile anthropologische Konstanten, sondern werden von den Akteuren stets aufs Neue ausgehandelt. Dies untersucht Wyrwa jeweils für Deutschland und Italien in den vier Feldern Nationalismus, Kleinhandel, Universitäten und Kirche. Regionale Bezugspunkte sind dabei Mailand, Venedig, Bologna, Florenz, Berlin, Heidelberg und Breslau.
In Deutschland war die Fusion von Nationalismus und Antisemitismus nicht von vornherein gegeben. Vielmehr setzte sie sich erst mit einem Generationswechsel im Alldeutschen Verband allmählich durch. Mit Ausnahme des Coppola-Streits 1911-12 gab es im italienischen Radikalnationalismus keine Bemühungen, die Juden als Nationsfeinde zu brandmarken. Hier waren auch Juden in entsprechenden Zeitschriften und Organisationen aktiv. Die Kleinhändler, die immer wieder zu den Trägerschichten des modernen Antisemitismus gezählt werden, offenbarten – was ihre Presse und Vereine anbelangt – in Mailand keine und in Berlin kaum antisemitische Tendenzen. Trotz ihres liberalen Rufs und eines relativ hohen Anteils jüdischer Dozenten und Studenten fasste der Antisemitismus an der Universität Heidelberg Fuß. Als Hauptverantwortlicher ist das studentische Verbindungswesen zu nennen. Obwohl Burschenschaften und Korps nur eine Minderheit aller Studenten repräsentierten, gelang es ihnen, eine antisemitische Gesellschaftsstimmung im akademischen Feld zu erzeugen. Unter den Dozenten und Studenten der Universität Bologna wurde die „Judenfrage“ dagegen nicht einmal diskutiert. Die politischen Werthaltungen orientierten sich hier an Demokratie, Antiklerikalismus und Risorgimento. Somit blieb als einziger Träger des modernen Antisemitismus in Italien die katholische Kirche. Am Beispiel der katholischen Presse Venedigs zeigt Wyrwa, dass der intransigente Klerus seinen Macht- und Prestigeverlust im italienischen Nationalstaat mit wüsten Attacken auf die Juden kompensierte. Die Opposition von Klerikalismus und Antiklerikalismus gab es im religiösen Feld Deutschlands nicht. Hier markierte die Konfessionsspaltung die Lager in der „Judenfrage“, was Wyrwa am Beispiel Breslaus demonstriert, dessen konfessionelle Zusammensetzung in etwa dem Reichsdurchschnitt entsprach. Der liberale Protestantismus war nicht frei von judenfeindlichen Vorurteilen, bekämpfte aber den Antisemitismus. Währenddessen nahmen Katholiken und konservative Protestanten die Juden als Repräsentanten von Liberalismus und Kapitalismus ins Visier. Die antisemitischen Kampagnen der katholischen Presse flauten in Breslau in den 1880er Jahren und in Venedig in den 1890er Jahren parallel zur zunehmenden Integration des katholischen Milieus in den Nationalstaat ab.
Wyrwas deutsch-italienischer Vergleich bietet kein fundamental neues aber ein differenzierteres Bild von Entstehung und Verbreitung des modernen Antisemitismus in beiden Ländern. Der Antisemitismus setzte sich nicht im Konsens, sondern im gesellschaftlichen Konflikt durch. Er wurde in bestimmten Konstellationen von konkreten Akteuren lanciert, um gegen – aus ihrer Sicht – verwerfliche Modernisierungsprozesse aufzubegehren. Die von Wyrwa genutzte Bourdieusche Feldtheorie ist eine sinnvolle Alternative zur Mentalitätsgeschichte und Diskursanalyse, die antisemitische Sprache als selbstreferentiellen Diskurs auffassen und isoliert von Ereignissen und Strukturen betrachten wollen. Wyrwas vergleichende Regionalgeschichte stößt allerdings an Grenzen, wenn es um die Übertragung der Ergebnisse auf die nationale Ebene geht. Die Fallstudien konzentrieren sich auf städtische Zentren, während ländliche Regionen unberücksichtigt bleiben. Den Agrarantisemitismus mag es in Italien zwar nicht gegeben haben, doch wäre für den ländlichen Raum eine größere Bindungskraft der katholischen Kirche zu erwarten.
Autor: Thomas Gräfe
Ulrich Wyrwa, Gesellschaftliche Konfliktfelder und die Entstehung des Antisemitismus. Das deutsche Kaiserreich und das liberale Italien im Vergleich, Berlin 2015.
Anmerkungen
[1] Vgl. Ulrich Wyrwa, Juden in der Toskana und in Preußen im Vergleich. Aufklärung und Emanzipation in Florenz, Livorno, Berlin und Königsberg, Tübingen 2003.