Otto Kranzbühler, der Verteidiger der Angeklagten Großadmiräle Dönitz und Raeder, sprach im Zusammenhang mit den Nürnberger Prozessen von einer Revolution. Er meinte das im negativen Sinne, da seiner Ansicht nach durch sie das bestehende Recht gewaltsam umgewälzt wurde.[1] Robert M. Kempner, einer der amerikanischen Ankläger, benutzte ebenfalls den Begriff Revolution aber im positiven Sinne: „Völkerrecht wird aus revolutionären Ideen gemacht.“[2] Beides war übertrieben, denn so revolutionär und neu waren die Ideen gar nicht.
Bereits während und nach dem ersten Weltkrieg überlegten die Alliierten, den deutschen Kaiser und führende Politiker und Militärs vor ein Gericht zu stellen. Im Jahre 1919 entschieden die USA, das Vereinigte Königreich und Frankreich für diesen Zweck ein Alliiertes Gericht zu schaffen, dem sie den Vorzug gegenüber einem internationalen Gericht gaben.[3] Jedoch lehnten sowohl die Reichsregierung als auch Holland die Zusammenarbeit kategorisch ab. Deutschland weigerte sich, die als Kriegsverbrecher genannten Personen auszuliefern. Holland wollte den Kaiser auf gar keinen Fall herausgeben.[4] Allerdings versprach die Reichsregierung, Kriegsverbrecher vor dem Reichsgericht anklagen zu lassen. Der Reichstag verabschiedete sogar ein „Gesetz zur Verfolgung der Kriegsverbrechen und Kriegsvergehen“, das jedoch von der Justiz, wo immer es ging, sabotiert wurde. Bezeichnend hierfür war die Einstellung von Oberreichsanwalt Ludwig Ebermayer, der die Verfolgung als ehrenrührig ansah, weil ja auch kein anderer Staat seine Staatsangehörigen als Kriegsverbrecher bestrafe. Auch wenn das Vorhaben der Alliierten nicht weiter verfolgt wurde, führte es jedoch zu einer äußerst lebhaften Diskussion unter den Völkerrechtlern. Das Ergebnis lässt sich grob wie folgt zusammenfassen: Nationale Gerichte oder solche, die nur aus den Siegern eines Krieges bestehen, seien in der Regel ungeeignet, um zu tragbaren Ergebnissen zu kommen. Lediglich internationale Gerichte böten eine Garantie für ein sicheres und objektives Verfahren.
Schon im Laufe des zweiten Weltkrieges dachten verschiedene Gruppen darüber nach, was mit den Verantwortlichen des Nazi–Regimes nach dem Kriege geschehen sollte. Die Angaben in der Literatur über den Entscheidungsprozeß auf der politischen Ebene sind sehr widersprüchlich. Klar ist, dass in den USA vor allem Kriegsminister Stimson und Außenminister Hull für ein Gerichtsverfahren waren. Morgenthau jr., der amerikanische Finanzminister, war zunächst wie die Briten und Sowjets angeblich auch, für summarische Hinrichtungen, d.h. es sollte dazu eine Liste mit rund 50.000 der schlimmsten Verbrecher zusammengestellt und diese sollten dann nach ihrer Verhaftung und Identifizierung exekutiert werden.[5] Aber schon im Januar 1945 hatten sich in den USA die Befürworter eines Prozesses durchgesetzt. Auch die Briten und Sowjets ließen sich schließlich überzeugen. Andere Historiker hingegen – gestützt auf glaubhafte Quellen – zeigen auf, dass sich ausgerechnet Stalin und sein Außenminister Molotov für die Schaffung eines Gerichtshofes stark gemacht hätten und dass außer den Briten niemand summarische Erschießungen ernsthaft erwogen habe.[6] Ob Stalin dabei eher eine Art Schauprozess sowjetischen Zuschnittes im Sinn hatte ist, nicht bekannt.
