Wie die Schweiz ihre Verstrickungen mit NS-Deutschland aufarbeitete
Mitte der 90-er Jahre begann in der Schweiz eine erste breite Diskussion über die wirtschaftlichen und politischen Verstrickungen des Landes mit dem NS-Regime. US-amerikanische jüdische Organisationen, die Jewish Agency und der World Jewish Congress, hatten den Schweizer Behörden und Banken skrupelloses Profitdenken vorgeworfen, das sich insbesondere in regen Handelsbeziehungen mit NS-Deutschland gezeigt habe und noch Jahrzehnte später im Umgang mit den Vermögen von Nazi-Opfern auf Schweizer Banken fortgesetzt werde. Im Zuge dieser Diskussion war die Öffentlichkeit gezwungen, das Image ihres Landes als Hort der Humanität zu revidieren. Zu einer kritischen Untersuchung beauftragte die Schweizer Bundesversammlung 1996 eine internationale Arbeitsgruppe von 24 Historikern und Juristen. Geleitet wurde diese Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg (UEK) von dem Historiker Jean-Francois Bergier. Nach Zwischenberichten über die Goldtransaktionen (1998) und die Flüchtlingspolitik (1999) sowie der Veröffentlichung von 25 Einzelstudien legte die UEK im März 2002 ihren Schlussbericht vor. Die Ergebnisse ergänzten Bekanntes und umrissen erstmalig die Ausmaße der Kollaboration.
Flüchtlingspolitik
So wusste man schon lange, dass die 1938 in Deutschland eingeführte Kennzeichnung der Pässe jüdisch-deutscher Bürger durch den Buchstaben „J“ auf die Initiative der Schweizer Behörden zurückging. Dieses Verfahren erleichterte ihnen die Zurückweisung jüdischer Flüchtlinge an der Grenze, denn sie galten in der Schweiz noch bis 1944 nicht als politisch Verfolgte (Benz, Graml, Weiß 1997). Ihre Rückführung nach Deutschland bedeutete meist den sicheren Tod – wie auch die Schweizer Behörden wussten. Im März 2002 übte Bergier scharfe Kritik an diesem Vorgehen: „Die Politik unserer Schweizer Behörden hat dazu beigetragen, das grausame Ziel der Nazis zu verwirklichen, den Holocaust. In diesem weitaus sensibelsten Bereich war die Politik restriktiv und das noch in unnötiger Weise.“ Die UEK schätzt die Zahl der Abgewiesenen auf etwa 20 000.
Raubgold
Auch im Hinblick auf die Kontrolle der Banken stellte die UEK der Schweiz ein schlechtes Zeugnis aus. Der Bundesrat habe ihnen zuviel Handlungsspielraum gewährt, sodass die Deutsche Reichsbank über 75 Prozent ihrer ins Ausland gehenden Goldtransaktionen über die Schweiz abwickeln konnte. Auf diesem Wege sei es dem NS-Staat auch gelungen, mithilfe von geraubtem Gold aus den besetzten Staaten sowie Schmuck- und Zahngold aus den Vernichtungslagern Devisen zu beschaffen.
Politische Konsequenzen
Im Februar 1997 rief der Bundesrat den Schweizer Fonds zugunsten bedürftiger Opfer von Holocaust/Shoa ins Leben. Sein Kapital von 275 Millionen Franken wurde von den Banken und anderen Unternehmen des Landes zur Verfügung gestellt. Mit dem 30. September 1999 endete die Frist für das Einreichen von Gesuchen. Bis dahin wurden den Opfern rund 92% des Fondskapitals zugesprochen. Weltweit haben etwa 310 000 Personen von dieser humanitären Unterstützung profitiert. Darüber hinaus einigten sich im August 1998 die Schweizer Banken, der Jüdische Weltkongress und die Klägervertreter auf einen Vergleich in der Höhe von 1,25 Mrd. Dollar. Damit wurden der gesamte Schweizer Bankensektor sowie die Schweizer Industrieunternehmen und staatlichen Stellen von weiteren Klagen im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg befreit.
Nachrichtenlose Konten
Weitere Maßnahmen betrafen die Vermögen von NS-Opfern auf Schweizer Banken. Ohne Sterbeurkunde des Erblassers – der Normalfall bei Ermordeten des NS-Regimes – hatten die Geldinstitute den Erben bis 1996 jeglichen Zugriff auf die seit Jahrzehnten nachrichtenlosen Konten verwehrt. Um diesem Zustand ein Ende zu setzen, einigten sich im Mai 1996 internationale jüdische Organisationen mit der Schweizer Bankenvereinigung auf die Schaffung des „Independent Committee of Eminent Persons“, später nach seinem Präsidenten Paul J. Volcker auch Volcker-Kommission genannt (Ziegler 1997). Während dieses Kuratorium alle vor dem 9. Mai 1945 eröffneten nachrichtenlosen Konten auflistete, prüft ein Schiedsgericht die erhobenen Ansprüche. Bis Oktober 2001 wurden etwa 10 000 Fälle bearbeitet. Dabei konnten insgesamt 65 Millionen Franken ihren rechtmäßigen Besitzern zugeordnet werden.
Reaktionen der Öffentlichkeit
Die Aufarbeitung der Schweizer Vergangenheit fand unter den Bürgern ein geteiltes Echo, so Claudia Hoerschelmann, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Archiv für Zeitgeschichte der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich. Zwar trage ein Großteil der Bevölkerung die Entwicklung mit, Kritik sei aber insbesondere aus den Reihen der Kriegsgeneration laut geworden: „Sie, die die Schweiz militärisch verteidigt hatten, sehen durch die Ergebnisse der mehrheitlich einer jüngeren Generation angehörenden HistorikerInnen ihre auch unter persönlichen Opfern der Heimat entgegengebrachten Leistungen entwertet.“
Autorin: Inge Hüsgen
Literatur
Benz, Wolfgang / Hermann Graml /Hermann Weiß: Enzyklopädie des Nationalsozialismus, München 1997. – auch erhältlich als CD-Rom Version.
http://www.parlament.ch/D/dossiers/nachrichtenlose_vermoegen/chronologie_kurzuebersicht.htm (Zugriff am 8.10.2002)
http://www.parlament.ch/D/dossiers/nachrichtenlose_vermoegen/chronologie_detaillierte_uebersicht_ab1998.htm (Zugriff am 8.10.2002)
http://www.parlament.ch/D/dossiers/nachrichtenlose_vermoegen/chronologie_detaillierte_uebersicht_ab2000.htm (Zugriff am 8.10.2002)
http://www.uek.ch/de/index.htm (Zugriff am 10.10.2002)
http://www.univie.ac.at/dieuniversitaet/index2.htm?/dieuniversitaet/2002/wissen/10001043.htm (Zugriff am 8.10.2002)
Ziegler, J. (1997): Die Schweiz, das Gold und die Toten. C. Bertelsmann, München