In seinem „Roman eines Schicksallosen“ erzählt Imre Kertész die Geschichte des Jungen György Köves, der als Jugendlicher von der Straße weg zunächst in das Konzentrationslager Auschwitz und später nach Buchenwald verschleppt wurde. Kertész selbst wurde 1944 mit 15 Jahren aufgrund seiner jüdischen Abstammung in diese Konzentrationslager deportiert und im April 1945 befreit. 13 Jahre lang, zwischen 1960 und 1973, hat er an diesem autobiographischen Roman gearbeitet, 1996 ist er in deutscher Übersetzung erschienen und mit seinen weiteren Romanen „Kaddisch für ein nichtgeborenes Kind“ und „Fiasko“ bildet er eine „Trilogie der Schicksallosigkeit“. 2002 wurde Kertész für diesen Roman mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Die schwedische Akademie würdigte damit nicht nur erstmalig ein literarisches Werk, das den Holocaust zum Thema hat, sondern das vor allem „die zerbrechliche Erfahrung des Einzelnen gegenüber der barbarischen Willkür der Geschichte behauptet“.
Nun hat Lajos Koltai, zweimal als Kameramann für den Oscar nominiert, in seinem Regiedebüt „Fateless“ diese Geschichte verfilmt. Und auch in filmischer Fassung vermag sie den Zuschauer wirklich zu ergreifen, auch wenn sie – wie die meisten Literaturverfilmungen – für den Roman Wesentliches entzieht, entziehen muss. Denn die reine, unverfälschte Ich-Perspektive Györgys, in die Kertész in seinem Roman keinen einzigen externen Blick oder Kommentar Einzug halten lässt, ist filmisch nicht zu realisieren.
Dafür sagt der Film anderes. In der Abwendung von tradierten Perspektiven (z.B. der häufig bemühten Täterperspektive von Nazi-Größen oder –Gesellschaften) oder der Darstellung eines entpersonifizierten Schicksals zahlloser Opfer, gelingt es Koltai und Kertész, der selbst seinen Roman zum Drehbuch umschrieb, durch die chronologisch erzählten Erlebnisse eines heranwachsenden Jungen im Konzentrationslager den Zuschauer zu bannen und am exemplarischen Schicksal des Einzelnen zu emotionalisieren. Damit machen sie den Zuschauer empathisch und Geschichte erfahrbar.
Und das ist die große Leistung des Films und dabei mag man gar nicht darüber hinwegsehen, dass manchem Kritiker von den 24 Bildern pro Sekunde so einige bildästhetisch auf dem heiklen Grat zum Kitsch zu balancieren scheinen oder die Musik von Ennio Morricone stellenweise unpassend oder zu schwülstig. Das zeigt nur einmal mehr, dass Literaturkritiker nicht über Filme schreiben sollten und schon gar nicht über verfilmte Literatur, denn Ihnen fehlt offenbar der Zugang zu den Möglichkeiten und den Unmöglichkeiten dieses Mediums.
Mit seiner Musik wagt auch Morricone Emotion und setzt einen Kontrapunkt zur Unfassbarkeit und Undarstellbarkeit des Grauens. Wiederkehrende Motive wie der chorale Todesgesang brechen in ihrer Schönheit die Grausamkeit der Bilder. Sie rütteln den Zuschauer auf und transportieren erst den Wahnsinn, den die einen organisieren und die anderen erleiden müssen.
Gyula Pados erzielt mit seiner Kamera eine enorme, teils lyrische Bildkraft, die Koltai noch verstärkt, indem er für die Lagerszenen die Farben verblassen lässt. Um die Tragweite des Holocaust auch stilistisch zu vermitteln, reduziert er sie auf die endlosen Möglichkeiten zwischen Sepia und Grau und lässt andere Farben nur in den kurzen Glücksmomenten aufflackern, die sich für György vor allem während der abendlichen freien Stunden im Lager einstellen. Und so macht Koltai die von Kertész formulierte Botschaft «Glück ist Pflicht. Wir sind auf Erden, um glücklich zu sein, würde der Herr sagen, wenn es den Herrn gäbe» dem Film in ebenso intelligenter wie sensibler Weise immanent.
