Winfried Seibert, Die Kölner Kontroverse. Legenden und Fakten um die NS-Verbrechen in Köln-Ehrenfeld, Klartext Verlag, Essen 2014.
Köln hat nicht nur die heiligen drei Könige, den Dom, Karneval und Klüngel, es hat auch eine eigene Kontroverse. Worum geht es?
Im Streit ist die Einordnung einer Gruppe, die im Spätsommer und Herbst 1944 in Köln-Ehrenfeld für Unruhe sorgte und von der dreizehn am 10. November 1944, also vor 70 Jahren, von der Gestapo öffentlich erhängt wurden. Ohne Gerichtsurteil, auf offener Straße, damit alle es auch sehen konnten. Für die Gestapo war das eine Terrorbande, die mit nächtlichen Einbrüchen und Schießereien die Menschen verunsicherte, die durch die ständigen Bombengriffe allmählich am Endsieg zu zweifeln begannen. Die für die Entschädigung zuständigen Behörden sahen das ähnlich: Diebe und Terrorbande. Also kein Widerstand, keine politische Verfolgung, also auch keine Anerkennung und keine Entschädigung.
In seinem Buch weist der Kölner Rechtsanwalt Winfried Seibert penibel nach, wie verzweifelt die Hinterbliebenen um Anerkennung und Entschädigung gekämpft haben. Wie schwierig es auch für die Behörden war, die damaligen Vorgänge zu klären. Die wichtigen Akten der Gestapo waren vernichtet oder verschollen. Als sie 1967 wie aus dem Nichts bei der Staatsanwaltschaft auftauchten, war es für die Entschädigungsverfahren zu spät.
Dann aber setzte eine öffentliche Diskussion ein, in der sich Vertreter der These „Das war Widerstand“ und der Auffassung „Nur eine Diebesbande“ unversöhnlich gegenüberstanden.
Seibert beschreibt die Anfänge dieser Kontroverse minutiös. Der damalige nordrheinwestfälische Innenminister Herbert Schnoor versuchte mit einem wissenschaftlichen Gutachten Ruhe in die Meinungsschlacht zu bringen. Vergeblich. Das sorgfältig erarbeitete Werk von Bernd A. Rusinek schien die wichtigsten Fragen detailreich zu beantworten. Da aber unter dem Strich von Widerstand kaum etwas übrigblieb, hatte das bei denen, die an der Widerstandsthese unbedingt festhalten wollten, keine Chance.
Seibert schildert, mit welcher Erbitterung Rusinek damals bekämpft wurde. Er beschreibt auch, wie schwankend die Ehrenfelder selbst von einem jungen Historiker beurteilt wurden, der später führend für die Widerstandsthese war.
Zu Beginn der Kontroverse Anfang der siebziger Jahre war auf einer Gedenktafel, die der Stadtjugendring an dem Ort der Hinrichtung angebracht hatte, die Rede von dreizehn Jungen aus Ehrenfeld. Der älteste dieser Jungen war allerdings 57 Jahre alt. Auch sollten es Ehrenfelder Edelweißpiraten gewesen sein, was nur für Wenige der dreizehn Opfer gilt, die Edelweißpiraten gewesen waren, bevor sie zu der Gruppe um den „Bombenhans“ stießen.
Die Ereignisse der Tage im September und Anfang Oktober 1944 arbeitet Seibert akribisch sozusagen in Zeitlupe heraus. Dabei stehen der charismatische „Bombenhans“, Hans Steinbrück, und dessen Lebensgefährtin Cilli Servé im Mittelpunkt. Sie und nur sie waren es, die drei verfolgten Juden Unterschlupf gewährten. Dass alle vor 70 Jahren hingerichteten Personen als Gruppe – und hervorgehoben Barthel Schink – posthum von Yad Vashem geehrt wurden, nimmt der Autor dieser noblen Jerusalemer Instanz übel. Mehr als ein Jahr sollen danach diese Menschen von der Ehrenfelder Gruppe versteckt und beschützt worden sein. Nichts davon, so Seibert. Es waren nicht ganz drei Tage. Immerhin, erkennt er an. Barthel Schink aber kann an dieser Aktion nicht beteiligt gewesen sein. Er hatte an diesen Tagen von Steinbrück Hausverbot. Yad Vashem hat außerdem auch noch den deutschen Botschafter in Bukarest Michael Jovy geehrt. Zu Unrecht, so Seibert. Jovy war im Spätsommer 1944 nicht in Köln, sondern im Zuchthaus in Siegburg und danach im September im Strafbataillon 999 an der Front. Von der vorübergehenden Rettung der Juden kann er nichts gewusst haben. Beteiligt war er ohnehin nicht.