Im Vorfeld der Nürnberger Prozesse
Die Erklärung vom 30. Oktober 1943
Zumindest nach außen vermittelten die Erklärungen von Moskau, San Francisco, Quebec, Jalta und London ein Bild der Geschlossenheit. In der gemeinsamen Erklärung von Moskau vom 30. Oktober 1943 hatten sich die drei entscheidenden Mächte, das Vereinigte Königreich, die USA und die Sowjetunion, zum ersten Mal auf konkrete Grundsätze einer gerichtlichen Ahndung festgelegt: Sämtliche an Kriegsverbrechen Beteiligte oder dafür Verantwortliche sollten verfolgt, festgesetzt und an jene Staaten ausgeliefert werden, wo sie ihre Verbrechen begangen hatten, um sie dort vor Gericht zu stellen. Mit den ersten Verbrechen der Deutschen in der Tschechoslowakei und Polen wurden auf alliierter Seite halbamtliche und amtliche Kriegsverbrecherkommissionen gebildet. Aufgabe dieser Kommissionen war es zum einem, Beweise zu sammeln, zum anderen, auftretende Rechtsfragen zu bearbeiten.[7] Trotz vieler Meinungsverschiedenheiten herrschte jedoch über die Tatsache Einigkeit, dass eine gerichtliche Bestrafung der Verantwortlichen stattfinden sollte: „Handed over to justice and judge“, wie es in der Erklärung der IACPWC im Londoner St. James Palace 1942 hieß. Mit Kriegsende fielen den Alliierten auch zusätzlich fast die gesamten Aktenbestände der Reichsregierung, des OKW und der NSDAP in die Hände. Das Problem für die Ankläger war also nicht, dass zu wenige Unterlagen vorhanden waren, sondern dass die Menge die Prozessvorbereitung zu ersticken drohte.
Die Londoner Konferenz
Auf der Londoner Konferenz im August 1945 wurden die letzten Unstimmigkeiten zwischen den vier beteiligten Ländern beseitigt. Die Verhandlungen waren zäh und schwierig, nicht zuletzt da drei völlig unterschiedliche Rechtssysteme aufeinander trafen. Trotz dieser Schwierigkeiten einigte man sich auf die folgenden vier Anklagepunkte für die Anklageschrift:
- Der gemeinsame Plan oder die Verschwörung zu einem Verbrechen gegen den Frieden [Später im Statut des Internationalen Militärtribunals Artikel 6a) 3. Klausel].
- Verbrechen gegen den Frieden [1. und 2. Klausel Artikel 6a) der Charta].
- Kriegsverbrechen [Artikel 6b) der Charta].
- Verbrechen gegen die Menschlichkeit [Artikel 6c) der Charta].
Zudem wurde beschlossen, die Anklage in vier Teile zu zerlegen. Die Sowjets waren für die Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Osteuropa zuständig; die Franzosen für den gleichen Komplex in Westeuropa; die Briten klagten wegen Verbrechen gegen den Frieden an; die Amerikaner übernahmen die Anklage wegen Verschwörung und gegen die Organisationen.[8]
Nürnberg als „Hauptstadt der Bewegung“
Nürnberg hatte als „Hauptstadt der Bewegung“ einen starken symbolischen Charakter. Auch die Rassegesetze, die zur Ausgrenzung der Juden aus der Gesellschaft führten, trugen den Namen „Nürnberger Gesetze“.[9] Aber auch ganz praktische Gründe gaben den Ausschlag für die Wahl: „Man kam auf Nürnberg aus verschiedenen Gründen – vor allem aber war da noch ein Gerichtsgebäude, der große Justizpalast, vorhanden, der fast unzerstört war. Dieser alte Kasten mit dem kleinen Anbau, wo reihenweise Leute durch Sondergerichte justiziell ermordet worden waren.“[10]
Der Nürnberger Prozess war wohl einer der umfangreichsten der Rechtsgeschichte. Es gab insgesamt 218 Verhandlungstage, über die ein 16.000 Seiten starkes Sitzungsprotokoll geschrieben wurde. Von der Anklage wurden 2.360 Beweisdokumente vorgelegt, von der Verteidigung 2.700. Das Gericht hörte 240 Zeugen und prüfte ca. 300.000 eidesstattliche Erklärungen. Die 27 Hauptverteidiger wurden von 54 Assistenten und 67 Sekretärinnen unterstützt – die Kosten hierfür trug der Gerichtshof. Für die Vervielfältigungen aller Schriftstücke wurden 5 Millionen Blatt Papier verbraucht, 780.000 Fotokopien kamen in Umlauf. Zur Korrektur der Stenogramme wurden die Verhandlungen auf 27.000 Meter Tonband und 7.800 Schallplatten mitgeschnitten. 550 Büros, Sekretariate und Abteilungen verschrieben 22.000 Bleistifte. Die Nachrichtenagenturen schickten 14 Millionen Worte über den Prozess in alle Welt.[11]
Insgesamt waren 24 Personen und sechs Gruppen bzw. Organisationen angeklagt. Die Rechtsgrundlage für die Errichtung des Gerichtes war das Londoner Abkommen vom 8. August 1945. Außer den vier Siegermächten hatten 19 weitere Staaten das Abkommen unterzeichnet, wodurch die Rechtsgrundlage einen internationalen Charakter bekam.[12] Umstritten ist jedoch die Frage, ob es sich bei dem Internationalen Militärtribunal (IMT) um ein internationales Gericht oder um ein Besatzungsgericht handelte.
