Tomáṧ Krystlík (*1947 in Prag), in Deutschland 2009 bekannt geworden durch sein (mehrbändiges) Buch „Verschwiegene Geschichte“, firmiert in tschechischen Medien oft als „tschechisch-deutscher Schriftsteller“, was aus seiner Biografie erklärlich ist: Aus der kommunistischen Tschechoslowakei floh Krystlík eingangs der 1980-er Jahre in die Bundesrepublik, wo er beim Münchner Sender „Radio Freies Europas“ (RFE) tätig war. Als dieser 1995 nach Prag „umzog“, blieb Krystlik in Deutschland, was ihn nicht hinderte, einer der aktivsten und akribischsten Publizisten Tschechiens zu sein. Seine Hauptthemen sind tschechische Geschichtsmythen, tschechisch-deutsches (Nicht)Verhältnis etc., worüber er in Zeitschriften, Internetorganen (wie „Parlamentní listy“) und seinem Blog „časopis“ laufend schreibt. In letzterem erschien am 29. November 2020 sein Polen-Artikel „Poláci a ṧoa“, den Wolf Oschlies aus dem Tschechischen für ZbE übersetzte; er hat auch Krystlíks abschließendes Literaturverzeichnis um einige deutsche Titel zu Polen erweitert.
In hohem Maße beteiligten sich Polen an der Ermordung von Juden. In Jedwabne verbrannten sie am 10. Juli 1941 nach eigenen Angaben 340 Juden, nach deutschen Angaben 1.600. Polnische Amtsträger – „Granaten Polizei“ oder „dunkelblaue Polizei“, offiziell Polnische Polizei im Generalgouvernement (Policja Polska Generalnego Gubernatorstwa) – und polnische Zivilisten erschlugen auch anderswo allein Juden. Die polnischen Zivilisten hatten jedoch keine Schusswaffen und töteten Juden folglich mit allem, was sie zur Hand hatten: Stöcke, Steine, sie schlugen Köpfe ab und spalteten sie mit Beilen, sie begruben oder verbrannten Menschen bei lebendigem Leibe, warfen Säuglinge mit Mistforken in die Flammen. Bekannt wurde der Fall eines polnischen Magistratsbeamten, der in Ermanglung von Gewehr oder Revolver Juden die Köpfe mit einem Beil abschlug, sobald sie aus ihrem Versteck kamen. Bis Februar 1943 hatte die Polizei den Befehl, alle aufgegriffenen Juden abzuführen, später hatte sie „ohne Warnung zu schießen“.
Der neuaufgelegte zweibändige Sammelband „Weit ist die Nacht – Schicksale von Juden in ausgewählten Bezirken des okkupierten Polens“ (Dalej jest noc – Losy Zydów we wybranych powiatach okupowanej Polski), den das Warschauer „Zentrum für das Studium der Judenvernichtung“ im Jahr 2018 edierte, belegt, dass der Anteil der polnischen Bevölkerung an der Ermordung von jüdischen Nachbarn im Verlauf des Zweiten Weltkriegs größer war, als die polnische Öffentlichkeit einzugestehen vermag. Die im Sammelband erwähnten Fälle betreffen nur die Zeit seit 1943, da man Juden des Generalgouvernements aus Ghettos in Vernichtungslager und in besetzte Gebiete der UdSSR transferierte. Die überwiegende Mehrheit der Juden, die geflohen waren und sich verstecken wollten, kamen entweder durch die Hände der Polen um oder unter anderen Umständen. Das beweisen konkrete Fälle, die in dem Sammelband aufgeführt werden. „Das Verhältnis zwischen Juden, die Hilfe suchten, und erwiesener Hilfe war zwei zu eins“, schreibt Herausgeberin und Mitautorin Barbara Engelking. Von drei geflüchteten und Hilfe suchenden Juden bekam statistisch nur einer Hilfe, während die beiden anderen von Polen entweder eigenhändig ermordet wurden, eventuell denunziert oder den Behörden, der polnischen Polizei oder deutschen Armeeeinheiten ausgeliefert.
