Sowohl wissenschaftliche Abhandlungen über die nationalsozialistischen Konzentrationslager als auch autobiografische Schriften von ehemals dort Inhaftierten lassen keinerlei Zweifel daran, dass diese Lager Orte des Grauens waren. Die Opfer, von ihren Peinigern als rassisch, politisch, religiös oder in anderer Weise minderwertig und unerwünscht qualifiziert, sollten in den Lagern ihrer Würde beraubt, entmenschlicht und schließlich getötet werden. Der physischen Vernichtung ging in der Regel die psychische Zerstörung voraus; weder Körper noch Geist, weder Individualität noch Vergesellschaftung waren dort geduldet. Paul Martin Neurath schreibt dazu in seiner bereits 1943 an der Columbia University of New York eingereichten Dissertation[1] über seine Erfahrungen und Beobachtungen in den Lagern von Dachau und Buchenwald:
„Ein Mensch wird ins Konzentrationslager gesteckt als ein Mittel, ihn aus der menschlichen Gesellschaft herauszuschneiden wie ein Stück faules Fleisch aus dem Körper. Er soll niemanden haben, mit dem er reden, und niemanden, dem er zuhören kann. Sein Leben soll, solange man es ihm lässt, nur noch ein physisches Dahinvegetieren sein, ohne Erinnerungen an die Vergangenheit, ohne Sinn in der Gegenwart und ohne Ziele in der Zukunft. Er soll nichts sein als ein Rädchen im riesigen Getriebe des Nazi-Terrors, niedergehalten von anderen Rädchen und dem Gewicht der ganzen Maschinerie, selten repariert, aber benutzt, bis es verschlissen ist und bis das, was einmal ein Individuum war und jetzt nur noch eine Nummer ist, endgültig aus dem Bestand gestrichen wird.“
In den straff organisierten Konzentrationslagern verwalteten nationalsozialistische Bürokraten die inhaftierten Menschen als Material und organisierten penibel deren Misshandlung und Entwürdigung mit dem Ziel, sie unbrauchbar zu machen und zur endgültigen Vernichtung freizugeben. Die zu diesem Zweck erdachten Schikanen und Qualen kannten keinerlei Grenzen. Nach dem Willen der Nationalsozialisten sollten in den Konzentrationslagern die Gesetzmäßigkeiten des normalen Lebens demonstrativ keine Geltung besitzen. So hat die grausame Behandlung der Häftlinge zusammen mit der strikten Isolierung von der Außenwelt und der durch verschiedene Maßnahmen zerstörten biografischen Kontinuität bei den Inhaftierten dazu geführt, dass sie die Konzentrationslager als eine Art Gegenwelt erlebten.
„Da es eine der Hauptaufgaben des Konzentrationslagers ist, den Häftling als Mensch zu brechen, werden ihm die zwei der obersten Vorrechte eines Menschen entzogen: das Recht zu erwarten, dass in der Art und Weise, wie er behandelt wird, eine gewisse Vernunft waltet, und das Recht, sein eigenes Schicksal durch vernünftiges Verhalten zu beeinflussen. Stattdessen ist er einer vollkommen willkürlichen Behandlung ausgesetzt.“ (Neurath)
Diese Behandlung entsprach schlechthin den Wertvorstellungen der Nationalsozialisten; die Inhaftierten indes empfanden dies als eine Umkehrung der Vorstellung vom Menschen und aller herkömmlichen Werte. Nicht zufällig wird in diesem Zusammenhang häufig von einer ‚verkehrten Welt’ gesprochen und der Begriff ‚Hölle’ gebraucht. Das von den Nationalsozialisten durchgeführte gigantische Experiment der Entmenschlichung ihrer Gegner und aller übrigen Unerwünschten (die von ihnen ohnehin als Untermenschen betrachtet und mit Metaphern aus der Welt der Ungeziefer bedacht wurden) erschien den Inhaftierten, als sollten sie hier in wilde Tiere verwandelt werden, die sich gegenseitig bekämpfen und zerfleischen.
Auch wenn es unter diesen Prämissen zynisch erscheinen mag, so lässt sich doch bei genauerem Hinsehen feststellen, dass es ein soziales Leben in den Konzentrationslagern gab, das sich an gesellschaftlichen Vorbildern orientierte.
