Der sogenannte Hudal-Brief spielt eine entscheidende Rolle bei der historischen Rekonstruktion und Beurteilung der Vorgänge während der Judenrazzia in Rom. Bis heute sind die Herkunft und vor allem die Wirkung jenes Briefes strittig.
Kam der Auftrag dazu direkt aus dem Apostolischen Palast des Vatikans? Wollte Papst Pius XII. über den einflussreichen Bischof Hudal in die laufende Razzia gegen die Juden eingreifen und einen außerordentlichen Stopp der Aktion erreichen? Wurde dieser Stopp tatsächlich erreicht?
Samstagfrüh, den 16. Oktober 1943, um 5:30 Uhr hatte in Rom die großangelegte Razzia zur Ergreifung aller Juden begonnen. In den folgenden Stunden wurden im alten Ghetto und überall in Rom Juden verhaftet und ins Sammellager Collegio Militare im Herzen Roms unweit von der Engelsburg gebracht.[1]
Gleich nach seiner Machtübernahme in Italien (10. September 1943) hatte Hitler befohlen, die römischen Juden deportieren zu lassen und der Endlösung zuzuführen. Das war der politisch brisanteste „Judenbefehl“ während des Krieges. Weder Hitler, noch das SS-Reichssicherheitsamt, noch das Außenamt wussten, wie Papst Pius XII. darauf reagieren würde. Hitler ließ es darauf ankommen.
Papst Pius XII. im Vatikan wurde zeitnah alarmiert. Eine Vertraute Pius XII., die Principessa Pignatelli d´Aragona Cortes, war in der Frühe zum Apostolischen Palast geeilt, um von der angelaufenen Razzia zu berichten.[2]
Der Text
Gegen Mittag oder am frühen Nachmittag am Razzia-Samstag, den 16. Oktober, traf beim hiesigen Stadtkommandanten Generalmajor Stahel ein Brief von Bischof Alois Hudal ein. Der österreichische Bischof Hudal war der Rektor des deutschen Priesterkollegs mit der angeschlossenen „deutschen Nationalkirche“ Santa Maria dell’Anima an der Piazza Navona.
Der Text lautet:[3]
Herrn Generalmajor Stahel
Deutsches Kommando Rom
Ich darf hier eine sehr dringende Angelegenheit anschließen. Eben berichtet mir eine hohe Vatikanische Stelle aus der unmittelbaren Umgebung des Heiligen Vaters, dass heute morgen die Verhaftungen von Juden italienischer Staatsangehörigkeit begonnen haben. Im Interesse des friedlichen Einvernehmens zwischen Vatikan und deutschem Militärkommando bitte ich vielmals, eine Order zu geben, dass in Rom und Umgebung diese Verhaftungen sofort eingestellt werden. Das deutsche Ansehen im Ausland fordert eine solche Maßnahme und auch die Gefahr, dass der Papst öffentlich dagegen Stellung nehmen wird. Da in nicht zu ferner Zeit das Deutsche Reich den Vatikan für bestimmte Aufträge benützen dürfte – ich weiß, dass bereits im März getastet worden ist – würde ein grosser Schaden für die Sache des Friedens herauskommen, wenn die Judenverfolgungen zu einem weiteren Dissens zwischen dem Vatikan und Reich führen würden.
Hudal war in Rom eine einflussreiche Persönlichkeit. Gern übte er sich in der Rolle einer grauen Eminenz, die im Hintergrund Fäden zog. Politisch stand er der Ideologie des Nationalsozialismus nahe. Allerdings lehnte er die Rassenlehre und deren Umsetzung ab. Seit vielen Jahren schon verfolgte er sein Herzensanliegen: den katholischen Glauben bzw. die Kirche mit dem Nationalsozialismus zu versöhnen. Allerdings stieß er bisher weder mit seinem Grundsatzbuch[4], noch mit seinen Hinterzimmergesprächen in Berlin und im Vatikan auf Interesse.
Bischof Hudal besaß in Rom viele Kontakte, die er reichlich ausnutzte. In dem Brief heißt es, dass er von hoher vatikanischer Stelle – aus der Umgebung des Heiligen Vaters – über die Judenrazzia informiert worden sei. Der Informant war Carlo Pacelli, Neffe Pius XII.[5] Der bürgerliche Pacelli hatte in der Kurie des Vatikans verschiedene Ämter inne und stand öfters in Kontakt mit Hudal.
