Die ökonomische Situation in Europa und den USA in der Nachkriegszeit
Die wirtschaftliche Situation in den deutschen Westzonen und den westeuropäischen Ländern war 1946 aus amerikanischer Sicht als katastrophal zu bezeichnen. Der Zweite Weltkrieg und seine Auswirkungen auf die Wirtschaftssysteme hatten ihre Spuren hinterlassen. Auch amerikanische Anleihen an die verschiedenen europäischen Staaten aus den Jahren 1945 und 1946 hatten diese nicht verwischen können. Ende 1946 hatte die Industrieproduktion in Belgien, den Niederlanden und Frankreich ca. 85% des Vorkriegsstandes erreicht, während in Italien die Quote bei 60% lag. In Deutschland stagnierte die Industrieproduktion bei etwa 36% des Standes von 1936. Dadurch lähmte es als wichtiger Lieferant die wirtschaftliche Entwicklung der übrigen europäischen Länder. Da die Staaten Europas zu einer ausreichenden Eigenproduktion nicht in der Lage waren, lebten sie von der Substanz von Importen, die sie aber wiederum nicht bezahlen konnten. Für die Amerikaner bestand das Problem darin, dass sie für ihre auf Hochtouren laufende und von einer Überproduktionskrise bedrohte Wirtschaft in Europa keinen Absatzmarkt fanden. Auch die Schaffung der „Bizone“ brachte keine spürbare Verbesserung der wirtschaftlichen Lage in Deutschland, wo nach der klimatisch bedingten schlechten Ernte von 1946 Nahrungsmittelmangel sowie im extrem kalten Winter 19467/47 Kohlemangel herrschte. Aufgrund der Kriegsschäden kam es in allen Besatzungszonen zu signifikanten Transportschwierigkeiten.
Das amerikanische Krisen-Szenario
All diese Probleme verstärkten bei amerikanischen Beobachtern den Eindruck einer hereinbrechenden Krise. Diese sollte nach Auffassung amerikanischer Experten aus verschiedenen Gründen unbedingt vermieden werden. Zum einen liefen die aus der Notsituation geborenen protektionistischen Maßnahmen der europäischen Regierungen der amerikanischen Wirtschaftsauffassung entgegen. Zum anderen sollte der USA der Handels- und Absatzmarkt erhalten und damit eine weltweite Rezession verhindert werden. Schließlich gab es die Befürchtung, dass die Krise scheinbar von den kommunistischen Bewegungen in den westeuropäischen Ländern hätte ausgenutzt werden können, um im Interesse der sowjetischen Regierung die Macht an sich zu reißen. Darüber hinaus ließen die Dogmen der vom amerikanischen Botschafter in Moskau, George F. Kennan, verbreiteten Eindämmungsdoktrin ein nahezu apokalyptisches Bild entstehen. In diplomatischen und politischen Kreisen machte sich die Auffassung breit, dass sich die Lage ohne amerikanische Hilfe größeren Ausmaßes so verschlimmern würde, dass sie zwangsläufig zum Dritten Weltkrieg führen würde.
Die Reaktion auf die Krise
Die Behebung der Krise war nach Ansicht der Mitarbeiter im amerikanischen Außen- und im Wirtschaftsministerium nur durch die rasche Rekonstruktion des europäischen Marktes zu gewährleisten. Besonders der schnelle Wiederaufbau Deutschlands bzw. der Westzonen als Kern des europäischen Wirtschaftsgefüges schien nun umso notwendiger. Zwei Monate nach der als „Truman-Doktrin“ bezeichneten Rede des Präsidenten bewilligte der Kongress insgesamt 400 Millionen Dollar zur Unterstützung der Türkei und Griechenland und machte so den Weg zur Hilfe für weitere europäische Staaten frei.
Zusätzlich begünstigt wurde das Vorhaben durch das Scheitern der zeitgleich tagenden vierten Außenministerkonferenz in Moskau. Auch auf dieser Konferenz konnten sich die Westalliierten, allen voran die Amerikaner, und die Sowjetunion nicht auf eine gemeinsame Deutschlandpolitik einigen.