Dabei sind drei Ebenen der Sozialität zu unterscheiden:
Als erste und massiv dominierende Ebene sozialer Praxis sind die offiziell von der SS geschaffenen Strukturen zu nennen, die durch ihre straffe Organisation als Parodie oder Karikatur militärischer Ordnung angesehen werden können. Zählappelle, Rapport erstatten, Tragen und Pflegen einer Uniform, Aufmarschieren mit Marschmusik, militärisches Grüßen usw. sind hier beispielsweise als charakteristische Elemente zu nennen. Diese ‚bewährte Ordnung’ schaffte Übersicht über die Häftlingsmassen und erleichterte ihre Handhabbarkeit. Zugleich offenbarte der militärische Drill das ganze Ausmaß an Jämmerlichkeit der äußerlich und innerlich herunter gekommen Häftlingsgestalten, gab sie der Lächerlichkeit preis und rechtfertigte aufs Neue die abgrundtiefe Verachtung ihrer Peiniger.
Als zweite Handlungsebene gab es eine gewisse Grauzone, die zwischen Missachtung strengster Lagervorschriften durch die Häftlinge und der gelegentlichen stillschweigenden Duldung dieser Verstöße durch die SS anzusiedeln ist (Neurath bezeichnet dies als „vergessene Regeln“). Zu nennen sind hier beispielsweise die im Schatten der Lagerkontrolle von den Häftlingen organisierten kulturellen Aufführungen, die teilweise von der SS geduldet und zuweilen sogar von ihr besucht wurden. Besonders bekannt sind solche Beispiele aus dem Lager Theresienstadt; es gab sie allerdings auch in anderen Lagern, sogar in Auschwitz. Da sich die SS jederzeit dieser Häftlings-Aktivitäten bemächtigen konnte und dabei im Strafen wie im Belohnen völlige Willkür walten ließ, konnten diese Handlungsoptionen für die Inhaftierten sowohl identitätsstärkend (wenn sie unentdeckt bzw. ungestraft blieben) als auch identitätszerstörend wirken (wenn sie von der SS missbraucht oder bestraft wurden). Außerdem sei an die Ökonomie der Lager erinnert, die durch die Organisation der SS geradezu notwendig war, um überhaupt alle Anforderungen erfüllen zu können. So gab es beispielsweise die Vorschrift, stets alle Knöpfe an der Jacke zu haben, ohne dass es bei Verlust für die Häftlinge eine reguläre und damit straffreie Möglichkeit gab, Ersatz zu beschaffen. Dies beförderte einen regen Tauschhandel, der – an der Lagerorganisation vorbei – den Gesetzen der Ökonomie folgte. Im Kapitel „Diesseits von Gut und Böse“ in Primo Levis Erstlingswerk „Ist das ein Mensch?“[2] über seine Haft in Auschwitz findet sich dazu eine atemberaubende Darstellung der Lagerökonomie. Levi beschreibt regelrechte ‚Haussen’ und ‚Baissen’ der Lagerbörse in Abhängigkeit bestimmter Gerüchte oder Ereignisse. Auch diese Bemühungen waren dazu geeignet, die Inhaftierten dem Hohn der Lageraufsicht preiszugeben, denn es standen Höchststrafen darauf, wenn man beim Eintauschen solch überlebenswichtiger Kleinigkeiten erwischt wurde und den SS-Offizieren und Wachen in diesem Augenblick der Sinn nach Strafen stand.
