Geflüchtet – Vertrieben – Displaced Persons
Als die alliierten Armeen Deutschland im Mai 1945 besetzten, fanden sie im Gebiet der späteren drei westlichen Besatzungszonen knapp sieben Millionen[1] sog. Displaced Persons (DPs) vor.[2] Dieser Begriff umfasste alle Personen, die infolge des Zweiten Weltkrieges aus ihrer Heimat durch direkte oder indirekte Folgen des Krieges vertrieben, verschleppt oder geflohen waren. Unter diese Definition fielen also Zwangsarbeiter, die während des Krieges in deutschen Betrieben arbeiten mussten, Kriegsgefangene, ehemalige KZ-Häftlinge und Osteuropäer. Nicht gemeint waren die vielen Millionen deutschen Flüchtlinge, die nach Beendigung des Krieges aus ihrer Heimat vertrieben wurden, wie z.B. die Schlesier oder die Sudetendeutschen. Eine vergleichsweise kleine Gruppe unter den DPs stellten die jüdischen Überlebenden dar.
Trotz der logistischen Schwierigkeiten der Nachkriegssituation gelang es den Alliierten, bis Ende September 1946 fast sechs Millionen DPs zu repatriieren.[3] Die verbliebenen rund eine Millionen DPs wurden als nicht repatriierbar angesehen. Es handelte sich dabei um drei Gruppen: (1) Polen und Sowjetbürger, die nach geleisteter Zwangsarbeit nicht in ihre Heimatländer zurückkehren wollten, (2) Polen, Ukrainer, Russen und Balten, die freiwillig für die Deutschen gearbeitet hatten und (3) Juden. Für die meisten überlebenden Juden bildete die Zeit zwischen der Befreiung aus den Konzentrationslagern und der Gründung des Staates Israel nur eine Übergangsphase ihrer Flucht aus Europa; für eine Minderheit stellte sich diese Phase bis zur Gründung des „Zentralrats der Juden in Deutschland“ als Beginn eines längerfristigen Wiederaufbaus jüdischen Lebens in Deutschland dar. Vertreter beider Gruppen legten den Grundstein für die Etablierung jüdischer Gemeinden in der Bundesrepublik.
So schlimm das Schicksal der nichtjüdischen DPs auch gewesen sein mag, mit der jüdischen Tragödie war es nicht zu vergleichen: völlig entkräftet hatten sie die Torturen in den Vernichtungs- und Konzentrationslagern überstanden oder versteckt im Untergrund überlebt, was allerdings nur für eine geringere Anzahl gilt. Die Tyrannei der zwölf Jahre war zwar vorbei, aber die Mehrheit der befreiten Juden hatte beinahe alles bis auf das Leben verloren: Sie besaßen im Gegensatz zu den anderen verbliebenen DPs weder Heimat noch (was für viele ebenfalls zutraf) eine Familie.[4] Die Überlebenden nannten sich selbst „Sche`erit Haplejta“, der „Rest der Geretteten“.[5] Für sie, wie die anderen verbliebenen DPs, mussten Unterbringungsmöglichkeiten geschaffen werden: die sog. DP-Lager, deren offizieller Name eigentlich „assembly centers“ war.[6] Nach der Befreiung, so hatten die Juden während der vielen Jahre der Verfolgung geglaubt, würde die Welt sie mit offenen Armen aufnehmen und sich bemühen, das begangene Unrecht wiedergutzumachen. Nun waren die Überlebenden zwar befreit, aber frei waren sie noch lange nicht: das Lagerleben setzte sich erst einmal fort, wobei sich diese Unterkünfte nicht mit den vorherigen vergleichen lassen, jedoch all die negativen Assoziationen wachhielten. Jacob Biber aus dem DP-Lager Föhrenwald schreibt dazu über seine Erfahrungen u.a.: „Die Atmosphäre des Eingesperrt-Seins bewirkte ein ständiges Wiedererleben der Szenen aus unserer fürchterlichen Vergangenheit.“[7] So blieb z.B. das DP-Lager Hohne-Belsen, das sich in der Nähe des ehemaligen Konzentrationslagers Bergen-Belsen befand, bei den Einwohnern nur als „Belsen“ in Erinnerung: in dieser vermischten sich die Erfahrungen im KZ und im DP-Lager zu einer einzigen Periode.[8] Ihre mentale wie körperliche Verfassung war, wie Ruth Gay anmerkt, hoffnungslos.[9]
Jedoch ist ein deutlicher qualitativer und quantitativer Unterschied im Umgang mit den jüdischen DPs zwischen den einzelnen deutschen Besatzungszonen auszumachen: So wuchs in der amerikanischen Zone die Zahl der jüdischen DPs innerhalb des Jahres 1946 von knapp 40.000 auf über 145.000.[10] Insgesamt lebten im Sommer 1947 knapp 182.000 jüdisches DPs in Deutschland.[11] Folgerichtig befanden sich in der amerikanischen Zone auch die größten DP-Lager wie z.B. Feldafing, Föhrenwald, Pocking oder Landsberg in Bayern, Zeilsheim, Wetzlar und Eschwege in Hessen.