Die Planungen zur Durchführung einer amerikanischen Unterstützung für Europa wurden nun eingeleitet. Präsident Truman und Außenminister Marshall beauftragten George F. Kennan mit der Leitung des Planungsstabes. In einem ersten Memorandum legte dieser Grundzüge eines Europäischen Wiederaufbauprogramms (European Recovery Program, ERP) dar: Kennan zufolge hingen die Lösung ökonomischer Probleme in Deutschland, der europäische Wiederaufbau und die politische Stabilisierung Europas eng zusammen. Durch ihren Beitrag zum Wiederaufbau sollten die USA möglichst viele europäische Länder an sich binden, um dem sowjetischen Einfluss entgegenzutreten. Das Programm sollte auf vier bis fünf Jahre befristet sein. Nach Kennans Meinung sollte Europa dann so weit stabilisiert sein, dass es von auswärtiger Hilfe unabhängig sei. Die europäischen Staaten sollten innerhalb des Programms eng kooperieren und schließlich eine politische Gemeinschaft bilden. Das Wiederaufbauprogramm sollte in erster Linie für die westeuropäischen Staaten bestimmt sein, aber die Tschechoslowakei und andere Länder des kommunistischen Einflussbereichs könnten einbezogen werden.
Am 23. Mai 1947, folgte das zweite Memorandum des Planungsstabes. Hier wurde der Vorschlag für das Wiederaufbauprogramm erweitert und näher begründet. Die amerikanische Regierung solle mit den Staaten Europas ein Europäisches Wiederaufbauprogramm aufstellen, das durch Auslandshilfe unterstützt werden müsse. Dabei sollten nicht nur die Verbündeten der Vereinigten Staaten, sondern alle Staaten Europas einbezogen werden. Als Plattform wurde die Einrichtung der „Economic Commission for Europe“ vorgeschlagen, die als Unterorganisation der Vereinten Nationen agieren solle. Außerdem sprach der Planungsstab nun eine konkrete Empfehlung zur Schaffung eines Europäischen Wiederaufbauprogramms aus. Unabhängig von Kennans Planungsstab stellte William Clayton am 27. Mai 1947 ein eigenes Modell eines Europäischen Aufbauprogramms vor. Clayton betonte den wirtschaftlichen Aspekt des Programms stärker als der Stab des Außenministeriums. Nach seiner Empfehlung sollten die Rekonstruktion der innereuropäischen Arbeitsteilung und die Integration der europäischen Staaten in die Weltwirtschaft die Ziele der amerikanischen Europa-Politik sein. Doch Clayton befürchtete ähnlich wie Kennan, dass in Europa ohne schnelle und substanzielle Hilfe ein wirtschaftliches, politisches und soziales Chaos ausbrechen würde.
Es wurde eine Rede entworfen, die eine Synthese aus den Memoranden Kennans und dem Vorschlag Claytons darstellte. Marshall nutzte eine Einladung der Harvard Universität am 5. Juni 1947, um das Programm der Öffentlichkeit zu präsentieren.
Der US-Außenminister schlug vor, dass die USA und die europäischen Regierung gemeinsam ein Europäisches Wiederaufbauprogramm initiieren sollten, um den Kreislauf von Mangel und Abhängigkeit zu durchbrechen. Die Initiative für das Programm müsse aber von den Europäern ausgehen, wobei die Vereinigten Staaten „freundschaftliche Hilfe“ bei der Formulierung des Programms leisten und die Umsetzung durch Auslandshilfe unterstützen würden.
Reaktionen in Europa
Die Reaktionen der europäischen Staaten auf diese Rede waren unterschiedlich. Großbritannien und Frankreich wurden als erste europäische Staaten näher über die inhaltlichen Aspekte des Programms informiert. Großbritannien wollte aber unter Hinweis auf den Commonwealth und die Last, die es bei der wirtschaftlichen Stabilisierung Deutschlands trug, nicht bloßer Subventionsempfänger unter vielen, sondern Mitveranstalter und Partner der USA sein. Frankreich bekundete sein Interesse an der Teilnahme ebenso wie – zur Überraschung aller – die Sowjetunion. Bulgarien, Ungarn, und die Tschechoslowakei bekundeten genauso großes Interesse an Marshalls Plan wie die meisten westeuropäischen Länder.
