Ich war das Kind von Holocaustüberlebenden ist ein mit Fantasie und überaus gehaltvollen Zeichnungen angereichertes Kunstwerk der Holocaustliteratur.
Was haben Art Spiegelman und die Künstlerin Bernice Eisenstein gemeinsam?
Beide sind Kinder von Holocaustgezeichneten, die Auschwitz überlebt haben, nicht aber ihr Trauma. Beide begeben sich auf die Suche nach der elterlichen Vergangenheit mit Hilfe von Zeichnungen. Während Spiegelman für seine Erinnerungsarbeit die grafic novel genutzt hat, greift Bernice Eisenstein in ihrem Buch „Ich war das Kind von Holocaustüberlebenden“ Elemente der grafic novel auf und mischt sie zwischen die epische Form.
Keine farbigen Zeichnungen sind es, die einen Blick in die elterliche Vergangenheit werfen. Denn dafür ist das Erlebnis des Holocaust zu düster. Die Bilder und ein über Seiten gesetzter Comic sind in schwarz-weiß gehalten. Gedanken- und Sprechblasen bringen das zum Ausdruck, was unaussprechbar ist und auf den Eltern sowie auf Bernice lastet.
Barek und Regina Eisenstein hüllen sich in ein tiefes Schweigen über die Schatten der Vergangenheit, die von Verlust gekennzeichnet sind. Verlust der Heimat und Verlust der Familie. Barek bleibt allein zurück. Tod ist der Vater Mottl, die Mutter Surale, sein Bruder Jacob und seine Schwestern Binche und Hannah.
Der von der Mutter geschmuggelte Ring eines Auschwitztoten ist alles, was ihr am Ende bleibt. Dieser Ring besiegelt den Anfang ihrer Ehe mit Barek. Nach dem Tod des Vaters geht dieses „bittersüße Erbe“ auf Bernice über. Die für Mutter und Tochter unaussprechliche Bedeutung dieses Rings wird deutlich in einer für beide stehenden Gedankenblase „Weisst du, was dieser Ring mir bedeutet …“. Für die Mutter die Bindung nicht nur eines gemeinsamen Lebens, sondern auch die Verschmelzung der gemeinsam durchlebten und beständigen Vergangenheit, die Auschwitz in sich trägt. Eine Beständigkeit, deren Schatten auf Bernice übergegangen ist. Denn auch mit der Auswanderung der Eltern 1948 nach Kanada wandert dieser Schatten mit. „In dem neuen Land angekommen, war meinen Eltern und ihren Freunden nicht bewusst, dass ihre Vergangenheit einen unsichtbaren Schatten über das Leben derer zeichnete, die sie zur Welt brachten …“.
Der Blick in die elterliche Vergangenheit bleibt für immer verdunkelt und macht diese Vergangenheit stumm. Eindrucksvoll dargestellt und kommentiert anhand einer Tuschezeichnung der Eltern. „Den Schatten musste ich mir selbst ausmalen. Die gestochen scharfen Linien, die sie zeichneten, gaben keine Antwort.“. Gerade dieses Schweigen der Eltern treibt Bernice an, nach Antworten zu suchen. Mit schwarzem Humor erzählt sie, dass sie „holocaustkrank“ geworden ist, ihre Eltern sich zum heimlichen „Drogendealer“ entwickelt haben. Bernice verschlingt den Holocaust. Sie wälzt Bücher, sucht in Fotos nach Antworten. Recht makaber klingt es, wenn sie erzählt, dass sie mit dem Leid der Eltern hausieren gegangen ist. Die Tochter von Holocaustüberlebenden zu sein, hat aus ihr etwas ganz Besonderes gemacht.
Ihren eigenen Wünschen setzt sie die vermeintlichen Wünsche ihrer Eltern gegenüber. So malt sie den Vater, der Western liebt, als Cowboy durch das Eingangstor von Auschwitz hindurchgehend. Hier ist er unter dem mörderischen Spruch „Arbeit macht frei“ überlegen und kämpft siegreich gegen das Böse.
