Die deutsche Nachkriegszeit ruft bei vielen ein Bild von Neuanfang und Wiederaufbau ins Gedächtnis. Der deutsch-amerikanische Autor und Historiker Werner Sollors erzählt in seinem Buch Die Versuchung, zu verzweifeln eine andere Geschichte der 1940er Jahre. Keinen Erfolgsmythos, sondern ein Bild vom Leben in Deutschland, das nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts von Verzweiflung geprägt ist.
Lächelnde schwarze Soldaten mit ihren lässigen Körperhaltungen, vorbeirauschende Jeeps, Musik im Radio und der erste Kaugummi prägten und faszinierten Werner Sollors seit Kindertagen. Sollors, geboren 1943 und selbst aufgewachsen im Deutschland der Nachkriegszeit, erinnert sich in autobiographischen Einschüben an die amerikanische Besatzung, an die Freundlichkeit der schwarzen GIs und an das Spielen zwischen Trümmerhaufen. Diese Erinnerungen veranlassten ihn, die amerikanische Kultur als Student und Wissenschaftler zu erforschen. Sein Buch sollte eine emphatische Studie über die amerikanische Besatzung im Nachkriegsdeutschland und die Verbreitung der amerikanischen Kultur in Westeuropa in den 1940ern werden. Doch im Laufe seiner Recherche nahm seine Arbeit eine ganz andere, für ihn unerwartete, düstere Richtung. Sollors macht Ernst mit der These, dass Kunst die Wirklichkeit am besten darstellt, indem er in Tagebüchern, Briefen, Fotografien, zeitgenössischen Reportagen und Essays sowie belletristischen Texten und Filmen Geschichten und Schicksale aus den ersten Jahren der Besatzung präsentiert. Zum Beispiel die eines Holocaust-Überlebenden, dessen Lebensweg über die Fotografie eines kleinen Jungen, der neben Leichen aus den befreiten Lagern eine Straße entlang geht, aufgespürt wird. Es kommen Autoren wie Hans Habe und Wolfgang Koeppen zu Wort, aber auch die anonyme Autorin eines Tagebuchs, das von Vergewaltigungen deutscher Frauen in Berlin berichtet. Bild-Reportagen von Tony Vaccaro und Robert Capa oder Stig Dagermans Reisebericht dokumentieren das Leben in zerstörten Städten und die Zustände der Vertriebenen. Das Buch beschreibt die Probleme der Entnazifizierung und die Behandlung der Besatzungskinder deutscher Frauen und schwarzer GIs. Es erzählt traumatische Geschichten der Nachkriegswelt, handelt aber auch von dem Versuch, mit Humor die „Versuchung, zu verzweifeln“ zu bewältigen.
Sollors, Werner: Die Versuchung, zu verzweifeln. Geschichten aus den 1940er-Jahren. Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Sabine Bayerl 2017. X, 398 Seiten, 35 s/w Abbildungen, Geb. € 24,– ISBN 978-3-8253-6650-6