Die meisten der ausländischen und auch Teile der deutschen Völkerrechtler sind der Ansicht, dass es sich bei dem IMT um ein internationales Gericht handelte, da seine Errichtung und Zuständigkeit unmittelbar auf einer völkerrechtlichen Quelle – dem Londoner Vertrag – beruhe und es kein Gericht nur eines einzelnen Staates gewesen sei.[13] Der Gerichtshof selbst schrieb in seiner Urteilsbegründung: „Dem Gericht ist die Vollmacht verliehen worden, alle Personen abzuurteilen, die Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach den im Statut festgelegten Begriffsbestimmungen begangen haben.“[14] Des Weiteren leitete er seine Zuständigkeit aus der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands her. Andere Rechtswissenschaftler sehen in dem IMT ein Besatzungsgericht und verneinen den internationalen Charakter, da Deutschland den Vertrag zu seiner Errichtung nicht unterschrieben habe und er somit keine völkerrechtliche Wirkung gegenüber Deutschland entfalten könne. Das IMT sei daher ein Besatzungsgericht gewesen und hätte nur in den Grenzen der Haager Landkriegsordnung (HLKO) handeln dürfen.[15] Letztlich kann dahinstehen, ob es sich bei dem IMT um ein internationales Gericht oder um ein Besatzungsgericht handelt, denn der Gerichtshof ist nicht an die Beschränkungen der HLKO gebunden gewesen. Eine Bindung an die HKLO hätte vorausgesetzt, dass Deutschland sich im Zustand der occupatio bellica befunden habe.
Nach dem Völkerrecht gibt es zwei Möglichkeiten der militärischen Besetzung, die debellatio und die occupatio bellica. Debellatio bedeutet, dass im Fall der restlosen Niederringung des Gegners der Sieger durch einseitige Erklärung ohne die Zustimmung des besiegten Staates die territoriale Souveränität erwerben kann.[16] Die Siegermächte haben jedoch in ihrer Berliner Erklärung vom 6. Mai 1945 die Annexion Deutschlands ausdrücklich abgelehnt, so dass kein Zustand der debellatio bestand. Die occupatio bellica ist die bloße militärische Besetzung eines fremden Staates im Verlaufe eines Krieges, wobei der besetzte Staat als solcher bestehen bleibt. Der Besatzer ist dann an die Einschränkungen der HLKO gebunden. Jedoch übernahmen die Alliierten durch die Berliner Erklärung die oberste Regierungsgewalt in Deutschland.[17] Hierdurch zeigten sie, dass sie sich auf keinen Fall an die HLKO gebunden fühlten. Damit bestand also weder ein Zustand der debellatio, noch der occupatio bellica. Wenn aber die Alliierten die Regierungsgewalt über das Deutsche Reich ausübten, waren sie auch in der Lage die Gerichtsbarkeit für die in Frage stehenden Personen an den Gerichtshof abzutreten. Dass es einen solchen Fall nach dem damaligen Völkerrecht bis dahin noch nicht gegeben hatte, ist unschädlich; es herrscht Einigkeit, dass die Rechtslage Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg nicht in die herkömmlichen Kategorien des Völkerrechts einzuordnen ist.[18] Auch ist das Argument, der Gerichtshof sei kein internationales Gericht, da Deutschland das Londoner Abkommen nicht unterzeichnet habe, nicht überzeugend. Hier könnte auch ohne weiteres ein Vertrag zu Lasten Dritter gesehen werden. Solche Verträge sind zwar im Völkerrecht grundsätzlich unzulässig, aber es gibt einige Ausnahmen. Das zweite österreichische Kontrollabkommen der vier Besatzungsmächte vom 28. Juni 1946, das Österreich in seiner Handlungsfreiheit einschränkte, wird als ein solcher Vertrag zu Lasten Dritter angesehen. Mit der kompletten militärischen Besetzung Deutschlands könnte das auch für das Londoner Abkommen zutreffen. Im Ergebnis lässt sich also festhalten, dass es auf die Tatsache, ob es sich bei dem IMT um ein Internationales Gericht oder um ein Besatzungsgericht handelt, nicht ankommt. Die Einschränkungen der HLKO galten für das IMT nicht, und es war damit auch zuständig.