Der Adressat des Briefes und einige Andeutungen werfen erste Fragen auf. Warum wandte sich Bischof Hudal an den (Wehrmachts-)Stadtkommandanten, um von ihm eine Order zum Stopp der Razzia zu fordern? General Stahel war dafür die falsche Adresse. Weder die Stadtkommandantur, noch andere Wehrmachtseinheiten hatten etwas mit der Judenrazzia zu tun. Das war federführend Sache der SS bzw. des SD. Wenn Bischof Hudal ernsthaft eine Stopp-Order der Razzia in Rom erreichen wollte, wäre der römische SS-Polizeichef und SD-Kommandeur Herbert Kappler der erste Ansprechpartner gewesen. Fehlende Kenntnis über die Kommandostrukturen in Rom und im ganzen „Reich“ allgemein und über die Zuständigkeiten zur „Judenfrage“ konnte man Hudal nicht nachsagen. Im Gegenteil.
Kam Carlo Pacelli aus eigenem Antrieb zu Hudal oder wurde er geschickt – wenn ja, von wem? Für die Verteidiger Pius XII. ist klar: Papst Pius höchstpersönlich hatte seinen Neffen beauftragt, bei Hudal dringlich vorzusprechen. Carlo sollte erreichen, dass der Bischof den Stadtkommandanten unter Druck setzte. Das sei die dritte Intervention Pius XII. gegen die laufende Razzia gewesen.
Wurde der Hudalbrief tatsächlich direkt aus dem Apostolischen Palast veranlasst? In den ADSS-Akten ist dazu nichts vermerkt. Bischof Hudal hat nie behauptet, dass Carlo Pacelli von Pius XII. geschickt worden war.
Man kommt den wahren Urhebern des Hudalbriefes stärker auf die Spur, wenn man den weiteren Verbleib des Schreibens verfolgt. Es wurde nämlich alsbald vom Schreibtisch General Stahels weggeholt und noch am Abend des 16. Oktober nach Berlin ins Außenamt telegrafiert. Verantwortlich dafür war Gerhard Gumpert von der Deutschen Botschaft. Gumpert war dort ein Mitarbeiter mittleren Ranges. Eigentlich hätte sein Chef Konsul Moellhausen die Weiterleitung nach Berlin vornehmen müssen, aber der war zur Zeit der Razzia nicht in Rom.
Der Text des Briefes, den Gumpert ins Außenamt schickte, weicht leicht vom Originaltext des Hudalbriefes ab. Es heißt (Abweichungen kursiv):[6]
„… Im Interesse des guten bisherigen Einvernehmens zwischen dem Vatikan und dem hohen deutschen Militärkommando, das in erster Linie dem politischen Weitblick und der Großherzigkeit Eurer Exzellenz zu verdanken ist und einmal in die Geschichte Roms eingehen wird, bitte ich vielmals, eine Order zu geben, dass in Rom und Umgebung diese Verhaftungen sofort eingestellt werden; ich fürchte, dass der Papst sonst öffentlich dagegen Stellung nehmen wird, was der deutschfeindlichen Propaganda als Waffe gegen uns Deutsche dienen muss.“
Auffällig sind der lobende Satzeinschub über den politischen Weitblick Stahels, die Umformulierungen und die Kürzung am Ende. Das brachte zwar keine Sinnänderung, ist aber doch ungewöhnlich.
Warum gab es diesen Eingriff in den Text? Durfte sich Gerhard Gumpert, der nicht-diplomatischer Mitarbeiter in der Botschaft war, einfach erlauben einen fremden Brief zu verändern, einen Brief, der vom namhaften Bischof Hudal stammte und vom Stadtkommandanten persönlich abgezeichnet wurde? Gumpert hatte sich doch die Aufgabe gestellt, nur das Eil-Schreiben in Berlin zur Kenntnis zu geben.
Warum mischte sich überhaupt die Botschaft in den Vorgang ein? Und woher wusste man dort so zeitnah vom Hudalbrief an Stahel? Wieso ist in dieser Angelegenheit nicht die Vatikanbotschaft Weizsäcker tätig geworden? Schließlich ging es um die gravierende Frage nach einem möglichen Papstprotest gegen die Judenverfolgung.
