Es ist über 70 Jahre her, dass Eltern aus Deutschland und den von Deutschland besetzten Gebieten sich gezwungen sahen, ihre Kinder wegzuschicken, um sie vor den Nationalsozialisten zu schützen. Überwiegend handelte es sich um Menschen jüdischen Glaubens oder jüdischer Herkunft. Als Alleinreisende fuhren diese Kinder und Jugendlichen nach Großbritannien sowie in andere demokratische Staaten, darunter die Niederlande, Schweden, Frankreich und Belgien. Mehr als 10.000 junge Menschen im Alter zwischen 2 und 17 Jahren fanden so zwischen Dezember 1938 und Sommer 1939 Aufnahme in Gastfamilien und Hostels – verunsichert durch die Trennung von den Eltern, eine unbekannte Umgebung mit einer fremden Kultur sowie voller Sorge um die zurückgebliebenen Familienangehörigen und Freunde, die sie in den meisten Fällen nie wieder sehen sollten.
Im Mittelpunkt von Anne Voorhoeves Roman „Liverpool Street“, der seit Ende 2008 auch als Taschenbuch vorliegt, steht Franziska Mangold aus Berlin, die als 10-jährige allein nach Großbritannien kommt und in einer orthodoxen jüdischen Familie aufgenommen wird. Historisch präzise recherchiert, schildert Voorhoeve durch ihre Hauptperson nicht nur anschaulich die Erlebnisse eines Flüchtlingskindes. Sie verdeutlicht auch sehr eindrucksvoll die Ängste und Zweifel, denen Franziska ausgesetzt ist, die schließlich gar nicht mehr weiß, zu welcher Familie und welcher Kultur sie gehört. Insbesondere die immer wieder von Missverständnissen gestörte Beziehung Franziskas zu ihrer Gastmutter wird geradezu liebevoll entwickelt. Daneben erfahren die Leserinnen und Leser vieles über jüdische Bräuche, das Leben in Großbritannien während des Zweiten Weltkriegs und den Alltag einer Heranwachsenden. Völlig zu Recht wurde dieser Roman als bestes Jugendbuch des Jahres 2008 mit dem Buxtehuder Bullen ausgezeichnet.
Wer sich von der Lektüre der über 550 Seiten überfordert glaubt, kann seit kurzem auch auf das gleichnamige Hörbuch, gelesen von Sascha Icks, zurückgreifen. Es präsentiert den Text in gekürzter Fassung auf 6 CD. Trotz der Kürzungen kann das Hörbuch empfohlen werden, denn Sascha Icks trifft mit ihrer Stimme sehr genau den leicht ironischen Ton des Romans, der vielfach das geschilderte Leid erst erträglich macht.
Steffi Steiner, Tochter eines wohlhabenden Arztes und einer Sängerin, muss im Sommer 1939 im Alter von 12 Jahren ihre Heimatstadt Wien verlassen und kommt gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester Eleonore auf eine kleine Insel in der Nähe von Göteborg zu armen Fischern. In insgesamt vier Romanen, die auch einzeln gelesen werden können, schildert die schwedische Autorin Annika Thor die Erlebnisse von Steffi im Exil. Vornehmlich in den ersten beiden Romanen – „Eine Insel im Meer“ und „Eine Bank am Seerosenteich“ – wird eindrucksvoll Steffis Situation als jugendlicher Flüchtling verdeutlicht: Hineingeworfen in eine völlig ungewohnte Umgebung mit einer unbekannten Sprache und neuartigen religiösen Gebräuchen, versucht Steffi sich selbst zu behaupten. Die Sorge um die Eltern in Wien und die ihr anvertraute kleinere Schwester lasten schwer auf der 12-jährigen. Einfühlsam beschreibt Thor die Beziehung Steffis zu ihren Gasteltern und die Feindschaft, auf die sie als Ausländerin stößt. Nach einem Jahr verlässt Steffi die ihr inzwischen zur zweiten Heimat gewordene Insel und zieht nach Göteborg, um dort eine weiterführende Schule zu besuchen. Hier wird sie mit den Problemen einer von sozialen Gegensätzen bestimmten Gesellschaft konfrontiert und muss erleben, dass es in Schweden einen ausgeprägten Antisemitismus gibt.
Auch in den beiden folgenden Romanen – „In der Tiefe des Meeres“ und „Offenes Meer“ – gelingt es Annika Thor überzeugend, in die Schilderung der Entwicklung von Steffi zur jungen, selbstbewussten Frau historische Informationen einzuflechten. So entsteht mit der Darstellung der Flüchtlingsproblematik zugleich ein differenziertes Bild der schwedischen Gesellschaft dieser Zeit. Indem sie neue Personen einführt, kann Thor zugleich eindrucksvoll zeigen, wie unterschiedlich das Schicksal von Flüchtlingen war. Während ihre schwedischen Freunde das Kriegsende ausgelassen feiern, muss Steffi erfahren, dass mit dem Ende des Weltkrieges ihre Probleme keineswegs gelöst sind: Wo befindet sich ihr in ein Konzentrationslager verschleppter Vater? Welche Bedeutung hat überhaupt noch ihre leibliche Familie für sie? Wohin gehört sie? Wo wird sie in Zukunft leben? Welche Rolle spielt das Judentum für sie? Fragen, die Steffi nur zum Teil beantworten kann.
Die hier vorgestellten fünf Romane wenden sich an Leserinnen und Leser ab 12 bis 14 Jahren. Sie vermitteln am Beispiel der Kindertransporte anschaulich Einblicke in die Nöte junger Flüchtlinge, die über den historischen Fall hinaus gültig sind.
Autor: Tomas Unglaube; Erstveröffentlichung: vorwärts.de, 3.3.2009
Anne C. Voorhoeve: Liverpool Street, Ravensburg: Ravensburger Taschenbuch 2008, € 8,95
Anne C. Voorhoeve: Liverpool Street, gelesen von Sascha Icks, Silberfisch-Hörbuch 2008, 6 CD / 445 Minuten, € 24,95
Annika Thor: Eine Insel im Meer, aus dem Schwedischen von Angelika Kutsch, Hamburg: Carlsen 2001, € 7,95
Annika Thor: Eine Bank am Seerosenteich, aus dem Schwedischen von Angelika Kutsch, Hamburg: Carlsen 2002, € 6,90
Annika Thor: In der Tiefe des Meeres, aus dem Schwedischen von Angelika Kutsch, Hamburg: Carlsen 2003, € 6,90
Annika Thor: Offenes Meer, aus dem Schwedischen von Angelika Kutsch, Hamburg: Carlsen 2003, € 7,95