[12] Aufs Engste verbunden ist diese Entwicklung mit den Auswirkungen des Harrison-Berichts. Dieser kam im August 1945 zu einem verheerenden Urteil über die Behandlung der jüdischen DPs durch die amerikanische bzw. britische Besatzungsmacht und gipfelte in der Aussage: „Wie die Dinge jetzt stehen, erscheint es, als ob wir die Juden so behandeln wie es die Nazis taten, wenn man davon absieht, daß wir sie nicht vernichten.“[13] Von da ab änderte sich die Behandlung der jüdischen DPs grundlegend: Die Lager wurden unter jüdische Selbstverwaltung gestellt, die notwendige Bewachung wurde von den DPs selbst übernommen, die tägliche Kalorienzuteilung wurde erhöht und DPs der Vorrang bei der Wohnraumsuche vor der deutschen Bevölkerung eingeräumt. Damit waren fast alle Forderungen des Harrison-Berichts erfüllt. Die langfristig gesehen wichtigste Folge war allerdings, dass Palästina in den Mittelpunkt der internationalen Lösungsansätze für den schwelenden Konflikt rückte.
Das Anwachsen der Zahl der jüdischen DPs im Jahr 1946 hing ganz unmittelbar mit den zahlreichen an zurückgekehrten Ostjuden verübten Pogromen zusammen und resultierte nicht aus einem zionistischen Plan, um Druck auf Großbritannien bezüglich der Einreisebestimmungen nach Palästina auszuüben, wie ein britisches Gerücht in Umlauf brachte.[14] Vielmehr führten der in Ost- wie in Westeuropa traditionelle Antisemitismus sowie Befürchtungen, die überlebenden Juden würden ihr Eigentum zurückfordern, in den Jahren 1945 bis 1947 zu zahlreichen Pogromen, denen rund 1.000 Juden zum Opfer fielen. Höhepunkt der Nachkriegsexzesse an den Juden war das Pogrom von Kielce im Juni 1946, das mindestens 47 Opfer forderte. Kielce bedeutete „für Juden in ganz Polen, die erwogen hatten, zu bleiben, die entscheidende Wende und den endgültigen Entschluß, wegzugehen.“[15] Diese Flüchtlinge entsprachen zwar nicht mehr der eigentlichen Definition von DPs, derzufolge sie während des Krieges aus ihrer Heimat vertrieben worden sein mussten. Die amerikanische Besatzungsmacht erteilte ihnen dennoch seit Februar 1946 ebenfalls den DP-Status. Trotz alledem ist Michael Brenner zuzustimmen, wenn er schreibt: „Es gehört sicherlich zu den Ironien der Geschichte, daß ausgerechnet Deutschland in den ersten Nachkriegsjahren zum Rettungshafen für jüdische Flüchtlinge wurde.“[16] Ähnlich argumentiert auch Harry Maor, der es paradox und ironisch zugleich befindet, „daß Deutschland, das seine jüdische Bevölkerung ausgestoßen und in den Tod getrieben hatte, nach dem Krieg unter dem Schutz der alliierten Siegermächte zum Rettungshafen einiger Hunderttausend Juden wurde.“[17]
Der Zuwachs in der britischen Zone hielt sich stark in Grenzen, was v.a. mit der Weigerung Großbritanniens zusammenhing, die jüdische Nationalität offiziell anzuerkennen. Dies hätte unmittelbare Auswirkungen auf die Mandatspolitik Großbritanniens in Palästina gehabt, da dadurch indirekt die Existenzberechtigung eines jüdischen Staates eingestanden worden wäre. Als ab Herbst 1945 verstärkt Juden aus Osteuropa nach Deutschland aus oben schon genannten Gründen flüchteten, kursierte in britischen Kreisen das schon erwähnte Gerücht, dies sei eine gezielte zionistische Aktion. Daraufhin kam es am 5. Dezember 1945 zum kompletten Verbot der jüdischen Zuwanderung in die britische Zone.[18] Angelika Königseder und Juliane Wetzel geben jedoch zu bedenken, dass kein Jude nur von zionistischer Propaganda beeinflusst aus Osteuropa nach Deutschland geflohen wäre.[19] In dem oben schon erwähnten Lager Hohne-Belsen lebten Mitte Juni 1946 rund 9.000 der insgesamt 12.000 jüdischen DPs der britischen Zone.[20] In der französischen Zone hatten 1947, als in der amerikanischen Zone teilweise über 150.000 Juden lebten, lediglich 1.281 Juden eine provisorische Unterkunft gefunden.[21]
Bis 1952 verblieben in Deutschland noch etwa 12.000 jüdische DPs.[22] Es handelte sich dabei um den Rest der „Sche`erit Haplejta“: Einige der Verbliebenen waren schon wieder aus Israel zurückgekehrt, andere waren aus verschiedensten Gründen nicht zu einer Immigration in der Lage. Die Kranken und Schwachen blieben zurück und sammelten sich schließlich in Föhrenwald in Oberbayern. Dieses Lager stellt das letzte Kapitel der DP-Periode dar, in dem 1954 noch immer 1.400 jüdische DPs lebten. Sie zogen die Isolation des Lagers der Integration in die deutsche Gesellschaft vor. Erst 1957 wurde das Lager mit dem Verlassen des letzten Bewohners geschlossen und die DP-Phase endgültig beendet.
