Dichtung und Wahrheit
Die Auseinandersetzung mit Leben und Werk von Else Lasker-Schüler ist nicht frei von gewissen Hürden. Die Unterscheidung zwischen Realität und Dichtung ist aufgrund der ausgeprägten Fantasie der Schriftstellerin eher schwierig. Die Dichterin selbst beschrieb sich 1919 so: „Ich bin in Theben (Ägypten) geboren, wenn ich auch in Elberfeld zur Welt kam im Rheinland. Ich ging elf Jahre zur Schule, wurde Robinson, lebte fünf Jahre im Morgenland und seitdem vegetiere ich.“1 Else Lasker-Schüler wurde zur bedeutendsten Dichterin des Expressionismus. Geschätzt und geliebt, aber auch gleichzeitig innerlich zerrissen und ohne Heimat. Sie glaubte an die Macht der Poesie. Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion zerfließen dadurch, dass sie ihre literarische Figur des Jussuf auch im Privaten aufleben lässt. So unterschreibt sie ihre Briefe oftmals mit Jussuf Prinz von Theben. Ihre reale Welt war gekennzeichnet von Schicksalsschlägen, privat wie beruflich.
Leben und Werk
Geboren wurde Else Lasker-Schüler am 11. Februar 1869 als Elisabeth Schüler in Elberfeld, einem heutigen Stadtteil Wuppertals. Sie war das jüngste von sechs Kindern der Eheleute Aron und Jeanette Schüler (geb. Kissing). Ihre Kindheit und Jugend verbringt sie in Elberfeld, wo sie auch das Lyzeum besucht. Else Schüler erkrankt am sog. Veitstanz und sieht den Grund hierfür in der Schwermut der Mutter. Am 2. Februar 1882 stirbt der Bruder Paul. Nach ihm wird sie später ihren einzigen Sohn benennen. 1890 trifft sie ein weiterer schicksalhafter Schlag. Die geliebte Mutter stirbt am 27. Juli mit nur 52 Jahren.
1894 heiratet sie den Arzt Dr. Jonathan Berthold Lasker in Elberfeld. Ein zu vermutendes Motiv dieser Hochzeit ist die Flucht aus der provinziellen Enge Elberfelds. Das Ehepaar übersiedelt noch im gleichen Jahr nach Berlin. Dort arbeitet Else Lasker-Schüler zunächst in ihrem eigenen Atelier und studiert Malerei bei einem Schüler Max Liebermanns, mit Namen Simson Goldberg. Später wird sie ihre Bücher selbst illustrieren.
Im Jahre 1899 begegnet sie dem Schriftsteller Peter Hille. Durch ihn wird Else Lasker-Schüler bekannt mit der dortigen Literaturszene und publiziert erste Gedichte in der Zeitschrift „Die Gesellschaft“. Im gleichen Jahr, am 24. August 1899, kommt ihr Sohn Paul, aus einer außerehelichen Verbindung stammend, zur Welt. Sein Vater aber bleibt unbekannt. Sie gibt ihm allerdings den Fantasienamen Alkibiades de Rouan. Der erste Gedichtband Styx erscheint 1902 im Berliner Verlag von Axel Juncker. Die Dichterin beginnt ein Spiel mit Fakten und Daten. Sie verlegt ihr Geburtsjahr von 1869 auf 1876. Ferner behauptet sie, die Gedichte für Styx im Alter von 15 bis 17 Jahren geschrieben zu haben. Diese Behauptung hält einer kritischen Überprüfung nicht stand.
Privates
Das Privatleben der Dichterin gestaltet sich also durchaus turbulent. Am 30. November 1903 heiratet sie den Schriftsteller Herwarth Walden. Dieser heißt bürgerlich Georg Levin und erhält seinen neuen Namen von Else Lasker-Schüler. Erst Ende März desselben Jahres hatte sie sich privat von Peter Hille getrennt und nur kurze Zeit später kam es zur Scheidung von Berthold Lasker.