Einer der häufigsten Vorwürfe im Zusammenhang mit dem Nürnberger Prozess ist die Behauptung, es habe kein faires Verfahren gegeben, da die Verteidigung in ihrem Handlungsrahmen stark beeinträchtigt gewesen sei. Die Verfahrensordnung des IMT entsprach im wesentlichen dem anglo-amerikanischen Prozessrecht, dem man kaum eine generelle Absicht unterstellen kann, die Verteidigung zu benachteiligen.[19] Das Gericht war darauf bedacht, das Verfahren möglichst zügig voranzutreiben, und es kam auch häufig zu Verzögerungen bei den Übersetzungen, so dass bestimmte Schriftsätze bei der Verteidigung erst mit einiger Verspätung eintrafen. Jedoch waren die Verteidiger materiell und personell sehr gut ausgestattet, um solche Verzögerungen aufzufangen.
Ein weiterer Vorwurf war, dass die Anklage einen zeitlichen Vorsprung hatte. Dieser war jedoch von den Verteidigern problemlos wettzumachen, da sie mit ihren Mandanten über unschätzbares Insiderwissen verfügten. Insgesamt gab es eine Vielzahl von Problemen für die Verteidigung, die das Gericht aber soweit wie möglich berücksichtigte. Es musste aber darauf achten, dass der Prozess auch führbar blieb. Schließlich war es dem Gericht sehr wichtig, wie man auch bei einem Blick in das Statut sehen kann, sich nicht dem Vorwurf eines ungerechten Verfahrens auszusetzen. Die aufgezeigten Probleme rechtfertigen auch nicht den Vorwurf eines unfairen Verfahrens.
In dem Statut für das IMT sind in Artikel 6 drei Tatbestände beschrieben, für deren Aburteilung der Gerichtshof zuständig war:
Artikel 6 (a) Verbrechen gegen den Frieden
Artikel 6 (b) Kriegsverbrechen
Artikel 6 (c) Verbrechen gegen die Menschlichkeit
Die Vorwürfe, die gegenüber den Nürnberger Urteilen erhoben wurden, gipfelten darin, dass das Verbot rückwirkender Strafrechtsanwendung missachtet und damit gegen den Rechtsgrundsatz „nullum crimen sine lege, nulla poena sine lege“ verstoßen worden sei. „Zwar hatte der Nazi – Gesetzgeber mit dem Gesetz vom 28. Juni 1935 das Rückwirkungsverbot selbst aufgehoben, Unrecht durfte aber mit einem Verfahren, das der Rechtsordnung wieder Geltung verschaffen sollte, nicht mit Unrecht vergolten werden.“[20] Es ist schon fraglich, ob der Grundsatz „nulla poena sine lege“ überhaupt im Völkerrecht so existiert. Im anglo-amerikanischen Rechtsraum, insbesondere dem englischen common law ist dieser Grundsatz fremd. Nach den Grundsätzen des common law kann im Gegenteil eine Tat ein Verbrechen sein, ohne dass ein besonderes Gesetz zu schaffen ist.[21] Einige Völkerrechtler sprachen zwar von „ex post facto law“, sahen dieses jedoch nicht als völkerrechtswidrig an. Der Gerichtshof selbst war auch der Meinung, dass der Grundsatz „nulla poena sine lege“ nicht dem Völkerrecht als Rechtssatz angehöre. Bei der Eröffnung des Prozesses hat die Gesamtverteidigung den Einwand gegen alle drei Tatbestände des Statuts des IMT und gegen die Strafbarkeit von Organisationsverbrechen vorgebracht.
