„Macht mir den rechten Flügel stark“ waren die letzten Wort des Grafen Alfred von Schlieffen, des geistigen Schöpfers des sog. „Schlieffen-Plans“. Dieser wurde von ihm in der Eigenschaft als Chef des Generalstabes 1905 entwickelt, in der Annahme, dass sich das Deutsche Reich im Falle eines Krieges zwei Fronten, im Westen gegen Frankreich und im Osten gegen Russland gegenübersah. Die Gefahr eines Zweifrontenkrieges bestand seit dem Jahr 1890, als der Rückversicherungsvertrag mit Russland nicht verlängert wurde. Russland ging daraufhin ein Bündnis mit Frankreich ein.
Die Einschätzung von Schlieffens war aufgrund der am Anfang des 20. Jahrhundert bestehenden Bündnispolitik, bestehend aus den Mittelmächten mit dem Deutschen Reich, Österreich-Ungarn und Italien und der Entente mit Frankreich, England, Russland durchaus berechtigt.
Der Schlieffen-Plan sah im Falle eines Zwei-Fronten-Krieges folgende Strategie vor: Es war vorgesehen, dass im Kriegsfalle zuerst der Großteil der Deutschen Armeen gegen Frankreich eingesetzt werden sollte, wohingegen die russische Front von nur einem kleinen Teil gehalten werden sollte. Geplant war also, bei einem zu erwartendem Zweifrontenkrieg jeweils zwei einzelne Fronten aufzubauen. Hierfür sah der Plan nach einer Mobilisierung vor, dass die deutschen Truppen in ca. vier Wochen unter Verletzung der belgischen Neutralität durch Belgien marschierten und dann die französischen Armeen zwischen Marne und Seine in einer Schlacht besiegten. Gleichzeitig erfolgte eine große Zangenbewegung, um Paris vom Rest des Landes abzuschneiden. Für diese Aktion war es notwendig, dass der rechte Flügel der Deutschen Armee so stark wie möglich war. So sollten dann die 1. und 2. Armee von Lüttich durch Belgien marschieren und in einem weiten Bogen westlich und östlich Paris umgehen. Somit wäre ein Angriff der 1. Armee gegen die französischen Truppen aus dem Rücken heraus möglich gewesen. Damit der Plan funktionierte, musste ein Sieg gegenüber Frankreich innerhalb von vier Wochen erfolgen.
Am 3. August erklärte Deutschland Frankreich den Krieg. Gemäß dem Schlieffen-Plan, der eine Modifizierung durch Helmuth von Moltke, dem Chef des Generalstabes, erfuhr, setzten sich am 3. August 76 Divisionen mit insgesamt 1,5 Millionen Soldaten im Westen gegen Frankreich in Bewegung. Zur Verteidigung Ostpreußens standen im Osten lediglich 9 Divisionen zur Verfügung. Für den Fall einer britischen Landung standen in Schleswig-Holstein 2 Divisionen bereit.
Zur Verteidigung des Landes mobilisierte Frankreich 88 Divisionen, die noch von 100.000 Mann des britischen Expeditionskorps ergänzt wurden.
Die französischen Angriffe in Elsaß – Lothringen konnten die deutschen Truppen in den Schlachten von Mühlhausen am 9. August sowie von Lothringen vom 20. bis 22. August erfolgreich abwehren.
Das Gros der deutsche Armee marschierte in das neutrale Belgien ein. Das britische Ultimatum vom 4. August, in dem der sofortige Rückzug aus Belgien gefordert wurde, ließ das Deutsche Reich unbeantwortet. Daraufhin erklärte England dem deutschen Kaiserreich den Krieg.
Die deutschen Truppen kamen zunächst sehr schnell voran. Bei Lüttich wurden die Deutschen aufgehalten. Die Stadt selbst war unbefestigt, jedoch umgaben zwölf angelegte Forts mit 400 Geschützen und 40.000 Mann Besatzung die Stadt. Dabei waren die Forts so gebaut worden, dass sie allen aktuellen Geschützen Stand halten konnten. Die Stadt selbst fiel bereits sehr schnell in die Hand der Deutschen. Erst als die Deutschen zwei schwere Artilleriegeschütze, von Krupp „die dicke Berta“ und von Skoda „die schlanke Emma“ einsetzten, konnten die Festungen besetzt werden. Trotzdem kamen die Deutschen Armeen sehr schnell vorwärts und legten innerhalb von drei Wochen eine Strecke von über 400 Kilometer zurück.