Ihr Freund und Mentor Peter Hille stirbt am 7. Mai 1904. Ihm war sie auch privat, obgleich noch verheiratet, eng verbunden gewesen. Hille nannte die Freundin „Der schwarze Schwan Israels“. Für ihre Arbeit war Hille von großem Einfluss. Nicht zuletzt schlägt sich dies nieder im „Peter Hille-Buch“, dem ersten Prosaband der Dichterin, welches im Jahre 1906 erscheint. Die Ehe mit Herwarth Walden gestaltet sich nicht problemlos. Das Ehepaar lebt in Armut. Hinzu kommen stete Sorgen um die Gesundheit des einzigen Sohnes Paul. Im Jahre 1905 erscheint ihr zweiter Gedichtband „Der siebente Tag“. Das in diesem Buch enthaltene Gedicht „Mein Volk“ wird als das erste deutsche Gedicht der literarischen Epoche des Expressionismus angesehen. Noch immer mit materiellen Sorgen behaftet, verfasst Else Lasker-Schüler ihr erstes dramatisches Werk „Die Wupper“. Obwohl das Stück bereits 1909 erscheint, wird es erst zehn Jahre später uraufgeführt. 1925 wird sie in ihrem Buch „Ich räume auf!“ zur Entstehung schreiben, „[.] – In einer Augustnacht schrieb ich mein Schauspiel Die Wupper. In einer Nacht. [.]“2
Im Jahre 1912 kommt es zur Scheidung von Herwarth Walden. Von diesem Zeitpunkt an bewohnt die Dichterin keine feste Wohnung mehr. Sie lebt in Hotels und Pensionen und bestreitet ihren Lebensunterhalt mit zahlreichen Publikationen und Lesungen. Trotz aller Arbeit sieht sie sich stets mit finanziellen Sorgen konfrontiert. Auch stürzt sie die Scheidung in eine persönliche Krise. Sie verarbeitet diese mit dem Briefroman „Mein Herz“. Die 1910 entstandene Selbstfiguration als Jussuf, Prinz von Theben, wird literarisch lebendig. Die fantasiebegabte Dichterin erschafft sich ein eigenes Königreich. Dazu gehören, u. a., der Dichter Franz Werfel (Prinz von Prag), ihr Geliebter Gottfried Benn (Gieselheer, der Barbar, der Heide), Peter Hille (Sankt Peter) und Oskar Kokoschka (Troubadour oder Riese).
Die „Hebräischen Balladen“
1913 veröffentlicht Else Lasker-Schüler die „Hebräischen Balladen“, ein unbestrittener Höhepunkt ihres Werkes. Zu ihrem Freundeskreis gehören mittlerweile der Maler Franz Marc und der Dichter Georg Trakl. Beide werden Opfer des Ersten Weltkrieges. Diese dramatischen Ereignisse verarbeitet Else Lasker-Schüler in ihrem 1919 veröffentlichten Werk „Der Malik“. Im gleichen Jahr kommt es zu einer Neuherausgabe ihrer Werke durch Paul Cassirer. 1923 erscheint der Band „Theben“, eines ihrer schönsten Bücher, mit Gedichten und Lithografien, herausgegeben von Alfred Flechtheim. Hier kommt ihre künstlerisches Talent voll zur Geltung. 1925 erscheint das bereits erwähnte Buch „Ich räume auf!“ Noch immer befindet sie sich in einer wirtschaftlich prekären Lage. Diese ist auch begründet durch die schwere Krankheit ihres Sohnes Paul und der damit verbundenen Arztkosten. In einem Artikel zu einer Aufführung der Wupper heißt es: „[.] Und an Kleistens 150. Geburtstag ein Ruf an die Nation – an alle Freunde der Kunst, die allerärmste, die allerreichste Dichterin deutscher Sprache in ihrer Not nicht versinken zu lassen.“3 Zahlreiche Freunde und Schriftstellerkollegen, wie Thomas Mann, verwenden sich für die Dichterin, die größte Wertschätzung genießt.