Abgesehen von diesen beiden gab es als dritte und für die KZ-Häftlinge bedeutendste Ebene der Sozialität ein im Verborgenen stattfindendes und teilweise unter hohen Risiken betriebenes soziales Leben der Inhaftierten. Offenbar empfanden sie dies als besonders notwendig, wenn sie sich selbst nicht völlig aufgeben wollten. Diese heimliche soziale Welt der Lager war ein Mittel durchzuhalten und der Vernichtung etwas entgegenzusetzen. Das Bemühen um soziale Kontinuität war als Widerstand gegen den eigenen Tod zugleich eine Gelegenheit zum Widerstand gegen die Ziele der Nationalsozialisten. „Es war ein Triumph nicht des menschlichen Geistes, sondern der menschlichen Existenz“ (Neurath). Auffallend ist dabei, dass den widrigen und vernichtenden Umständen zum Trotz gleichermaßen körperbasierte wie intellektuelle soziale Praktiken dazu beitrugen, dass sich die Inhaftierten weiterhin als Individuen und Teil einer Gesellschaft fühlen konnten. So gab es beispielsweise Gespräche und Diskussionen über gemeinsame Themen aus der eigenen Vergangenheit, aber auch geradezu ‚rituelle Inszenierungen’ mittels gewohnter körperlicher Praktiken, die dadurch für die Inhaftierten den Widerstand gegen die Machtkonstellationen zum Ausdruck brachten. Neurath erwähnt zum Beispiel die Wiener Juden in Dachau, die als „gemütliche Österreicher“ mit einer Art „Massenpassivität“ das berüchtigte Dachauer Arbeitstempo herunter schraubten und so einen Sieg über die SS errangen. „Sie waren Helden im Festhalten an ihrer Lebensweise“ (Neurath). Für diese Art der Vergesellschaftung und die damit verbundene Herstellung von Individualität war soziale Differenzierung besonders bedeutsam; sie orientierte sich an den aus der individuellen sozialen Vergangenheit überkommenen und geläufigen Mustern und schloss auch traditionelle Geschlechterrollen nicht aus. „Der Unterschied zwischen den beiden Gesellschaften, der Gesellschaft außerhalb und der Gesellschaft innerhalb des Lagers, scheint […] eher ein Unterschied der Verhaltensregeln zu sein als ein Unterschied der grundlegenden Ideen.“ (Neurath)
Für die Inhaftierten der Konzentrationslager barg dies einen minimalen Spielraum, sich unter Beachtung der hier geltenden „Verhaltensregeln“ weiterhin als Mensch zu fühlen: als Individuum und als Mitglied einer menschlichen Gesellschaft, in der die „grundlegenden Ideen“ auch weiterhin Bestand hatten. Es sieht so aus, als sei die Sozialität des Menschen etwas, das tatsächlich erst mit seinem Tode erlischt und im Leben sogar unter widrigsten Umständen eine geradezu treibende Kraft darstellt. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu bezeichnet diese Art ‚Trieb’ zum Sozialen als „soziale libido“. In einer Welt, in der alle Verbindungen zur Außenwelt und zur individuellen, sozialen Vergangenheit scheinbar abgeschnitten waren, wie es in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern der Fall war, bildete diese soziale libido den Kern alles Menschlichen, der verhinderte, dass die angestrebte Dehumanisierung der KZ-Häftlinge gelingen konnte. Das von den Nationalsozialisten durchgeführte gigantische Experiment der Entmenschlichung ihrer Gegner und aller übrigen Unerwünschten kann vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis zweifellos als misslungen betrachtet werden!
Autorin: Maja Suderland. Diplom-Soziologin; wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Technischen Universität Darmstadt.
Literatur
Bauman, Zygmunt (1992): Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt. [Modernity and the Holocaust 1989]
Bourdieu, Pierre (1987): Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. [Le sens pratique 1980]
Daxelmüller, Christoph (1998): Kulturelle Formen und Aktivitäten als Teil der Überlebens- und Vernichtungsstrategie in den Konzentrationslagern. In: Herbert, Ulrich (Hg.) (1998): Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur. Göttingen: Wallstein, Bd. 2: S. 983-1005.
Elias, Ruth ([1990] 2000): Die Hoffnung erhielt mich am Leben. Mein Weg von Theresienstadt und Auschwitz nach Israel. München, Zürich: Piper.
Gebauer, Gunter und Christoph Wulf (1998): Spiel – Ritual – Geste. Mimetisches Handeln in der sozialen Welt. Reinbek: Rowohlt.
Klüger, Ruth ([1992] 1999): weiter leben. Eine Jugend. München: dtv.
Levi, Primo (2000): Ist das ein Mensch? Ein autobiographischer Bericht. München: dtv. [Se questo è un uomo 1947]
Levi, Primo (1990): Die Untergegangenen und die Geretteten. München: dtv. [I sommersi e i salvati 1986]
Neurath, Paul Martin (2004): Die Gesellschaft des Terrors. Innenansichten der Konzentrationslager Dachau und Buchenwald. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. [Social Life in the German Concentration Camps Dachau and Buchenwald 1951]
Suderland, Maja (2004): Territorien des Selbst. Kulturelle Identität als Ressource für das tägliche Überleben im Konzentrationslager. Frankfurt/M.; New York: Campus.
Anmerkungen
[1] Paul Martin Neurath: Die Gesellschaft des Terrors. Innenansichten der Konzentrationslager Dachau und Buchenwald. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2004.
[2] Primo Levi: Ist das ein Mensch? Ein autobiographischer Bericht. München: dtv, 2000 [Se questo è un uomo; 1947]