„Verbrechen gegen den Frieden“
Im Rahmen des Tatbestandes „Verbrechen gegen den Frieden“ betrifft der Vorwurf des Verstoßes gegen das Rückwirkungsverbot zwei Punkte. Zum Ersten stellt sich die Frage, ob zur damaligen Zeit ein Verbot des Angriffskrieges bestand und zum zweiten, ob dieses mit Strafe bedroht war bzw. werden durfte. Das Verbot eines Angriffskrieges als kodifiziertes Völkerrecht oder als Völkergewohnheitsrecht ergab sich aus einer Vielzahl von Verträgen, die zwischen den beiden Weltkriegen international geschlossen wurden. Der erste praktische Schritt zum völkerrechtlichen Verbot des Krieges wurde durch den Völkerbundspakt von 1919 getan. Hier erfasste das Kriegsverbot aber nur gewisse Fälle und nur Konflikte zwischen Bundesmitgliedern. Zwei Versuche das Verbot eines Angriffskrieges im Völkerbund durchzusetzen scheiterten in den Jahren 1923 (gegenseitiger Beistandspakt) und 1924 (Genfer Protokoll) daran, dass nicht genug Staaten die Dokumente ratifizierten. Beide Schriftstücke sahen vor, dass jede Art von Krieg mit Ausnahme des Verteidigungskrieges verboten ist. Das erste rechtswirksame absolute Verbot des Angriffskrieges kam in dem regionalen Sicherheitspakt zustande, den Deutschland, Belgien, Frankreich, Großbritannien und Italien am 16. Oktober 1925 in Locarno unterzeichneten.[22] Da Deutschland bei Ausbruch des zweiten Weltkrieges aus dem Völkerbund ausgetreten war und auch der Locarno-Vertrag durch die gegenteilige Praxis der Vertragsstaaten als aufgehoben angesehen werden kann, bleibt das wichtigste Werk der Briand-Kellog-Pakt vom 27. August 1928, indem auf den Krieg als Instrument der nationalen Politik verzichtet wurde. Zuletzt sind auch noch die Nichtangriffsverträge Deutschlands mit Polen (1934), Belgien (1937 – einseitige Erklärung Deutschlands), Dänemark (1939) und der Sowjetunion (1939) zu nennen. Diese Aufzählung ist nur ein kleiner Ausschnitt, aber er zeigt eindrucksvoll, dass man von einem Verbot des Angriffskrieges vor dem Zweiten Weltkrieg ausgehen kann. Jedoch enthielt keines der Dokumente eine Strafvorschrift zur Bestrafung von Staatsführern, die hiergegen verstoßen. Der Einwand der Verteidigung richtete sich deshalb auch in erster Linie dagegen, dass die Angeklagten als Einzelpersonen für Staatshandlungen verantwortlich gemacht würden. Das sei ein Novum in der Geschichte, denn nie zuvor sei auch nur daran gedacht worden, Staatsmänner oder Generäle eines Staates wegen Anwendung von Gewalt anzuklagen.[23] Dieses Argument ist historisch nicht richtig, verwiesen sei hier auf die obigen Ausführungen zu den Überlegungen nach dem ersten Weltkrieg. So wurde auf dem Wiener Kongreß über eine gerichtliche Bestrafung Napoleons nachgedacht und nach dem Deutsch – Französischen Krieg 1870/71 wollten einige deutsche Generäle Napoleon den III. wegen der Entfesselung des Krieges bestrafen. Das wohl stärkste Argument gegen den Einwand der Verteidigung brachte jedoch Professor Sheldon Glueck von der Harvard University vor: „Der Fortschritt des völkerrechtlichen Gewohnheitsrechtes hat die Tatsache anerkannt und reichlich Beweismaterial dazu geliefert, dass ein Angriffskrieg nicht nur ein unrechtmäßiger sondern geradezu ein verbrecherischer Krieg ist. Wenn man aber die Verantwortlichkeit und Strafbarkeit auf schuldige Staaten als solche beschränkt, so wird dieser außerordentlich wichtige völkerrechtliche Grundsatz ausgehöhlt. Nur die Verfolgung und Züchtigung machttrunkener Staatsoberhäupter und Regierungsmitglieder verspricht eine abschreckende Wirkung, wenn überhaupt eine angemessene Strafe erfolgen kann.“[24] Auf diesen Standpunkt stellte sich letztlich auch das IMT.