1927 verschlechterte sich der Gesundheitszustand des Sohnes dramatisch. Paul Lasker-Schüler stirbt am 14. Dezember 1927. Tief getroffen von diesem Verlust, zieht sich die Dichterin zunehmend aus der Öffentlichkeit zurück. 1932 erhält Else Lasker-Schüler für das Gesamtwerk den Kleistpreis. Doch dieses Mal wird sie nicht nur gefeiert. Der „Völkische Beobachter“ nennt sie „die Tochter eines Beduinenscheichs“ und kritisiert die Verleihung des Preises auf das Schärfste. Die so genannte Machtergreifung der Nationalsozialisten sorgt dafür, dass sich die Dichterin in ihrer Heimat nicht mehr sicher fühlt. Sie emigriert am 19. April 1933 in die Schweiz. Ihre „Duldung“ erweist sich für Else Lasker-Schüler als zermürbende Angelegenheit. Sie darf ihren Beruf nicht ausüben, muss ständig neue Aufenthaltsgenehmigungen erwirken und bekommt häufige Besuche der Fremdenpolizei. 1934 unternimmt sie ihre erste Palästinareise. Klaus Mann veröffentlicht Gedichte von ihr in seiner Emigrantenzeitschrift „Die Sammlung“ und auch sonst erfährt sie große Unterstützung. 1936 kommt es zur Uraufführung des Stückes „Arthur Aronymus und seine Väter“. Diesmal soll sich die finanzielle Lage bessern, doch nach zwei Aufführungen wird das Stück, vermutlich auf Druck der deutschen Botschaft, abgesetzt.
1938 wird die Dichterin ausgebürgert. Ein Jahr später unternimmt Else Lasker-Schüler ihre dritte Palästinareise. Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges verhindert eine Rückkehr in die Schweiz. Den Rest ihres Lebens verbringt die Dichterin in Jerusalem. Auch hier lebt sie in ärmlichen Verhältnissen. Sie verfasst ihr letztes Stück „Ichundich“, welches erst im Jahre 1979 zur Uraufführung kommt. Mit diesem Werk thematisiert sie erstmals die politische Situation. Publiziert wird das Stück jedoch nicht. Ferner gründet sie den Lesering „Kraal“. 1943 erscheint ihr letzter Gedichtband „Mein blaues Klavier“ in einer Auflage von nur 330 Exemplaren. Sie hält mit diesem Band ein Plädoyer für Menschlichkeit und Toleranz und trauert um das, was sie in ihrem Leben verloren hat. Am Ende steht nur noch der Tod.
Am 22. Januar 1945 stirbt die große Repräsentantin des Expressionismus in Jerusalem. Auf dem Ölberg wird sie begraben. Gottfried Benn nannte sie 1952: „die größte Lyrikerin, die Deutschland je hatte.“
Autor: André Krajewski
Literatur
Benz, Wolfgang / Hermann Graml /Hermann Weiß: Enzyklopädie des Nationalsozialismus, München 1997.
Benz, Wigbert / Bernd Bredemeyer / Klaus Fieberg: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg. Beiträge, Materialien Dokumente. CD-Rom, Braunschweig 2004.
Klüsener, Erika: Else Lasker-Schüler in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten (Rohwolt Monographie), Reinbek bei Hamburg 1980
Bauschinger, Sigrid: Else Lasker-Schüler. Ihr Werk und ihre Zeit, Heidelberg 1980
Hallensleben, Markus: Else Lasker-Schüler. Avantgardismus und Kunstinszenierung, Tübingen 2000
Werke: (Auswahl)
Styx. Gedichte. Berlin, Axel Juncker 1902
Der siebente Tag. Gedichte. Berlin-Charlottenburg 1905
Das Peter Hille-Buch. Berlin/Stuttgart, Axel Juncker 1906
Mein Herz. München/Berlin 1912
Der Prinz von Theben. Berlin, Paul Cassirer 1920
Hebräische Balladen. Berlin, Paul Cassirer 1920
Mein blaues Klavier. Jerusalem, M. Spitzer/Jerusalem Press 1943
Anmerkungen
1 Kurt Pinthus [Hrsg.]: Menschheitsdämmerung. Symphonie jüngster Dichtung. Berlin 1920, S.294
2 Else Lasker-Schüler: Ich räume auf! Meine Anklage gegen meine Verleger. Zürich, Lago [Selbstverlag] 1925, S. 520
3 aus: Acht-Uhr-Abend-Zeitung, 2. Beiblatt; vom 17. Oktober 1927