Der Film rechnet nicht ab. Und das ist mindestens so entscheidend wie die neue Perspektive, die „Fateless“ in die aktuelle Erinnerungskultur einbringt. Denn er zeigt nicht primär den sozialdarwinistischen Kampf unter Häftlingen, die mit letzter Kraft naturgemäß um winzige Rationen Brot oder Kartoffeln erbarmungslos gegeneinander kämpfen, sondern vor allem, dass zum Überleben nicht fehlen darf, was den Menschen erst ausmacht: Menschlichkeit, Nächstenliebe und vor allem Selbstachtung. Diese zu bewahren lernt György durch seinen Freund und Beschützer Bandi, der mit Áron Dimény ebenso wunderbar besetzt ist wie der herausragende Protagonist mit dem zur Drehzeit erst 13-jährigen Marcell Nagy. Mit minimalistischer Gestik und Mimik bringt er dem Zuschauer als György Köves eben „die zerbrechliche Erfahrung des Einzelnen“ nahe und trifft ihn damit mitten ins Herz.
Trotz schwerer Krankheit überlebt György und kehrt 1945 nach der Lagerbefreiung durch die Amerikaner in seine Heimatstadt Budapest zurück, aber er ist allein. Sein Vater ist im Konzentrationslager ermordet worden und seine Stiefmutter mit einem neuen Mann verheiratet. Durch seine Rückkehr wird klar, dass es hier vor allem auch um die Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdbild der Holocaust-Überlebenden geht. Für die in der Heimat Gebliebenen scheint alles klar: “Wir konnten ja nicht ahnen, dass Dich Dein Weg von hier direkt in die Hölle des Lagers führt.“ Und György entwirft mit seiner Antwort das Bild einer anderen, bis dato unaussprechlichen und unvorstellbaren Facette der Realität: „Das Lager ist keine Hölle, die Hölle gibt es nicht, das Lager schon.“
Zum Atheisten ist er geworden, aber nicht illusionslos und so kann er am Ende des Films dennoch seiner Zukunft entgegensehen, wenn er sagt: „Nichts ist so unmöglich, dass man es nicht auf ganz natürliche Weise durchleben würde. Und auf meinem Weg, das weiß ich schon jetzt, lauert, wie eine unvermeidliche Falle, das Glück auf mich. Denn sogar dort, bei den Schornsteinen, gab es in der Pause zwischen den Qualen etwas, das dem Glück ähnlich war.“
Erst am Ende erfasst man, warum Imre Kertész die Geschichte von György Köves als „Roman eines Schicksallosen“ geschrieben und Lajos Koltai den auf diesem Roman basierenden Film „Fateless“ genannt hat. Nicht, weil György kein Schicksal hat, sondern weil er sich schicksallos macht, indem er sich die Fortsetzbarkeit des Unfortsetzbaren vornimmt: „…und ich werde mein nicht fortsetzbares Leben fortsetzen.“
Und mit dieser zart anmutenden Aura der Neubelebung wird nicht nur György zum Helden auf den zweiten Blick, sondern dieser Film auch zu einem Plädoyer der Aufklärung: „Wo Schicksal war, soll Freiheit werden.“
„Fateless“ ist kulturpolitisch bedeutendes Kino von feinsinnigen, bescheidenen Machern, das entsprechende Aufmerksamkeit nicht nur auf den zahlreichen Festivals, sondern vor allem beim internationalen Publikum verdient.
Prädikat: Besonders wertvoll!
Autorin: Julia Radke
Regie: Lajos Koltai
Drehbuch: Imre Kertész
Kamera: Gyula Pados
Darsteller: Marcell Nagy (Gyuri Köves), Béla Dóra (Smoker), Áron Dimény (Bandi Citrom), Miklós B. Székely, Zoltán Bezerédy (Darász), Péter Vall
Genre: Drama
Land: Ungarn / Deutschland, 2004
Länge: 134 min
Premiere: 31. Mai 2005 / Deutschland // Kinostart: 02. Juni 2005 / D
FSK: ab 12 Jahren