Doch schon die Pariser Konferenz (27. Juni bis 2. Juli 1947) der drei europäischen Großmächte Großbritannien, Frankreich und Sowjetunion wurde ergebnislos abgebrochen. Die sowjetische Regierung zeigte sich zwar an einer amerikanischen Wirtschaftshilfe interessiert, wollte aber die amerikanische Auflage zur Zusammenarbeit aller europäischen Staaten nicht akzeptieren, da sie die Souveränität der Sowjetunion in Gefahr sah. Der sowjetische Außenminister Molotow favorisierte die Konzeption eigener nationaler Wiederaufbaupläne, die dann gemeinsam den USA vorgestellt werden sollten. Die Außenminister Großbritanniens und Frankreichs zeigten sich jedoch nicht kompromissbereit. Das Scheitern der Drei-Mächte-Konferenz hatte erhebliche politische Bedeutung. Aus dem Vorschlag Marshalls zu einem gemeinsamen europäischen Programm war ein westeuropäisches Programm mit antisowjetischer Stoßrichtung geworden.
Auf dem Weg zum European Economic Cooperation Act
Trotz Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich des Marshall-Plans luden die britische und französische Regierung am 4. Juli 1947 insgesamt 22 europäische Staaten zu einer Konferenz nach Paris ein. Hier sollte ein Programm für den europäischen Wiederaufbau vorbereitet werden. Aber auf sowjetischen Druck hin sagten Polen, Albanien, Bulgarien, Finnland, Jugoslawien, Rumänien, Tschechoslowakei und Ungarn, dass sie nicht an der Konferenz teilnähmen.
So bildeten am 12. Juli 1947 16 europäische Staaten in Paris das „Committee of European Economic Cooperation“ (CEEC), das eine Antwort auf Marshalls Vorschlag formulieren und ein Programm zur europäischen Rekonstruktion erarbeiten sollte. Die Kommission bestand aus Vertretern der teilnehmenden europäischen Staaten. Die westlichen Besatzungszonen Deutschlands waren nicht durch die Besatzungsmächte vertreten, der Wiederaufbau Westdeutschlands wurde offiziell als wesentliches Element der Planungen anerkannt.
Im Schlussbericht der CEEC wurden u. a. die Steigerung der Produktion, die Stabilisierung der Währungen und der Staatsfinanzen und die Kooperation zwischen den teilnehmenden Ländern als Ziele eines Europäischen Wiederaufbauprogramms genannt. In einem besonderen Votum wurde betont, dass der Wiederaufbau der westdeutschen Wirtschaft ein integrierter Bestandteil ihres Programms wäre, und dass für Westdeutschland die gleiche Politik des ökonomischen Wachstums und des außenwirtschaftlichen Gleichgewichts maßgeblich sein sollte wie für die anderen europäischen Staaten.
Am 3. April 1948 wurde die Auslandshilfe zum Europäischen Wiederaufbauprogramm beschlossen. Der „Economic Cooperation Act“, wie das Gesetz hieß, sollte eine Unterstützung von ungefähr 17 Milliarden Dollar umfassen, die überwiegend als Schenkung und teilweise als Kredit zu leisten sein sollten.
Zur Durchführung des Europäischen Wiederaufbauprogramms, das jetzt offiziell „European Recovery Program“ hieß, wurde die „Economic Cooperation Administration“ (ECA) installiert. Diese sollte mit allen europäischen Teilnehmerländern parallel zu den diplomatischen Vertretungen der USA bilaterale Abkommen schließen, in denen Bedingungen und Auflagen der Auslandshilfe festgehalten werden sollten.
Der Marshallplan – Ausmaß und Wirkung
Die Entstehung des Marshall-Plans war im Wesentlichen von zwei Faktoren abhängig. Zum einen sollte damit die wirtschaftliche Krise Europas behoben werden und zum anderen sollte dieser Plan als Instrument der amerikanischen „Containment-Politik“ (Politik der Eindämmung des sowjetischen Machtbereichs) fungieren.
Mit der Absage der sowjetischen Regierung an den Marshall-Plan und der erzwungenen Ablehnung der osteuropäischen Staaten war die sowjetische Europa-Strategie, den Aufbau eines Westblocks zu verhindern, praktisch gescheitert. Die kommunistische Führung hatte die für den europäischen Wiederaufbau erforderliche Kooperation als unvereinbar mit ihrer Kontrolle über den osteuropäischen Raum betrachtet. Nun waren die europäischen Staaten außerhalb des sowjetischen Einflussbereichs, die mehrheitlich gegen eine Ost-West-Spaltung waren, de facto gezwungen, an der Bildung eines westeuropäischen Blocks mitzuwirken. Nur so konnten sie in den Genuss der benötigten amerikanischen Gelder kommen. So versuchte nun auch die Sowjetregierung die Beziehungen in ihrem Einflussbereich zu institutionalisieren. Mit dem auf Betreiben Stalins gegründeten „Kommunistischen Informationsbüro“ (Kominform) und dem als Pendant zum ERP im Januar 1949 installierten „Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe“ (RGW), denen die osteuropäischen Staaten angehörten war die wirtschaftliche und folglich auch politische Teilung Europas vollendet.