Eine gerichtliche Aussage
Es ist einem seltenen Dokument zu verdanken, das Licht in die Sache bringt: eine eidesstattliche Erklärung, die Gerhard Gumpert für den Weizsäcker-Prozess des Nürnberger-Kriegsverbrechertribunals gemacht hat. Gumpert beeidete seine Aussage sehr zeitnah am 2. April 1948 vor dem öffentlichen Notar Rath in Stuttgart. Die Erklärung ist bislang noch nicht vollständig veröffentlicht worden.[7] Gumpert sagte aus, dass er am Morgen der Razzia von seiner Sekretärin Anneliese Krüger über begonnene Judenverhaftungen unterrichtetet worden sei. Er habe daraufhin sofort General Stahel angerufen. Doch dieser habe vorgegeben, nichts von der Aktion zu wissen.
Gumpert wörtlich:
„Daraufhin telefonierte ich mit meinem befreundeten Kollegen von Kessel von der Vatikan Botschaft, um zu beraten, was zu tun sei. Wir kamen überein, dass er einen ihm vertrauten Würdenträger des Vatikans bitte, noch am Vormittag einen Brief bei General Stahel zu übergeben, in dem das Entsetzen des Vatikans und des Heiligen Vaters über die Massnahmen zum Ausdruck kommen sollte. Dieser Brief sollte dann die Basis für weitere Schritte an zentraler Stelle durch mich und seine Botschaft, also Herrn von Weizsäcker, bilden. Auf Veranlassung von Herrn von Weizsäcker wandte sich von Kessel an den Salvatorianer Pater Pankratius Pfeiffer, der auch tatsächlich gegen Mittag den Brief dem General Sta[h]el übergab. Darin stand ausser dem von mir Erwarteten noch, wenn die Abtransporte nicht sofort eingestellt würden, müsse man zum ersten Male seit Kriegsbeginn mit einer einseitigen Äusserung des heiligen Vaters rechnen.
…
3.) Mit dem Hinweis, dass es sich um eine eminent politische Angelegenheit handele, erbat ich den Brief von General Sta[h]el und telegrafierte entsprechend nach Berlin. Als das Telegramm gerade abgesetzt war, rief mich Herr von Weizsäcker selbst an und fragte: „ob der Brief schon da sei“? Daraufhin erbat von Weizsäcker den Brief und einen Durchdruck meines Telegramms, weil er selbst sofort nach Berlin berichten wolle.“
Es gibt keine Gründe, am Inhalt dieser eidesstattlichen Erklärung von Gumpert zu zweifeln. Obwohl sich Gumpert nur knapp ausdrückte, dürfte sich – unterstützt durch die anderweitig bekannten Details – der Vorgang um den Hudalbrief folgendermaßen abgespielt haben:
Nachdem die Nachricht von der Judenrazzia die Villa Wolkonsky und die Vatikanbotschaft erreicht hatte, berieten sich Albrecht von Kessel und sein Freund Gerhard Gumpert. Sie suchten nach einem möglichen Schritt, der Berlin aufrütteln sollte. Dieser Schritt durfte aber keinen offiziellen Charakter haben. Berlin sollte von einer kirchlichen Quelle das deutliche Signal bekommen, dass Judenverhaftungen in Rom für den Vatikan nicht hinnehmbar seien. Der in Rom einflussreiche deutsche Bischof Hudal schien dafür besonders geeignet. In Berlin wusste man von Hudal und von seinen „Versöhnungsbemühungen“ zwischen Katholizismus und Nationalsozialismus.
Damit Bischof Hudal von einer vatikanischen Besorgnis im Brief sprechen konnte, mussten Kessel und Gumpert jemanden aus dem Umfeld des Staatssekretariats oder noch besser des Apostolischen Palastes beauftragen. Dafür bot sich Pius’ Neffe Carlo Pacelli an. Die Vatikanbotschaft hatte Kontakt zu Pacelli, und dieser kannte Hudal gut. Die Kontaktaufnahme zu Carlo Pacelli fand noch am Vormittag statt. Er muss sich sofort bereit erklärt haben, den Auftrag auszuführen. Ob Kessel und Gumpert ihm einen Textentwurf für Hudal mitgaben, ist unklar. Vermutlich haben sie Pacelli nur mündlich instruiert. Das legt ihr nachträglicher Eingriff in den Text des Hudalbriefes nahe.
