Die NS-Vergangenheit vergeht nicht. Das schließt aber nicht aus, dass die Formen der Erinnerung an den Nationalsozialismus und die Konsequenzen, die aus ihm gezogen werden, eine Geschichte haben und deutlichen Veränderungen unterliegen. Dies machen die Beiträge dieses Bandes, der aus einer Tagung des Arbeitskreises „Politik, Kultur, Sprache“ der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft hervorgegangen ist, auf unterschiedliche, aber alles in allem eindrucksvolle und überzeugende Weise deutlich.
Das Spektrum der Themen ist auf den ersten Blick sehr weit gespannt: Reinhard Wesel unternimmt eine Ehrenrettung für das Gedenken als Ritual, indem er nachzuweisen versucht, dass Riten für die Stiftung von gesellschaftlichem Zusammenhalt eine wichtige Rolle spielen. Das ist begrifflich anregend, aber was es für die Geschichte der deutschen Erinnerungskultur genau heißt, wäre erst noch zu erörtern. Birgit Schwelling stellt die Frage, wie aus den Volksgenossen der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft die Staatsbürger der Bundesrepublik wurden, und unterscheidet – gestützt auf empirisches Material – fünf typische Mentalitäten auf dem Wege in die Demokratie. Horst-Alfred Heinrich kommt bei der Auswertung von Befragungsdaten zu dem Ergebnis, dass der negative Bezug auf die NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik keineswegs zum Stützpunkt nationaler Identität geworden ist – wie vielfach behauptet werde -, sondern diese eher stört. Wolfgang Bergem diskutiert eine Reihe von kritischen Fragen, die an den unerwarteten Aufstieg der NS-Vergangenheit zum zentralen negativen Gründungsereignis der vereinigten Bundesrepublik in den 1990er-Jahren zu stellen sind. Darius Zifonun entfaltet mit viel begrifflichem Aufwand die einfache, aber weitreichende These, dass die Debatte über die Bedeutung des Nationalsozialismus zu einer Debatte über die Geschichte der Erinnerung und Nichterinnerung an den Nationalsozialismus in der Bundesrepublik geworden sei.
Erik Meyer zeigt am Beispiel des Berliner Holocaust-Mahnmals, dass Fragen der Erinnerungskultur in der Bundesrepublik zu einem normalen Politikfeld geworden sind, in dem nun die üblichen Regeln des „decision-making“ gelten. Julia Kölsch expliziert ihre systemtheoretisch inspirierte These, nach der die Gedenkkultur der Bundesrepublik vor allem den Zweck erfüllt, dem politischen System ein normales Funktionieren zu ermöglichen – unbeeindruckt von den irritierenden Fragen nach seiner Vergangenheit. Wolfgang Bialas beleuchtet noch einmal die Rolle des Antifaschismus als zentraler Sinnstiftungsidee der verblichenen DDR. Michael Schwab-Trapp zeigt in einer Diskursanalyse, dass nach dem Massaker in der bosnischen Stadt Srebrenica im Juli 1995 eine 180-Grad-Kehrtwendung in den Lehren eingetreten ist, die in den linken Segmenten der politischen Kultur aus der NS-Vergangenheit gezogen wurden. Statt „Nie wieder Krieg“ heißt es seitdem „Nie wieder Auschwitz“ – woraus folgt, dass der Einsatz militärischer Gewalt in der Bundesrepublik keinem Tabu mehr unterliegt. Volker Heins bestätigt diese Beobachtung mit einer weiteren Diskursanalyse anhand der Diskussionen über die Reaktionen auf den 11. September 2001: Weder bei den Gegnern noch bei den Befürwortern einer deutschen Beteiligung an der Operation „Dauerhafte Freiheit“ spielte die Berufung auf die NS-Vergangenheit eine entscheidende Rolle. Harald Mey schließlich führt die Verdrehtheiten der deutschen Diskussion über den amerikanischen Kommunitarismus auf das Fortwirken der NS-Vergangenheit zurück, und Lothar Probst versieht im letzten Aufsatz des Bandes die Versuche, aus dem Holocaust eine Zivilreligion für Europa zu machen, mit einigen sehr berechtigten Fragezeichen.
Bei allen Unterschieden in der Akzentsetzung und Qualität der Beiträge ergibt sich aus ihnen ein einhelliger Befund: Die NS-Vergangenheit vergeht auch in der neuen Bundesrepublik nach 1990 nicht. Aber der Bedeutungswandel, den der Bezug auf die NS-Vergangenheit seit gut einem Jahrzehnt erfahren hat, reicht weit und ist gravierend. Für die Autoren dieses Bandes zeigt er sich in folgenden vier Bereichen:
Erstens ist der deutsche Erinnerungsdiskurs nun zum Gegenstand einer distanzierten wissenschaftlichen Analyse geworden, die vollkommen frei ist von moralischen Tönen, Urteilen und Anklagen gegen die Vätergeneration und die Bundesrepublik (vgl. die Beiträge von Wesel, Schwelling, Heinrich, Kölsch). Das dürfte auch mit dem Alter der in diesem Band versammelten Autoren zu tun haben: Bis auf einen sind sie alle Kinder der Bundesrepublik, geboren in den 1950er und 1960er-Jahren. Anlässe für ödipale Dramatisierungen der Herkunft der Bundesrepublik aus dem Nationalsozialismus sehen sie offensichtlich nicht mehr. Das war in den 1960er- und 1970er-Jahren vollkommen anders.
Zweitens ist der Bezug auf die NS-Vergangenheit selbstreflexiv geworden, d.h. die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Vergangenheitsbewältigung schiebt sich vor die direkte Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus (vgl. die Beiträge von Zifonun, Bialas, Schwab-Trapp, Mey).
Drittens ist die Erinnerung an die NS-Vergangenheit zu einem allseits akzeptierten Politikfeld geworden, das wie andere Politikfelder funktioniert und wie diese analysiert werden kann (vgl. den Beitrag von Meyer).
Viertens haben wir es gegenwärtig mit zwei signifikant gegenläufigen Bewegungen zu tun. Einerseits wird der Bezug auf den Nationalsozialismus in der Bundesrepublik durch die Tatsache entwertet, dass man aus ihm bei der Entscheidung grundlegender politischer Fragen offensichtlich ganz unterschiedliche Konsequenzen ziehen kann (vgl. die Beiträge von Schwab-Trapp, Heins). Andererseits wird er kommunikativ zu einer absoluten (negativen) Instanz von Sinnstiftung und Zivilreligion aufgewertet (vgl. die Beiträge von Bergem, Probst). Die Frage drängt sich auf, ob zwischen diesen beiden Entwicklungstendenzen eine geheime Korrespondenz besteht. Darauf allerdings kann und will dieser Band keine Antwort geben.
Autor: Helmut König. Ersterscheinung auf H-Soz-u-Kult
Bergem, Wolfgang (Hrsg.): Die NS-Diktatur im deutschen Erinnerungsdiskurs. Opladen: Leske + Budrich Verlag 2003. ISBN 3-8100-3706-0; 243 S.; EUR 16,90.