In ihrer Studie erwähnt sie ein Beispiel aus der Region Bielsk Podlaski, nahe der heutigen Grenze zu Belarus. Dort bestanden zu Kriegszeiten insgesamt 15 jüdische Ghettos mit rund 40.000 Insassen. Man nimmt an, dass von ihnen etwa 1.300 bis 2.000 Menschen den Holocaust überlebten. Nur bei 974 Personen konnten konkrete Berichte über ihr Schicksal verzeichnet werden. Von diesen haben nur 322 Menschen das Kriegsende erlebt, die übrigen kamen entweder durch polnische Aktivitäten ums Leben oder ähnliche Umstände. Bei den dokumentierten Zeugnissen zu Geflohenen oder Umgekommenen muss man oft damit rechnen, dass sie häüfig zugunsten der Polen geschönt waren – die Mehrheit der Polen wollte eben nicht die Wahrheit in ihrer ganzen Grausamkeit ansprechen.
Weitere Autoren und der Herausgeber des Sammelbandes Jan Grabowski erwähnen die Liquidation des Ghettos im Städtchen Węgrów, unweit des neu errichteten deutschen Vernichtungslagers Treblinka. Nur ein kleiner Teil der polnischen Einwohner des Städtchens versuchte, unter Einsatz des eigenen Lebens ihre ehemaligen jüdischen Mitbürger zu beschützen, die meisten ließen sich von den Nazis zur Mitarbeit heranziehen. Als die SS begann, das Ghetto zu liquidieren, „wussten alle Einwohner der Umgebung, wohin man die Juden bringt und was dort mit ihnen passiert. Den ganzen Tag hat die SS unter bereitwilliger Mithilfe der polnischen Einwohner Juden auf die offenen Ladeflächen von LKWs getrieben“. Rund 8.000 von ihnen hat man am Bahnhof in Waggons getan und fortgeschafft. Auf den Straßen von Węgrow blieben rund Tausend getötete Juden liegen. Polen raubten ihre Kleidung und brachen ihnen Goldzähne aus. „An die Zähne kam man mittels diverser Instrumente. Die Leute, die sich damit befassten, bekamen den Spitznamen »Dentisten«. Ihre Beute verkauften sie weiter über Vermittler“. In die Aktion zum Aufspüren versteckter Juden schalteten sich die Mitglieder polnischer Freiwilligenorganisationen ein, z.B. der Feuerwehr und ähnliche, dazu nichtorganisierte polnische Zivilisten. Die Motivation förderte ein halbes Pfund Zucker, das die Deutschen für jeden aufgespürten Juden versprachen. Der Feuerwehrmann Janiszewski gab zu Protokoll: „Ich habe den Toten Ohrringe und Fingerringe abgestreift und sie dem Polizeichef übergeben. Dafür erlaubte er mir, die von den Füßen ermordeter Jüdinnen abgezogenen Schuhe zu behalten. In diesen Schuhen ist später meine Frau gelaufen“. Von einem anderen Vorkommnis berichtete Zeuge Janiszewski: „Neben einer Leiche lag ein Gummigebiss mit einer Goldkrone. Die habe ich mit dem Spaten herausgebrochen und in der Hosentasche verborgen“.
Entdeckte Juden wurden aus ihren Verstecken zum städtischen Judenfriedhof gebracht, wo die Deutschen sie umbrachten. Auf diesem letzten Weg versuchten Polen, der Jüdin Fiszman die Ohren abzuschneiden, falls sie nicht sofort ihre Ohrringe hergäbe. Ihrer jüdischen Freundin neben ihr riefen Polen zu „Gib uns deine Schuhe“. Sie sagte dazu, ob sie nicht warten könnten, bis man sie ermordet habe. Ein Deutscher sorgte dafür, dass sie die Schuhe verlor und Polen sie nehmen durften (Engelkring – Grabowski, Pawlicka).
