Marcus Giebeler: Die Kontroverse um den Reichstagsbrand. Quellenprobleme und historiographische Paradigmen. München 2010.
Der Reichstagsbrand am 27. Februar 1933, wenige Tage vor den Reichstagswahlen, diente dem NS-Regime als willkommener Vorwand, Tausende seiner Gegner, vor allem Kommunisten, zu verhaften, und den Ausnahmezustand verhängen zu lassen. So unterschrieb schon am Tag nach dem Brand Reichspräsident Hindenburg die so genannte ,,Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“, welche die Grundrechte außer Kraft setzte und bis zur totalen Niederlage Hitler-Deutschlands im Mai 1945 den Ausnahmezustand rechtfertigte. Als angeblichen Täter verurteilte das Reichsgericht noch 1933 den holländischen Rätekommunisten Marinus van der Lubbe zum Tode. Der stark sehbehinderte van der Lubbe war am Tatort verhaftet worden und hatte behauptet, mit ein paar einfachen Kohleanzündern und ohne Brandbeschleuniger den Plenarsaal in wenigen Minuten erfolgreich in Flammen gesetzt zu haben. Das Gericht vermutete Mittäter und Hintermänner, ermittelte aber einseitig gegen die politische Linke. Spuren zu verfolgen, die in Richtung einer NS-Täterschaft hätten führen können, wurde vernachlässigt. Der vom Regime gewünschte Nachweis einer organisierten kommunistischen Täterschaft konnte jedoch nicht erbracht werden. Die Frage nach der Täterschaft wurde und wird seit Jahrzehnten kontrovers diskutiert. Nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass der Brand objektiv den Interessen der Nationalsozialisten nützte, gingen sowohl die Vertreter der Geschichtswissenschaft als auch die vorherrschende öffentliche Meinung bis Ende der 1950er Jahre von einer NS-induzierten Brandstiftung aus.
Der Zeithistoriker Marcus Giebeler zeichnet nun in seiner an der Universität Mainz bei Michael Kißener entstandenen Magisterarbeit den Verlauf der Debatte zur Täterschaft beim Reichstagsbrand seit Ende der 1950er Jahre bis heute nach, gleicht die Stimmigkeit, Widersprüche und Wertigkeit der von den Protagonisten verwendeten argumentativen Muster quellenkritisch gegeneinander ab und verortet die Kontroverse als Konsequenz des Streits zwischen intentionalistischer und strukturalistischer Geschichtstheorie zur Klärung der NS-Herrschaft. Es ist ein Vorteil der Studie, dass der Autor chronologisch vorgeht, dem Leser eine Schneise durch das Dickicht gegenseitiger, teils unappetitlicher Fälschungs-, Schuld- und Inkompetenzvorwürfe schlägt und am Schluss seiner Studie neben einem wohlbegründeten Fazit eine dezidierte, nach sachlichen Gesichtspunkten gegliederte Zusammenstellung aller relevanten wissenschaftlichen Publikationen anbietet, einschließlich der erschienenen Rezensionen. Gerade bei diesem Thema ergibt auch das über ein reines Personenverzeichnis hinausgehende Sachregister sowie eine tabellarische Zusammenstellung des Debattenverlaufs Sinn.
Giebelers Darstellung macht deutlich, dass die 1959/60 im SPIEGEL publizierte Serie des Verfassungsschutzbeamten Fritz Tobias, „Stehen Sie auf, van der Lubbe!“ und sein 1962 erschienenes umfängliches Buch „Der Reichstagsbrand“ von Historikern zunächst eher negativ aufgenommen wurden. Auch Hans Mommsen rezensierte Tobias’ Buch 1962 in der Stuttgarter Zeitung kritisch. Erst mit dem Tobias’ Alleintäterthese zustimmenden Aufsatz „Der Reichstagsbrand und seine Folgen“ desselben Hans Mommsen in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte 1964, erhielt Tobias’ Behauptung von der Alleintäterschaft van der Lubbes beim Reichstagsbrand jene wissenschaftliche Beglaubigung, die ihr den Durchbruch zur vorherrschenden Auffassung möglich machte. Nicht bekannt war bis vor wenigen Jahren, dass Mommsen schon vorher eine vom Münchner Institut für Zeitgeschichte an den Historiker Hans Schneider in Auftrag gegebene Untersuchung, in der dieser Tobias quellenverfälschende Zitierpraktiken nachwies, abgeblockt hatte, da diese „aus allgemeinpolitischen Gründen […] unerwünscht“ sei (S. 71). Erst 2005 wurde bekannt, dass der ehemalige NS-Pressechef im Auswärtigen Amt, Paul Karl Schmidt, Tobias’ Manuskript eben nicht nur, wie vom SPIEGEL behauptete, kurzzeitig für das Nachrichtenmagazin redigiert hatte, sondern schon am 16. Januar 1957 in einem namentlich nicht gezeichneten SPIEGEL-Artikel Tobias’ Alleintäterbehauptung lanciert hatte, und zwar in einer „Diktion“, die „erstaunlich genau mit den drei Jahre später von Fritz Tobias publizierten Thesen übereinstimmte“ (S. 173). Dass Tobias’ Kronzeuge für die Alleintäterschaft van der Lubbes, einer der 1933 ermittelnden Kriminalkommissare, Dr. Walter Zirpins, durch seine Beteiligung als SS-Sturmbannführer 1940/41 bei den Judenverfolgungen im Ghetto „Litzmannstadt“ persönlich diskreditiert war, spielte keine Rolle. Ebenso wenig die Möglichkeit, dass Zirpins nun ein elementares Interesse an der Durchsetzung der Behauptung, van der Lubbe sei der Alleintäter gewesen, als angebliche historische Wahrheit haben konnte, um so die eigene Person vor drohenden staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren wegen Beihilfe zum ,,Justizmord“ an van der Lubbe zu schützen.
