Die Regierungsübernahme der Nazis 1933 zwang die verschiedenen Strömungen im deutschen Judentum, eine einheitliche Front zu bilden. Die Differenzen über die Auslegung des Jüdischseins zwischen Assimilierten, Zionisten und Religiösen traten in den Hintergrund. Vorrangig war nun, die deutschen Juden auf eine neue Art des Lebens vorzubereiten. Es bedurfte es einer zentralen Stelle, die das gesamte deutsche Judentum repräsentierte und Verhandlungen mit den Behörden führen konnte. Diese Selbstorganisation der deutschen Juden bewirkte einen Bewußtseinswandel innerhalb des Judentums, der kennzeichnend ist für die Jahre zwischen 1933 und 1938, schließlich bewirkten die Selbstbesinnung und -bejahung des Judentums eine große Solidarität innerhalb der ausgestoßenen Gruppe.
Ein erster Schritt zur Entstehung einer jüdischen Dachorganisation war die Gründung des „Zentralausschusses für Hilfe und Aufbau“ am 13. April 1933. In ihm fanden sich zum ersten Mal die großen jüdischen Organisationen zur Zusammenarbeit bereit: der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, die Zionistische Vereinigung für Deutschland, der Hilfsverein der deutschen Juden, der Jüdische Frauenbund, der Preußische Landesverband Jüdischer Gemeinden, die Jüdische Gemeinde Berlin und die orthodoxe Agudas Israel. Zwar blieb der Zentralausschuß bis 1935 formal unabhängig von der Reichsvertretung, dennoch war er ein zentrales Organ der Arbeit der Dachorganisation. Seine wichtigste Aufgabe sah der Zentralausschuß darin, die Idee der Solidarität und Selbsthilfe innerhalb der jüdischen Gemeinschaft zu verbreiten. Er engagierte sich in der Wohlfahrtspflege, der Wirtschaftshilfe, der Berufsumschichtung, dem Schulwesen sowie der Vorbereitung und Organisierung der Emigration. Finanziert wurde die Arbeit durch Spenden, Abgaben der jüdischen Gemeinden und Zuwendungen ausländischer Hilfsorganisationen.
Die Reichsvertretung der deutschen Juden wurde am 17. September 1933 gegründet. Im wesentlichen standen hinter der Zentralorganisation des deutschen Judentums dieselben Gruppen, die auch im Zentralausschuss vertreten waren. Lediglich die Agudas Israel trat nicht der Reichsvertretung bei, dafür aber der einflussreiche Reichsbund jüdischer Frontsoldaten. Präsident der Reichsvertretung wurde Leo Baeck, der als Integrationsfigur der deutschen Juden galt. Geschäftsführender Vorsitzender war Otto Hirsch vom Centralverein. Der Vorstand setzte sich aus den Vertretern der jüdischen Verbände zusammen: drei Zionisten (von denen einer die religiöse Richtung vertrat); ein weiterer CV-Vertreter; einer für den Reichsbund jüdischer Frontsoldaten und zwei für die Vereinigung für das religiös-liberale Judentum. Die jüdischen Gemeinden und Landesverbände waren mit Sitz und Stimme im Beirat, dem parlamentarischen Gremium, vertreten. Neben den Arbeitsbereichen des Zentralausschusses betonte die Reichsvertretung ihre Aufgabe als Gesamtvertretung des deutschen Judentums gegenüber der NS-Regierung in politischen Fragen. Gerade dieser Vertretungsanspruch brachte der Reichsvertretung Kritik und Widerstand einzelner jüdischer Gruppen ein: Der Verband deutsch-nationaler Juden lehnte die Reichsvertretung ab, da an ihr Zionisten beteiligt waren; die Berliner Gemeinde wollte als größte jüdische Gemeinde in Deutschland weder Arbeitsbereiche an die Reichsvertretung abgeben, noch deren Führungsanspruch akzeptieren; orthodoxe Gruppen standen der Etablierung einer säkularen Behörde als oberste Führung der deutschen Juden skeptisch gegenüber, was noch durch die Tatsache verstärkt wurde, daß mit Leo Baeck ein liberaler Rabbi an deren Spitze stand; die Staatszionistische Organisation schließlich lehnte das Konzept von „Hilfe und Aufbau“ grundsätzlich ab und forderte statt dessen die Auflösung der jüdischen Gemeinschaft durch Emigration.
Da die Reichsvertretung durch die Initiative einzelner Organisationen entstanden war, wurde ihr vielfach ein Mangel an demokratischer Legitimation vorgeworfen. Zwar rechtfertigte sich die Dachorganisation damit, daß die in ihr zusammengefassten Gruppierungen den überwiegenden Teil der deutschen Juden repräsentierten, dennoch konnte sie sich nie ganz von diesem Makel befreien. Nach Erlass der Nürnberger Gesetze musste sich die Gesamtorganisation in „Reichsvertretung der Juden in Deutschland“ umbenennen. Im Juli 1938 wurde sie als „Reichsverband der Juden in Deutschland“ zu einer Zwangsorganisation, in der jeder in Deutschland lebende Jude Mitglied war. Ein Jahr später wurde sie zur „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ umgebildet. Während die Reichsvertretung weitgehend in Teilbereichen unabhängig arbeiten konnte, war die Reichsvereinigung nun völlig vom Willen der Behörden abhängig. Im Grunde handelte es sich bei der Reichsvereinigung um eine reine Marionettenorganisation, die gezwungen war, als Regierungsamt zu fungieren. Zwar bestand eine Kontinuität zwischen Reichsvertretung und Reichsvereinigung bezüglich ihrer Tätigkeitsfelder und der personellen Führung durch Baeck und Hirsch, aber nun standen nicht mehr die Interessen der jüdischen Selbstorganisation im Mittelpunkt, sondern jene des Regimes. Alle noch bestehenden jüdischen Organisationen und Gemeinden wurden zwangsweise in die Reichsvereinigung eingegliedert. Sie unterstand der Aufsicht des Reichsinnenministeriums und war gezwungen, dessen Anweisungen Folge zu leisten. Hierzu gehörten die Konfiszierung von jüdischem Besitz und ab dem Auswanderungsverbot vom Oktober 1941 auch die Vorbereitungen zur Deportation. 1943 wurde die Geschäftsstelle der Reichsvereinigung aufgelöst, ihr Vermögen beschlagnahmt und die letzten Mitarbeiter wurden in Konzentrationslager deportiert.
Autor: Axel Meier
Literatur
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Otto Dov Kulka, Deutsches Judentum unter dem Nationalsozialismus, Bd. 1: Dokumente zur Geschichte der Reichsvertretung der deutschen Juden 1933-1939, Tübingen 1997
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