Der Tatbestand der Kriegsverbrechen selbst bereitet keine Schwierigkeiten, da es sich bei den Tatbeständen um eindeutige Verletzungen der Haager Landkriegsordnung und der Genfer Konventionen handelte. Außerdem war es ein allgemein anerkanntes Recht eines Staates Kriegsverbrecher, derer er habhaft wurde, zu verurteilen. Deutschland verfuhr nach derselben Praxis in den von ihm besetzen Gebieten. Die Rechtmäßigkeit der Verurteilung dieser Fälle wurde auch nie ernsthaft in Zweifel gezogen. Lediglich die Geltung HLKO für den Krieg zwischen Deutschland und der Sowjetunion wurde bestritten. Der Gerichtshof wies jedoch daraufhin, dass die HLKO spätestens seit dem Jahre 1939 Völkergewohnheitsrecht war und daher auch für Nichtunterzeichnerstaaten, wie die Sowjetunion, galt.[25]
Beispiele für den Tatbestand Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind Mord, Ausrottung, Versklavung, Freiheitsberaubung etc. Die hiermit geschützten Rechtsgüter – Leben, Gesundheit und Freiheit – waren allesamt auch von dem zur Tatzeit geltenden deutschen Strafrecht geschützt. Die genannten Delikte waren in der gesamten sog. zivilisierten Welt strafbar. Dass eine Abweichung zwischen den Formulierungen im Statut und im deutschen StGB bestand, ist unerheblich. Eine Verurteilung hätte also bei genauer Betrachtung auch nach dem deutschen Recht erfolgen können. Ein Einlassen der alliierten Juristen auf das von den Nazis deformierte StGB war diesen aber kaum zumutbar.[26] Auch wenn man den Rechtseinwand hiermit nicht als widerlegt ansehen sollte, bleibt festzuhalten, dass keinem der Angeklagten durch die Anwendung des Artikel 6 (c) tatsächlich Unrecht geschehen ist.
Zu den Organisationsverbrechen ist zunächst festzuhalten, dass in den §§ 128, 129 StGB in der damaligen Fassung schon von „verbrecherischen Vereinigungen“ gesprochen wurde. Deshalb war die Strafbarkeit von Organisationen dem deutschen Strafrecht keineswegs unbekannt, wie von den Verteidigern oft behauptet. Gegen die Strafbarkeit von Organisationsverbrechen wird eingewendet, diese würde gegen das rechtsstaatliche Schuldprinzip verstoßen.[27] Dieser Vorwurf kann aber nur greifen, wenn die Mitgliedschaft in einer Organisation als solche schon als Straftat gewertet worden wäre. Ein schuldhaftes Verhalten nahm der IMT jedoch nur dann an, wenn zur äußeren Mitgliedschaft und zur Kenntnis der verbrecherischen Ziele zusätzlich die Unterstützung der Organisation durch Teilnahme an und durch Billigung von strafbaren Handlungen nachzuweisen war. Der Einwand greift daher nicht. Am Rande sei nur erwähnt, dass das Reichsgericht jeden für strafbar hielt, der in Kenntnis der Tatumstände an einer verbrecherischen Organisationen teilnimmt, sie unterstützt oder sich ihr anschließt, mag er die Ziele billigen oder nicht.[28] Im Vergleich hierzu war die Auslegung des IMT restriktiv.