Während Tobias und Mommsen im Sinne ihres strukturalistischen Erklärungsansatzes den Reichstagsbrand nicht wie die Intentionalisten „als wohlberechnete Schritte in einem stufenweisen Prozess der Machtfestigung“, sondern als zufälliges Ereignis einschätzen, das eine kumulierende „Dynamik des Machthandelns“ bewirkt habe (S. 11), wollten Historiker des sog. Luxemburger Komitees um Walther Hofer und Edouard Calic in den 1970er Jahren um jeden Preis – auch mit Hilfe untauglicher Quellen – die NS-Täterschaft nachweisen. Untauglich waren und sind diese Quellen, wie Giebeler nachweist, weil Sie „keine einzige Aussage von Tatbeteiligten oder direkten Tatzeugen“ enthielten (S. 232), sondern Zeitzeugen- und Erinnerungsberichte aus zweiter oder dritter Hand darstellen, die zudem nur als Abschriften oder Kopien, nicht aber als Originale vorgelegt werden konnten. Da zwar keine direkten Fälschungen nachgewiesen wurden, das Bundesarchiv aber aufgrund der fehlenden Originale die Echtheit der Dokumente auch nicht bestätigen konnte, steht der Fälschungsvorwurf bis heute letztlich unwiderlegt im Raum. Nichtsdestotrotz konnte die Historikergruppe um Hofer und Calic anhand von Brandgutachten und sachlichen Widersprüchen in der Darstellung Tobias’ sowie dessen selektiven, die Quellen verfälschender Zitierpraxis nachweisen, dass Marinus van der Lubbe weder über die erforderlich Zeit noch die nötigen Brandbeschleuniger verfügte, um den Plenarsaal erfolgreich in Brand zu setzen.(1)
Nachdem seit Beginn der 1990er Jahre im Bundesarchiv als Fond 551 die 191 Bände der Ermittlungsakten der politischen Polizei sowie die 48 Bände der Prozessakten des Reichsgerichts der Forschung zur Verfügung stehen, wurden diese zunächst von den Kritikern der Alleintäterthese ausgewertet.(2) Für die Befürworter der Alleintäterthese hat dies zuletzt der Historiker und WELT-Redakteur Sven Felix Kellerhoff getan, dessen Buch Hans Mommsen in seinem Vorwort überaus lobend kommentiert.(3) Nach Marcus Giebelers Einschätzung kann Kellerhoff überzeugend darstellen, dass es weder Alexander Bahar oder Wilfried Kugel noch Hersch Fischler gelungen sei, auf der Basis des Fonds 551 Beweise für konkrete Täter vorzulegen. Allerdings könne Kellerhoff bei seinem Versuch, die Alleintäterthese zu beweisen, keine wirklich neuen Argumente ins Feld führen. So versteige er sich als fachfremder Wissenschaftler auf der Basis populärwissenschaftlicher Internetseiten zu untauglichen Mutmaßungen über das angeblich den damaligen Brandexperten noch nicht bekannte Phänomen des „Backdraft“ als angebliche Ursache der plötzlichen Brandentwicklung, das tatsächlich aber unter der Bezeichnung „Rauchgasexplosion“ nicht unbekannt gewesen sei. Hersch Fischler, Alexander Bahar und Wilfried Kugel gelinge es, aus den Akten weitere Widersprüche zu Tobias’ Darstellung der Brandlegung zu eruieren und insbesondere Bahar/Kugel könnten ihre These einer Brandstiftung durch ein mit Wissen Görings agierendes SA-Kommando durch weitere Indizien aus den Akten absichern, aber eben nicht sicher beweisen. So bleibt die Klärung der Frage zur Täterschaft beim Reichstagsbrand 1933 nach wie vor auf der Agenda der historischen Forschung.
Autor: Wigbert Benz. Quelle: Zeitschrift für Weltgeschichte. 12 (2011), Heft 2, S. 294–297
Marcus Giebeler: Die Kontroverse um den Reichstagsbrand. Quellenprobleme und historiographische Paradigmen. München: Martin Meidenbauer Verlag, 2010, 320 S., 45,90 €; ISBN: 978-3-89975-731-6
Anmerkungen
(1) Edouard CALIC, Walther HOFER, Karl STEPHAN: Der Reichstagsbrand. Eine wissenschaftliche Dokumentation. 2 Bde, Berlin 1972 und 1978. Brandgutachten und sonstige Nachweise gegen die Alleintäterthese in Bd. 1; dagegen die zweifelhaften Dokumente zum Nachweis einer NS-Täterschaft in Bd. 2.
(1) Dieter Deiseroth (Hg.): Der Reichstagsbrand und der Prozess vor dem Reichsgericht, Berlin 2006. In dem Band resümieren u.a. Alexander Bahar sowie Hersch Fischler ihre Forschungsergebnisse. Ersterer auf der Basis seines 2000 zusammen mit Wilfried Kugel vorgelegten Buches: Der Reichstagsbrand. Wie Geschichte gemacht wird, München 2001.