Autor: Florian C. Knab
Literatur
Albrich, Thomas: Exodus durch Österreich. Die jüdischen Flüchtlinge 1945-1948. Innsbruck 1987
Biber, Jacob: Risen from the Ashes. A story of the Jewish Displaced People in the Aftermath of World War II. San Bernadino 1990
Brenner, Michael: Juden in Deutschland 1945-1950. München 1995
Brumlik, Micha/Kiesel, Doron/ Kugelmann, Cilly/ Schoeps, Julius H. (Hg.): Jüdisches Leben in Deutschland seit 1945. Frankfurt/Main 1988
Burgauer, Erica: Jüdisches Leben in Deutschland (BRD und DDR) 1945-1990. Dissertation Universität Zürich 1992.
Gay, Ruth: Das Undenkbare tun. Juden in Deutschland nach 1945. München 2001
Geis, Jael: Übrig sein – Leben „danach“. Juden deutscher Herkunft in der britischen und amerikanischen Zone Deutschlands 1945-1949. Berlin, Wien 2000
Jacobmeier, Wolfgang: Jüdische Überlebende als „Displaced Persons“. Untersuchungen zur Besatzungspolitik in den deutschen Westzonen und zur Zuwanderung osteuropäischer Juden 1945-1947. In: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft 9, 1983, S. 421-452.
Königseder, Angelika/Wetzel, Juliane: Lebensmut im Wartesaal. Die jüdischen DP´s im Nach-kriegsdeutschland. Frankfurt/Main 1994.
Maor, Harry: Über den Wiederaufbau der jüdischen Gemeinden in Deutschland seit 1945. Dissertation Universität Mainz 1961, bis heute unveröffentlicht.
Pinson, Koppel L.: Jewish Life in Liberated Germany, in: Jewish Social Studies 9 (1947), S. 101-126.
Schoeps, Julius H. (Hg.): Leben im Land der Täter. Juden im Nachkriegsdeutschland (1945-1952). Berlin 2001.
Anmerkungen
[1] Zahlenangabe nach Leonard Dinnerstein, America and the Survivors of the Holocaust, New York 1982, S. 9.
[2] „Displaced Persons“ wird i.a. mit „verschleppte Personen“ übersetzt. vgl. dazu: Hans Harmsen, Die Integration heimatloser Ausländer und nichtdeutscher Flüchtlinge in Westdeutschland, Schriftenreihe der Deutschen Nansen-Gesellschaft, Augsburg 1958, S. 9.
[3] Zahlenangabe nach Hans Harmsen, Die Integration heimatloser Ausländer und nichtdeutscher Flüchtlinge in Westdeutschland, S. 14.
[4] Wolfgang Jacobmeyer geht von knapp 50.000 in Deutschland befreiten Juden aus, die kurz nach Kriegsende im besetzten Deutschland gezählt wurden. vgl. Wolfgang Jacobmeyer, Jüdische Überlebende als „Displaced People“. Untersuchungen zur Besatzungspolitik in den deutschen Westzonen und zur Zuwanderung osteuropäischer Juden 1945-1947, in: Geschichte und Gesellschaft, Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft 9/1983, S. 421, Anm. 1.