Als Teil der Legende greift der Autor auch die Version an, wonach Roland Lorent, der einen Ortsgruppenleiter erschossen hatte und zu den dreizehn Opfern der verbrecherischen „Hinrichtung“ gehörte, der Gruppe um Hans Steinbrück zugerechnet und dieser Mord als klarer Widerstand gesehen wird. Lorent habe einen Menschen erschossen, den er nicht gekannt habe und von dem er nichts gewusst habe – außer Gerüchten von dritter Seite. Die angeblichen Übeltaten des Ortgruppenleiters seien durch nichts bewiesen, es gebe nicht den geringsten konkreten Hinweis. Hier und nicht nur hier hätten die Vertreter der Widerstandsthese unsauber gearbeitet. Im übrigen belegt Seibert, dass Lorent erst zwei Tage nach seiner Tat erstmals Kontakt zu Steinbrück und seiner Gruppe hatte.
Der Autor kommt zu dem Ergebnis, dass ein Großteil der, wie er es nennt, nachträglich angebrachten Verzierungen, den Medien geschuldet ist. In erster Linie hat er dabei den Westdeutschen Rundfunk mit einer Fernsehsendung vom Frühjahr 1978 im Visier. Die dort teilweise verfälschende Darstellung sei von den Zeitungen allzu willfährig aufgenommen worden. Er stellt dabei erstmals die Schilderung der Mutter von Barthel Schink und dessen Schwester im Entschädigungsverfahren den späteren Aussagen der Mutter und des jüngeren Bruders gegenüber, die in der Tat nicht in Einklang zu bringen sind. Immerhin hat die Auseinandersetzung mit dieser WDR-Sendung für den Autor den Vorteil, dass er anhand der Aufzeichnung belegen kann, dass das bekannte Foto von Barthel Schink mit Edelweiß am Revers erst nach den Fernsehaufnahmen entstanden sein kann. Im Film nämlich liegt das Edelweiß noch brav neben Barthels Foto ohne.
Hier ist dem Verfasser so etwas wie ein kriminalistischer Knüller gelungen. Überzeugender als jede Aussage von Zeitzeugen, denen Seibert als Anwalt ohnehin mit Misstrauen begegnet. Dass der Kölner Oberbürgermeister Jürgen Roters versucht hat, der Kölner Kontroverse dadurch ein Ende zu bereiten, dass er im Zusammenhang mit Ehrenfeld pauschal von Widerstand gegen den Nationalsozialismus gesprochen und den Widerstand ausdrücklich anerkannt hat, nimmt Seibert eher unwirsch zu Kenntnis. Der habe halt Ruhe haben wollen. Ob es gelungen ist, mag sich zeigen.
Schließlich wirft der Autor seiner Stadt Köln auch vor, bei der Gedenktafel für die an gleicher Stelle ermordeten elf Fremdarbeiter gepfuscht zu haben. Wenn dort von elf Zwangsarbeitern aus der Sowjetunion und Polen die Rede sei, wisse man von fünf der Opfer weder Namen noch Herkunft. Es spreche sehr viel dafür, dass das Menschen aus Frankreich oder Belgien gewesen seien. Wo bleibe dann deren Ehrung und Gedenken? Die Stadt will angeblich auf diesen Hinweis Seiberts reagieren.
Das Buch über die Kölner Kontroverse schildert eindrucksvoll die Zerstörung der Stadt und die Zerstörung des Zusammenlebens der Kölner während des Bombenkrieges. Es beschreibt die verzweifelten Bemühungen um Anerkennung der Opfer der Gestapo und die heute kaum noch nachvollziehbaren Hürden der Entschädigungspraxis. Zur Kontroverse gehört aber auch die Legendenbildung, die vor Lügen nicht zurückschreckt, wie der Autor penibel nachzeichnet. Ein Buch, wie Johannes Gross seinerzeit über das erste Buch des Verfassers – „Das Mädchen, das nicht Esther heißen durfte“ – schrieb, „akribisch, noch jede Anmerkung lesenswert.“ Der Lauftext steht tatsächlich im ständigen Dialog mit den Fußnoten, die voller Informationen stecken.
Ob die Ehrenfelder Gruppe auch Widerstand geleistet hat oder bloß eine Diebesbande war, das Urteil lässt Seibert offen. Seine Skepsis aber ist deutlich genug, wenn er, der Presserechtler schreibt: „Allerdings endet der Schutz des Grundgesetzes dort, wo es um wahr oder unwahr geht“. Unwahre Tatsachenbehauptungen können nichts Gescheites zur Meinungsbildung beitragen, sind also verfassungsrechtlich kein schützenswertes Gut. Man darf die Aussage, die Welt sei herrlich eingerichtet, obwohl eindeutig Meinungsäußerung, angreifen, wenn ihr die tatsächliche Annahme zugrunde liegt, die Erde sei eine Scheibe.“
Autor: Hans-Dieter Arntz
Winfried Seibert, Die Kölner Kontroverse. Legenden und Fakten um die NS-Verbrechen in Köln-Ehrenfeld, Klartext Verlag, Essen 2014, 186 Seiten, ISBN: 978-3-8375-1235-9