Viel wurde schon über das Datum des 22. Juni 1941 geschrieben. Das mag die Frage provozieren: Ist noch eine Publikation zu diesem Thema nötig? Ich denke ja – das Ganze hat keinen „beschäftigungspolitischen“ Aspekt für Historiker, deren Aufgabe es ist, Vergangenes vor dem Vergessen zu bewahren, sondern immer wieder nach bislang unbekannten Facetten der Geschichte zu forschen und so neue Sichtweisen zu ermöglichen. Jeder hat hierbei seine jeweils eigene Herangehensweise. Professor Kurt Pätzold (1930 – 2016) hat sich in seiner (vermutlich ) letzten größeren Arbeit mit dem Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 beschäftigt. Das hier zu besprechende Buch: „Der Überfall – Der 22. Juni 1941: Ursachen, Pläne und Folgen“ erschien 2016 bei Edition ost beim Verlag Das Neue Berlin. Inhaltlich bietet es Schilderungen der Vorgeschichte des Überfalls, den Überfall selbst, in militärische Handlungen. Ferner gewährt es Einblicke in den soldatischen Alltag, all das in einem Zeitrahmen, der sich bis Stalingrad erstreckt. Was Pätzolds schriftliche Auseinandersetzung mit diesem Thema zusätzlich interessant macht, ist der recht umfangreiche Dokumentenanhang. Darin finden sich Reden der Kriegsherren Hitler und Stalin, von Churchill, Roosevelt, (teils leider nur in englisch), Wehrmachtsberichte, Feldpostbriefe, Tagebucheinträge und anderes.
In dem fallgeschichtlichen Druckwerk wird die zunehmende Wandlung von Siegeszuversicht, militärischer und politischer Größenwahn zu Unsicherheit, Zweifeln und Fassungslosigkeit ablesbar.
Zwei Beispiele für das extreme Denken jener Zeit. Während der Generalstabschef der Wehrmacht, Generaloberst Franz Halder, am 3. Juli 1941 seinem Tagebuch anvertraute: „dass der Gegner in etwa 14 Tagen besiegt sein werde“, schrieb der Gefreite Herbert T., in die sächsische Heimat: „Was nützt mir jede Auszeichnung, wenn ich als Krüppel zurückkehre (25.August 1941)“. Vor Wochen las sich das noch anders, da wollte der sächsische Gefreite im August zu Hause sein, nachdem er von dem Gerücht erfahren hatte, die russische Regierung sei aus Moskau geflüchtet. Aber es sollte anders kommen. Am 3. Januar 1943 fand sich der Name des (inzwischen) Obergefreiten Herbert T. (bei Stalingrad) in der Vermisstenliste. Halder aber durfte von 1946 bis 1961 als Leiter der kriegsgeschichtlichen Forschungsgruppe der US-Army der Historical Division, die Geschichte der Wehrmacht schönschreiben. Aber an ihr war nichts schön, besonders nicht der Vernichtungs– und Raubkrieg gegen die UdSSR. Das verdeutlichen nicht nur die niederlegten Recherchen des Autors, sondern auch zahlreiche Dokumente, die sich dem Leser bei Lektüre des Buches offenbaren. Die Nachkriegsverwendung von Halder sollte durch Bernd Wegener in dessen Beitrag, (siehe Politischer Wandel, organisierte Gewalt und nationale Sicherheit. München 1995, S.287-302): „Erschriebene Siege. Franz Halder, die „Historical Division“ und die Rekonstruktion des Zweiten Weltkrieges im Geiste des deutschen Generalstabes“ scharfe Kritik erfahren. Und das zu Recht. Man braucht sich nur an die Hitler Rede vor der Generalität am 30. März 1941 zu erinnern, wo dieser u.a. ausführte: „Wir müssen von dem Standpunkt soldatischen Kameradentums abrücken. Der Kommunist ist vorher kein Kamerad und nachher kein Kamerad. Es handelt sich um einen Vernichtungskampf“. Oder zitieren wir die „Grundsätze der Ausplünderung der Sowjetunion“ vom 2. Mai 1941, wonach der Hungertod von „zig Millionen“ einkalkuliert wurde, „wenn (das) für uns Notwendige aus dem Lande herausgeholt werde“. Nicht zu vergessen die Festlegung der „Nichtahndung militärischer Verbrechen durch deutsche Soldaten im Ostfeldzug“ vom 13. Mai 1941. Nur dieser Auszug aus dem Strafregister der Wehrmacht möge an dieser Stelle genügen, diese und andere Beispiele kann man in Pätzolds Schrift finden.
Schließlich begann am 22. Juni der „Kreuzzug Europas gegen den Bolschewismus“, an dessen Vorbereitung der später in Stalingrad geschlagene General Friedrich Paulus beteiligt war. Die Weisung 21 zum Fall Barbarossa trug somit auch die Handschrift des Stalingradkämpfers Paulus, die die Folie für unzählige Kriegsverbrechen, Tod und Zerstörung war.
Deutlich wird für den Leser allerdings auch, das sowjetische Schuldkonto vor allem in der ersten Kriegsphase ist nicht gerade gering. Brutale Maßnahmen es auszugleichen erwiesen sich als hilflos wie die Exekutionswelle in der Anfangsphase des Krieges unter den sowjetischen Militärs, deren ranghöchstes Opfer am 22. Juli Armeegeneral Dmitri G.. Pawlow werden sollte. 1957 wurde er rehabilitiert und 1965 bekam er den Heldentitel zurück.
Zu seiner eigenen Verantwortung für den desolaten Zustand der Roten Armee insbesondere durch die Säuberungen der 30ger Jahre schwieg Stalin. Statt Antworten zu geben stellte er in seiner Rede am 7. November 1941 an die Soldaten gerichtet die Frage: „Lässt sich etwa bezweifeln, dass wir die deutsche Okkupanten besiegen können und besiegen müssen?“ Zuvor sprach der rote „Schlachtenlenker“ von nur „zeitweiligen Misserfolgen“. Welch ein Hohn – angesichts von ca. 3 Millionen sowjetischen Kriegsgefangen, verheerender Niederlagen und Kesselschlachten und unsinnig befohlener Offensiven. Erst als die führenden Sowjetmilitärs mehr Handlungsfreiheit und Entscheidungsbefugnis eingeräumt bekamen, wurde es etwas besser. Aber wäre die Geschichte anders verlaufen, insbesondere die Vorgeschichte des deutsch-sowjetischen Krieges, mit Blick auf gewisse Entwicklungen in Stalins Sowjetunion, dann wäre der Blutzoll, den das sowjetische Volk zu entrichten hatte, möglicherweise nicht so groß gewesen.
Eine Episode am Rande; am Nachmittag dieses 22. Juni wurde im Berliner Olympiastadion die Deutsche Fußballmeisterschaft ausgetragen. Gewonnen hat Hitlers Lieblingsverein Schalke 04. Aber den Krieg gegen die Sowjetunion hat der braune „Größte Feldherr aller Zeiten“ verloren. So kam es auch anders als von Joseph Goebbels gedacht, als der von einem Gespräch bei seinem „Führer“ kommend in sein Tagebuch schrieb: „Das Beispiel Napoleon wiederholt sich nicht“. Das war am 16. Juni 1941.
Autor: René Lindenau