Ein Haupteinwand der Verteidigung war der Befehlsnotstand. Das Statut des IMT schloss ausdrücklich in Artikel 8 eine Berufung auf das Handeln auf Befehl als Strafausschließungsgrund aus. Lediglich die Berücksichtigung als Strafmilderungsgrund war zulässig. Die Verteidigung in Nürnberg argumentierte, dass ein Führerbefehl eine rechtsetzende Wirkung gehabt, so dass die Pflicht zum Gehorsam auch als Rechtspflicht bestanden hätte. Doch gerade das wurde im Dritten Reich von Personen wie Hitler und Himmler anders gesehen. Sie sahen die Pflicht zur Befolgung der Führererlasse nicht als Rechtspflicht, sondern als Treuepflicht an.[29] Damit konnte ein Führererlass also Unrecht sein, d.h. ein Verstoß gegen die sonstige Rechtsordnung. In solchen Fällen wäre ein Befehlsnotstand aber undenkbar, denn der § 47 des deutschen Militärstrafgesetzbuches (MStGB) schränkte die Gehorsamspflicht auf rechtmäßige Befehle ein. Ein rechtswidriger Befehl brauchte nicht befolgt zu werden. Dieser Paragraph war auch in dem „Handbuch des Deutschen Soldaten“, das jeder Soldat erhielt, auf der ersten Seite abgedruckt,. Daher beruht die Argumentation auf einer falschen Vorstellung der Rechtsnatur der Führerbefehle. Es liegt also im Artikel 8 auch keine unzulässige Einschränkung der Verteidigung vor.
Weiterer Einwand war der Verweis auf die Gegenseitigkeit des Handelns. Der völkerrechtliche Gleichheitssatz des Tu-Quoque-Prinzips besagt, dass Verbote des Kriegsrechts durch die gegenteilige Praxis der kriegführenden Staaten außer Kraft gesetzt werden können, wenn hierzu eine militärische Notwendigkeit bestand. Grundsätzlich ist dieser Einwand von dem Gerichtshof als unerheblich bezeichnet worden. Die Verteidigung hat den Einwand an verschiedenen Stellen gebracht. Beim Überfall auf Polen mit Hinweis auf das geheime Zusatzprotokoll zwischen Deutschland und der Sowjetunion, das die Teilung Polens vorsah. Bei der Führung des uneingeschränkten U-Boot-Krieges, bei den deutschen Luftangriffen auf Zivilbevölkerung und verschiedene Kriegsverbrechen der Wehrmacht an der Ostfront, jeweils mit dem Verweis auf eine ähnliche Praxis der Alliierten. Der Gerichtshof selber wies diese Einwände als unerheblich zurück. Letztlich kann dieser Einwand auch nicht durchdringen, da er schnell zum Ende des gesamten Kriegsrechtes führen würde. Es wäre auch außergewöhnlich, Unrecht durch den Verweis auf anderes Unrecht nicht zu bestrafen.
Der Hauptprozess in Nürnberg dauerte vom 14. November 1945 bis zum 1. Oktober 1946. Er endete mit 12 Todesurteilen, 7 Haftstrafen und drei Freisprüchen. Schlusspunkt der Geschichte war der Selbstmord von Rudolf Heß, der zu lebenslanger Haft verurteilt war, im Spandauer Gefängnis im Jahre 1987. Festzuhalten ist, dass sich in den vielfältigen Rechtsfragen, die bei weitem nicht alle hier vorgestellt werden konnten, durchaus unterschiedliche Meinungen vertreten lassen. Die deutsche Völkerrechtsliteratur durchzieht wie ein roter Faden eine massive Kritik an dem Urteil des IMT. Das ist wohl in erster Linie mit der Vorherrschaft der sogenannten 131er Juristen zu erklären, die die Urteile massiv als „Siegerjustiz“ abtaten. Etwas anderes ist von Personen, die allesamt ihre berufliche Sozialisation im „Dritten Reich“ erhalten hatten und Verstrickungen erlegen waren, auch nicht zu erwarten.[30] Letztlich lässt sich aber gegenüber der Kritik am IMT sagen, „dass die Verurteilung der Täter jedenfalls moralisch gerechtfertigt war… . Was immer an rechtstheoretischen Einwänden gegen das Urteil vorgebracht werden konnte, so dürften sie durch die nahezu einhellige Billigung ausgeräumt sein, die es – wenn auch mit sehr verschiedenen Begründungen – im Ergebnis erfahren hat“. Robert Sigel formulierte treffend: „Die Justiz der Sieger war keine Siegerjustiz.“[31]
Autor: Patrick Glöckner
Literatur
Benda, Ernst: Der Nürnberger Prozeß, in: Große Prozesse, von Uwe Schultz [Hrsg.], 1996
Jescheck, Hans-Heinrich: Die Verantwortlichkeit der Staatsorgane nach Völkerstrafrecht – Eine Studie zu den Nürnberger Prozessen, 1952
Jung, Susanne: Die Rechtsprobleme der Nürnberger Prozesse – dargestellt am Verfahren gegen Friedrich Flick, 1991
Kempner, Robert M. W.: Ankläger einer Epoche – Lebenserinnerungen, 1983
Müller, Ingo: Furchtbare Juristen – Die unbewältigte Vergangenheit unserer Justiz, 1987
Ostendorf, Heribert: Das Nürnberger Juristenurteil – die stellvertretende Aburteilung der NS-Justiz, in DRiZ 1995, 184 ff.