In Belgien kam es auch immer wieder zu Übergriffen deutscher Truppen gegenüber der Zivilbevölkerung. Dieses Handeln wurde von Gegnern der Deutschen in der Propaganda ausgenutzt, um die Angst vor den Deutschen zu schüren: „Die Hunnen kommen“.
Bereits Anfang September war halb Frankreich, – Lille, Cambrai, Arras, Amiens und Reims waren gefallen -, von den Deutschen besetzt.
Deutsche Truppen überschritten die Sambre und die Somme sowie die Oise und die Aisne und marschierten bedrohlich auf Paris zu. Spitzen der deutschen Armeen stand nicht weniger als 20 Kilometer vor Paris. Die französische Regierung floh am 2. September aus Paris. Ebenso verließen fast 500.000 Einwohner die Stadt. Joffre dachte in dieser Situation darüber nach, Paris aufzugeben und sich mit seinen Truppen hinter die Seine zurückzuziehen. Die deutschen Truppen trennten jetzt jedoch nur die Marne von einem schnellen Sieg über Frankreich.
Bisher verliefen die deutschen Truppenbewegungen genauso wie der Schlieffen-Plan es vorsah. Doch dann ist von dem ursprünglichen Plan abgewichen worden. Erst wurden zwei Armeekorps des wichtigen rechten Flügels nach Russland verlegt, dann marschierten die Truppen nicht um Paris herum, sondern machten einen engen Bogen östlich an der Stadt vorbei und stießen weiter an die Marne vor.
Was dann in der zweiten Septemberwoche an der Marne und ihren Nebenflüssen passierte, wird als „Wunder an der Marne“ bezeichnet.
Generaloberst Alexander von Kluck zog Teile seiner 1. Armee zurück. Es entstand eine ca. 45 Kilometer breite Lücke in der deutschen Front, woraufhin Generaloberst Karl von Bülow ebenfalls die ihm unterstellte 2. Armee zurücknehmen musste. Dadurch gab es keinen zusammenhängenden deutschen Frontverlauf mehr. Die Gefahr eines französischen Durchbruchs, der Vernichtung einzelner Heeresteile oder sogar eine Umklammerung der gesamten deutschen Armee drohte. Zudem machten sich jetzt auch die Erschöpfung der Soldaten und der unzureichende Nachschub bemerkbar. Die Franzosen hingegen konnten frische und ausgeruhte Einheiten an der Front einsetzen, und weitere Soldaten wurden von Paris mit dem Taxi an die Front gefahren.
In die nun entstandene Lücke stießen in den folgenden fünf Tagen die französischen und englischen Truppen. Auf Befehl von Moltkes zog sich die deutsche Armee am 9. September bis an die Aisne zurück. Am gleichen Tag schrieb von Moltke: „Es geht schlecht […] Der so hoffnungsvoll begonnene Anfang des Krieges wird in das Gegenteil schlagen […] wie anders war es, als wir vor wenigen Wochen den Feldzug so glanzvoll eröffneten […] Ich fürchte, unser Volk in seinem Siegestaumel wird das Unglück kaum ertragen können.“ Nach der Schlacht erlitt von Moltke einen Nervenzusammenbruch und wurde durch Kriegsminister Erich von Falkenhayn abgelöst.
Den Deutschen gelang es wieder eine zusammenhängende Front zu bilden. Die französischen Angriffe konnten erfolgreich abgewehrt werden, und kamen bis zum 17. September völlig zum Erliegen. Mit dem Eingraben der deutschen Armee begann der Stellungskrieg. Der Schlieffenplan und somit auch die Hoffnung auf einen raschen Sieg waren gescheitert.
Autor: Christoph Dollar
Literatur
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