[5] vgl. z.B. Buch Esra (9,14; 9, 15): „Herr, Gott Israels, du bist gerecht: darum hast du uns als geretteten Rest übrig gelassen, wie es heute der Fall ist.“ oder: Buch der Könige (19,30; 19, 31): „Denn von Jerusalem wird ein Rest ausziehen, vom Berg Zion ziehen die Geretteten hinaus.“
[6] Was im übrigen eine genauere Bezeichnung war, da die Behausungen zum Teil nicht dem entsprachen, was allgemein mit Lager verbunden wird, d. Verf.
[7] Jacob Biber, Risen from the Ashes. A story of the Jewish Displaced People in the Aftermath of World War II, San Bernadino 1990, S. 12.
[8] Nahum Goldmann, Mein Leben als deutscher Jude, München, Wien 1980, S.335 schreibt z.B.: „Nach der Befreiung durch die Engländer blieb Bergen-Belsen noch lange Zeit als Flüchtlingslager bestehen.“. Als Vorsitzender der Claims Conference hätte Goldmann eigentlich wissen müssen, dass sich das DP-Lager in Hohne-Belsen befand, in unmittelbarer Nähe zum ehemaligen KZ Bergen-Belsen, d. Verf.
[9] Ruth Gay, Das Undenkbare tun. Juden in Deutschland nach 1945, München 2001, S. 10.
[10] vgl. Wolfgang Jacobmeyer, Jüdische Überlebende als „Displaced People“, S. 436f.
[11] vgl. Jacob Biber, Risen from the Ashes. A story of the Jewish Displaced People in the Aftermath of World War II, S. 278f .
[12] Insgesamt gab es inkl. West-Berlin 184 DP-Lager in Deutschland. Eine Aufstellung aller Lager inkl. Belegung und kulturellen bzw. religiösen Einrichtungen findet sich bei: Angelika Königseder/Juliane Wetzel, Lebensmut im Wartesaal. Die jüdischen DPs im Nachkriegsdeutschland, Frankfurt/Main 1994, S. 247ff. Feldafing war das erste rein jüdische DP-Lager, wohin bereits Ende April die ersten befreiten Juden gebracht wurden. vgl. dazu den Bericht von Ernest Landau über „Die ersten Tage in Freiheit“, in: Michael Brenner, Nach dem Holocaust. Juden in Deutschland 1945-1950, München 1995, S. 117-129.
[13] New York Times, 30. September 1945. zitiert nach: Brenner, Nach dem Holocaust, S. 18. Earl G. Harrison war ehemaliger US-Kommissar für Einwanderung und reiste im direkten Auftrag des US-Präsidenten Truman. Vorausgegangen waren u.a. offene antisemitische Äußerungen höherer Alliierter, i.e. US-General George Patton, der meinte, dass der typische Vertreter der jüdischen DPs „eine Art Untermensch“ sei, „ohne jegliche kulturelle und soziale Bildung unserer Zeit. Praktisch alle haben ausdruckslose braune Augen […], die meiner Meinung nach auf sehr niedrige Intelligenz hinweisen.“ Zitiert nach: Bodemann, Gedächtnistheater, S. 25.
[14] Die britischen Einwanderungsbestimmungen erlaubte nur die monatliche weltweite Ausstellung von 1.500 Einwanderungszertifikaten nach Palästina. Der Harrison-Bericht forderte auf einen Schlag 100.000 Zertifikate. vgl. Königseder/Wetzel, Lebensmut im Wartesaal, S. 42.
[15] Ruth Gay, Das Undenkbare tun. Juden in Deutschland nach 1945, S. 61.
[16] Michael Brenner, Nach dem Holocaust, S. 26.
[17] Harry Maor, Über den Wiederaufbau der jüdischen Gemeinden seit 1945, S. 15.
[18] Königseder/Wetzel, Lebensmut im Wartesaal, S. 31. Den Höhepunkt der ablehnenden Haltung stellte die tragische „Exodus“-Affäre 1947 dar. Dieses Flüchtlingsschiff, auf dem knapp 5.000 jüdische DPs nach Palästina immigrieren wollten, wurde von britischen Zerstörern vor der Küste Palästinas entdeckt, woraufhin die Passagiere zunächst in britischen Internierungslagern auf Zypern festgehalten und später sogar nach Deutschland (Hamburg) zurück transportiert wurden.
[19] Königseder/Wetzel, Lebensmut im Wartesaal, S. 54.
[20] vgl. Wolfgang Jacobmeyer, Jüdische Überlebende als „Displaced People“, S. 444.
[21] vgl. Wolfgang Jacobmeyer, Jüdische Überlebende als „Displaced People“, S. 449.
[22] Zahlenangabe nach Harry Maor, Über den Wiederaufbau der jüdischen Gemeinden seit 1945, S. 24.