Ein schwieriges Thema – etwas zu leicht genommen
Rachel Schwarz, die Ich-Erzählerin in dem Jugendroman Ein Flüstern in der Nacht von Moya Simons, wird im Frühjahr 1933, wenige Wochen nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, in Leipzig als Tochter eines jüdischen Arztes geboren. Am Beispiel von Rachel und ihrer Familie erzählt Moya Simons die Geschichte der Juden in Deutschland in der NS-Zeit. Während Rachels Eltern zusammen mit ihrer älteren Schwester und anderen Familienangehörigen schließlich deportiert werden, kann Rachel sich der Deportation entziehen und wird von einem Ehepaar und seinem Enkel bis Kriegsende in Leipzig versteckt. Nach der Befreiung durch die Alliierten kommt sie in ein jüdisches Waisenhaus in Großbritannien, bis ihr Vater sie mit Hilfe des Roten Kreuzes findet. Im Dezember 1948 emigriert Rachel schließlich zusammen mit ihrer jüdischen Freundin Greta nach Australien, wo ihr Vater und ihre Schwester bereits seit einiger Zeit leben; ihre Mutter und die übrigen Verwandten wurden ebenso wie die Angehörigen von Greta im Konzentrationslager ermordet.
Gestützt auf Gespräche mit Holocaust-Überlebenden und Informationen von Historikern gibt Moya Simons in ihrem Roman Ein Flüstern in der Nacht anhand des Lebens ihrer Protagonistin einen streng chronologisch strukturierten Überblick über wesentliche Phasen der Verfolgung der Juden in Deutschland seit 1933. So thematisiert sie u. a. die vielfältigen Diskriminierungen im Alltag, die Nürnberger Gesetze, die Berufsverbote, die Reichspogromnacht, die Zwangsumsiedlungen in sog. Judenhäuser sowie die Deportationen in die Vernichtungslager. Die Fakten sind weitestgehend zutreffend dargestellt; eine 15-seitige Zeittafel im Anhang gibt zusätzliche Hinweise.
Allerdings geht der pädagogische Impetus, junge Menschen über den Holocaust zu informieren, wiederholt zu Lasten der literarischen Qualität des Romans: Informationen zu politischen Hintergründen werden ungeschickt in die Romanhandlung integriert, statt diese mit Hilfe eines Glossars zu vermitteln. Die Personenzeichnung bleibt eindimensional und undifferenziert. Das Leiden der Menschen wird eher benannt, als glaubwürdig gestaltet. Gleiches gilt für die Ängste und Traumata nach der „Befreiung“. Damit scheitert Ein Flüstern in der Nacht bei dem Versuch, den Holocaust und seine Folgen ungebrochen einfühlend darzustellen. Das ist nicht schlimm, sondern wohl unvermeidlich; zu kritisieren aber ist, dass der Roman dieses Problem glaubt ignorieren zu können.
Schließlich stellt sich die Frage, ob die australische Autorin Moya Simons dem Genre Kinder- und Jugendbuch nicht zu deutlich Tribut zollt, wenn in Ein Flüstern in der Nacht nicht nur die als Identifikationsfigur fungierende Rachel den Holocaust überlebt, sondern auch die einzigen nicht-jüdischen Deutschen, die ausführlicher dargestellt werden, ausgerechnet die sind, die Rachel retten. Gewiss ist es richtig, zu zeigen, dass selbst in Extremsituationen moralisches Handeln möglich war. Differenzierter sollte dann aber auch geschildert werden, dass und warum dieses bedauerlicherweise die Ausnahme blieb.
Autor: Tomas Unglaube
Moya Simons: Ein Flüstern in der Nacht. Aus dem Englischen von Anne Braun, München: cbj 2012. 304 S. Ab 10. ISBN 978-3-570-15331-4.