Nach dem Zweiten Weltkrieg dominierte im kommunistischen Polen eine restriktive Politik gegenüber den verbliebenen Juden. Von den restlichen 180.-240.000 Juden (von ursprünglich gut drei Millionen im Jahr 1939) haben nach den Nachkriegspogromen, besonders in Kielce 1946, offiziell bis zu 120.000 das Land verlassen. In plombierten Waggons der polnischen Eisenbahn wurden sie nach Triest gebracht, von dort mit Schiffen nach Haifa transportiert. Ab dem Ende der 1940-er Jahre behinderte der polnische Staat ihre Ausreise immer mehr, aber dennoch durften in den Jahren 1957 bis 1959 50.000 von ihnen emigrieren. Als Resultat antijüdischer Säuberungen von 1967 konnten eingangs der 1970-er Jahre nochmals ohne größere Probleme 25.000 nach Israel ausreisen. Dafür mussten sie eine Abgabe von 5.000 Zloty entrichten, was zwei anständigen Monatslöhnen entsprach, dazu noch „Rückerstattungen“ für die eigene Ausbildung, die des Ehepartners und der Kinder. Sie verloren automatisch die Staatsbürgerschaft und ihre Wohnungen und durften pro Person nur maximal 20 Bücher mitnehmen. In Polen verblieben rund 5.000 Juden (Pellar).
Literatura (TK):
Engelking, Barbara; Grabowski, Jan (eds.): Dalej jest noc. Losy Żydów w wybranych powiatach okupowanej (Weit ist die Nacht – Schicksale von Juden in ausgewählten Bezirken des okkupierten Polens), Polski Centrum Badań nad Zagładą Żydów, Warszawa 2018
Pawlicka, Aleksandra: Jak Polacy mordowali Żydów. Ta książka wstrząśnie naszą wiedzą historyczną (Wie die Polen Juden ermorderten. Dieses Buch erschüttert unsere Geschichtskenntnis), in: Polska Newsweek 16/2018, Warszawa 8. 4. 2018. http://www.newsweek.pl/polska/spoleczenstwo/jak-polacy-mordowali-zydow-okladka-newsweeka,artykuly,425799,1.html?src=HP_Section_2
Pellar, Štěpán: Hrdí orli ve smrtelném obklíčení. Polské stereotypizované vidění moderního světa (Stolze Adler in tödlicher Umzingelung. Die polnische stereotype Sicht der modernen Wel), Dokořán, Praha 2009
Snyder, Timothy: Black Earth: The Holocaust as History and Warning. Tim Duggan Books, New York 2015; česky: Černá zem. Holokaust – Historie a varování. Prostor, Praha 2015
Deutschsprachige Auswahlbibliographie (WO)
Baedeker, Hans: Das Generalgouvernement – Reisehandbuch, Leipzig 1943
Bingen, Dieter et.al. (Hrsg.): Länderbericht Polen, Bonn 2009
Broder, Henryk M.: Alkoholismus, Antisemitismus und Beleidigtsein – Nach dem Ein- tritt in die NATO und vor dem Beitritt zur EU: Polen bleibt polnisch, in: HMB 13.08. 2001
Du Prel, Max: Das Generalgouvernement, Würzburg 1942
Kuby, Erich: Als Polen deutsch war 1939-1945, Ismaning bei München 1986
Stehle, Hansjakob: Nachbar Polen, Erweiterte Neuausgabe, Frankfurt M. 1968
Wingendorf, Rolf: Polen – Volk zwischen Ost und West, Berlin 1939
Wirpsza, Witold: Pole Wer bist du? Frankfurt M. 1971
Wischnitzer, Mar: Die Juden in der Welt, Berlin 1935 (Polen S. 194-216)
Wood, E. Thomas et al:: Jan Karski – Einer gegen den Holocaust, München 1998