Seidl–Hohenveldern, Ignaz: Völkerrecht, 1997
Sigel, Robert: Alliierte Kriegsverbrecherprozesse in Deutschland, in Benz, Wolfgang [Hrsg.]: Legenden, Lügen, Vorurteile – ein Wörterbuch zur Zeitgeschichte, 1992
Smith, Bradley F.: Der Jahrhundert-Prozeß – Die Motive der Richter von Nürnberg – Anatomie einer Urteilsfindung, 1977
Zentner, Christian [Hrsg]: Der Nürnberger Prozeß – Dokumentation – Bilder – Zeittafel, 24 Bändige Studienausgabe der Prozeßprotokolle des Internationalen Militärtribunal Nürnberg mit Stichwortverzeichnis und Begleitheft, 1994
Anmerkungen
[1] Hans-Heinrich Jescheck „Die Verantwortlichkeit von Staatsorganen“, S. 16
[2] Robert M. Kempner „Ankläger einer Epoche“, S. 212
[3] Susanne Jung „Rechtsprobleme der Nürnberger Prozesse“, S. 93
[4] James F. Willis „Prologue to Nuremberg“, S. 125
[5] Susanne Jung a.a.O., S.100
[6] Bradley F. Smith „Der Jahrhundert-Prozess“, S. 52
[7] Hans-Heinrich Jeschek a.a.O., S. 126
[8] Bradley F. Smith a.a.O., S. 81
[9] Ernst Benda „Der Nürnberger Prozeß“, S. 340
[10] Robert W. Kempner a.a.O., S.223
[11] Die Angaben entstammen Christian Zentner„Der Nürnberger Prozeß “, S. 10 f des Begleitheftes
[12] Peter Noll in „Rechtliche und politische Aspekte der NS-Verbrecherprozesse“, S. 8
[13] Susanne Jung a.a.O., S. 109 m.w.N.
[14] Christian Zentner Protokolle Band I, S. 486 ff.
[15] Hans-Heinrich Jeschek a.a.O., S. 168 f.
[16] Ignaz Seidl-Hohenveldern „Völkerrecht“, Rdn. 1158
[17] Ignaz Seidl-Hohenveldern a.a.O., Rdn. 688
[18] Ignaz Seidl-Hohenveldern a.a.O., Rdn. 684
[19] Susanne Jung a.a.O., S. 87
[20] Heribert Ostendorf „Das Nürnberger Juristenurteil“ in DRiZ 1995, 184 ff. (187)
[21] Susanne Jung a.a.O. S. 144
[22] Hans-Heinrich Jeschek a.a.O., S. 72
[23] Ernst Benda a.a.O., S. 343 f.
[24] zitiert nach Christian Zentner a.a.O. S 18 f.
[25] Ignaz Seidl-Hohenveldern a.a.O. Rdn. 578
[26] Ingo Müller Furchtbare Juristen“, S. 270
[27] Hans-Heinrich Jescheck a.a.O., S. 400 ff.
[28] RGSt 58, 401 m.w.N.
[29] Hans Buchheim in „Rechtliche und politische Aspekte der NS-Prozesse“, S. 28
[30] siehe zu diesem Thema Ingo Müller a.a.O. S. 272 ff.
[31] Robert Sigel a.a.O. S. 2