Während ihre Eltern stumm dem Eichmann-Prozess vor dem Fernseher folgen, spricht Bernice für sie die nichthörbaren Worte „Vergiss das niemals.“. Ein über achtzehn Seiten langer Comic erzählt neben dem Jiddischen die Ankunft der Eltern in dem neuen Land sowie das erlebte Grauen des Holocaust. So weist einzig die Gedankenblase „Einhundert Tote sind eine Katastrophe. Eine Million nur eine Zahl.“ auf Eichmann hin. Inmitten des Comics eine Zeichnung, die für sich steht. Alle Bahngleise führen nach Auschwitz. Ihr Vater auf einem Podest stehend spricht den Trauer- und Freudespruch „Af simches“. Deutlicher können Trauer und Hoffnung nicht ausgedrückt werden. Die Kernaussage des Comics liegt in einer sich anschließenden Zeichnung, wo Bernice einen Stein ins Wasser wirft und die sich in alle Richtungen ausbreitenden Wellen den Schriftzug tragen „Die Erinnerung hat kein Zentrum, ihr Herz schlägt in allen Dingen“.
Es gibt keinen Weg zu dieser Erinnerung. Für Bernice ist sie vielmehr eine dunkle Odyssee, in der sie sich verirrt hat. Die Suche nach der Erinnerung der Vergangenheit der Eltern zieht sich wie eine sich ständig tiefer eingrabende Spur durch Bernices Leben. Doch der Blick in das Leid bleibt ihr verborgen. „Ich habe den Fluchtpunkt des Holocaust nicht gefunden und bin nie ganz sicher, wo meine Position auf seinem Horizont ist.“
Bernice Eisenstein hat versucht die traumatische Vergangenheit ihrer Eltern, die zu ihrer eigenen Geschichte wird, zu finden. Das Ausmaß dieses Traumas hat Bernice nicht erfassen können, sie wollte es aber wenigstens verstehen, denn „Im Haus der Eltern aufzuwachsen, war nicht tragisch, aber ihre Vergangenheit war es.“.
Die schwer traumatisierten Eltern haben alle Spuren mit Kurs auf den Holocaust verwischt. Barek und Regina Eisenstein betäuben ihr Leid mit dem Verdrängen der Vergangenheit, mit dem Verdrängen des Holocaust. Bernice, das Kind von Holocaustüberlebenden, betäubt ihr Leid mit dem Wühlen in der Vergangenheit, mit dem Wühlen im Holocaust. Sagt der Vater „Ich kon nischt“, so antwortet Bernice, „Trotzdem schufte ich wie ein jüdischer Sisyphus und rolle Geschichte und Erinnerung den Berg hinauf.“.
Die Vergangenheit ihrer Eltern ist mit Bernices Leben verschmolzen. Die letzte Zeichnung macht diese Verschmelzung deutlich. Die Familie um einen Tisch, auf dem Tischtuch die letzten Verszeilen aus dem Gedicht „Es war Erde in ihnen“ von Paul Celan, „O du gräbst und ich grab, und ich grab mich dir zu, und am Finger erwacht uns der Ring.“.
„Ich war das Kind von Holocaustüberlebenden“ ist ein sehr persönliches und mit ganz viel Hingabe erzähltes Buch über die Weitergabe der Shoah an die Kinder der Überlebenden. Dort, wo Worte nicht ausgesprochen werden können, lässt Bernice Eisenstein ihre Zeichnungen sprechen. Manche Zeichnung erzählt ein ganzes Kapitel und es bedarf keiner Worte, dass sich das nächste anschließt. Inmitten der oftmals auch kindlichen Bilder sind Gedanken- und Sprechblasen, die einen tiefen Einblick in die verschiedenen Erlebnisse, Erfahrungen und Gedanken zur Wucht des vererbten Traumas geben. Zeigt das Cover eine bunte Zeichnung der Familie und damit die nach außen wirkende Lebendigkeit, so sprechen die in schwarz-weiß gehaltenen Zeichnungen im Innern des Buches die im Verborgenen liegende tiefe Traurigkeit aus. Zwischen dieser Traurigkeit findet sich aber auch ein Stück schwarzer Humor und Originelles zum Schmunzeln.
Autorin: Soraya Levin
Bernice Eisenstein, Ich war das Kind von Holocaustüberlebenden, Berlin August 2010, BvT Berliner Taschenbuch Verlags GmbH, Die Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel I Was a Child of Holocaust Survivors bei McClelland & Stewart, Toronto, 192 Seiten, € 10,95 {D}, € 11,30 {A}, ISBN 978-3-8333-0681-5