Im Rahmen des ERP wurden bis zur Mitte des Jahres 1952 Lebens- und Düngemittel, Roh- und Treibstoffe, Maschinen und Medikamente im Wert von ca. 13 Milliarden Dollar an die westeuropäischen Staaten geliefert. An Westdeutschland und Berlin (West) gingen Güter im Wert von etwa 1,6 Milliarden Dollar.
Das Angebot Marshalls war zunächst als Mittel gedacht, den Wiederaufbau Westdeutschlands als Kernstück des europäischen Wiederaufbaus politisch akzeptabel zu machen. Darüber hinaus sollte der Wiederaufbau der europäischen Region die USA vor sowjetischer Expansion schützen und Europa als Absatz- und Handelspartner der Vereinigten Staaten wiederherstellen. Dem Marshall-Plan wird in der Forschung einhellig die zentrale Bedeutung für die Rückkehr Deutschlands in die internationale Politik und in den Welthandel sowie für die Bildung des internationalen Bezugsrahmens für die mit ihm vorprogrammierte spätere Westintegration der Bundesrepublik zugeschrieben. Außerdem wollten die USA durch ihr wirtschaftliches Engagement in Europa ihren Einflussbereich auf dem Kontinent markieren und eine separate Ostpolitik der Bundesrepublik verhindern. Es gibt die Ansicht, dass das ERP durch seine Schutzfunktion vor sowjetischer Expansion den Ost-West-Konflikt verschärft hätte. Allerdings ist diese Interpretation etwas differenziert zu sehen, da die USA durch ihr ERP-Angebot an die UdSSR diese zumindest offiziell auch einbinden wollte. Fest steht aber, dass durch die Nichtteilnahme der osteuropäischen Staaten am ERP-Programm der erste Schritt zur Teilung Europas getätigt wurde. Der Marshall-Plan dient heutzutage als Vorbild für Hilfsprogramme auf der ganzen Welt. Dabei wird vergessen, dass „Hilfe zur Selbsthilfe“ für ihren Erfolg besondere Ausgangslagen bedarf, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg in Westeuropa vorlagen.
Autor: Guido Schorr
Literatur
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Buchheim, Christoph/ Borchardt, Knut: Die Wirkung der Marshallplan-Hilfe in Schlüsselbranchen der deutschen Wirtschaft, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 35, 1987, S. 317-347.
Dulles, Allen Welsh: The Marshall plan, Providence, 1993.
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Herbert Ulrich / Axel Schildt: Kriegsende in Europa. Essen 1998.
Loth, Wilfried: Die doppelte Eindämmung. Überlegungen zur Genesis des Kalten Krieges 1945-1947, in: HZ 238 (1984), S. 611-631.
Maier, Charles S. (Hg.): The Marshall Plan and Germany : West German development within the framework of the European recovery programme, New York 1991.
ders./ Bischof, Günter (Hgg.): Deutschland und der Marshall-Plan, Baden-Baden 1992.
Schröder, Hans-Jürgen (Hg.): Marshallplan und westdeutscher Wiederaufstieg. Positionen – Kontroversen, Wiesbaden 1990.
Weber, Jürgen: Das Jahr 1949 in der deutschen Geschichte. Die doppelte Staatsgründung. München 1997.
Links
http://www.trumanlibrary.org/whistlestop/study_collections/marshall/large/index.php – Truman Presidential Museum & Library (Fotos, Dokumente und museumspädagogische Seiten zum Marshall-Plan).
http://www.aeiou.at/aeiou.film.o/o243a – Österreichisches Kulturinformationssystem: MPEG-Datei (3,1 MB) – US-Außenminister George C. Marshall vertritt den Plan für sein Hilfsprogramm vor dem Kongreßausschuß, 1948.
Marshall-Plan-Werbung in Österreich und West-Deutschland, in: Günter Bischof/Dieter Stiefel, „80 Dollar“. 50 Jahre ERP-Fonds und Marshall-Plan in Österreich 1948-1998, Wien 1999, S. 315-342.