Pacelli sollte den Brief nicht selbst zur Stadtkommandantur bringen, sondern Pater Pfeiffer. Offensichtlich wusste die Vatikanbotschaft, dass Pfeiffer den päpstlichen Auftrag hatte, zu Stahel zu gehen. Diese Gelegenheit wurde aufgegriffen und Pfeiffer gebeten, gleich auch einen Brief von Bischof Hudal zu übergeben. Vermutlich am späten Nachmittag dann erbat Gerhard Gumpert von General Stahel den Brief mit der Begründung, dass der Vorgang eine politische Dimension besitze. Berlin müsse davon Kenntnis haben. Am Abend telegrafierte Gumpert den Brief ins Außenamt Wilhelmstraße.
Pius XII. und der Hudalbrief
Pius XII. war am Vorgang des Hudalbriefes nicht beteiligt. Die vielfach vorgetragene Behauptung, dass der Papst höchstpersönlich seinen Neffen Carlo Pacelli zu Bischof Hudal geschickte habe, um ultimativ eine Protestgefahr zu lancieren,[8] ist nicht korrekt.
Selbst wenn Papst Pius an eine Intervention gedacht hätte, wäre ein Vorstoß ausgerechnet über den zwielichtigen Bischof Hudal kaum eine Option gewesen. Schon seit einiger Zeit herrschte Eiszeit zwischen ihm und dem umtriebigen Rektor der Anima. Hudals NS-Einschätzung und ideologische Position, sein berechnendes Einschmeicheln und seine egozentrischen Winkelzüge waren unerträglich geworden. Ein Brief aus der Feder Hudals über die rote Linie des Vatikans an den Stadtkommandanten war für Pius sicherlich nur schwer vorstellbar.
Auch der mittlerweile verstorbene Vatikanhistoriker Robert Graham SJ, der Papst Pius immer verteidigte und sein Verhalten während der Judenrazzia rundum positiv beurteilte, hielt den Hudalbrief letztlich für mysteriös. Es könne nicht klar gesagt werden, wer der Initiator sei.[9]
Stahels Antwort an Hudal
Dem Stadtkommandanten Stahel waren die Eingabe Pius XII. und der Hudalbrief höchst unangenehm. Als Wehrmachts-Kommandant konnte er gegen eine SS-Razzia nichts direkt tun, aber er konnte zuständige Stellen informieren.
Am Sonntag, den 17. Oktober, schrieb er handschriftlich an Bischof Hudal zurück:[10]
„Bezüglich Ihrer Bemerkung, dass in Rom und Umgebungen Verhaftungen von Juden stattgefunden haben, kann ich Ihnen mitteilen, dass ich persönlich als Militärkommandant damit nichts zu tun habe. Es handelt sich dabei um eine reine Polizeiaktion, auf die ich keinerlei Einfluss habe, da meine Aufgaben auf rein militärischem Gebiete liegen. Trotzdem habe ich selbstverständlich Ihre Bedenken den zuständigen Stellen umgehend zur Kenntnis gebracht.“
In einer Notiz bemerkt Bischof Hudal einen telefonischen Rückruf Stahels am 17. Oktober. Stahel habe gesagt:[11]
„Habe die Sache der hiesigen Gestapo und an Himmler unmittelbar sofort weitergeleitet, Himmler gab Order, dass mit Rücksicht auf den besonderen Charakter Roms diese Verhaftungen sofort einzustellen sind.“
Order von Himmler, die Verhaftungen sofort einzustellen? Diese Telefonnotiz Hudals ist sensationell. War das die ersehnte Lösung? Gab es tatsächlich einen außerordentlichen Befehl Himmlers mit der Judenjagd aufzuhören – wegen des besonderen Charakters der Stadt?
Kein Stopp-Befehl
Der Gang der Ereignisse und die dazugehörigen Dokumente zeigen, dass es diesen Befehl nicht gab. Die Razzia am 16. Oktober wurde planmäßig zu Ende geführt. Bis auf das letzte Haus im Ghetto und bis auf die letzte Judenadresse in Rom war die Liste Dannecker abgearbeitet worden. Das entsprechende Vollzugstelegramm Danneckers und Kapplers ist klar.[12] Die Razzia war so durchgeführt worden, wie der Plan es vorsah. Allein das Abtauchen einzelner Juden vor dem Zugriff hatte Probleme bereitet – besonders wenn hilfsbereite Römer Fluchtunterstützungen leisteten. Gegenbefehle oder irgendwelche neuen Weisungen gab es nicht. Der reguläre Abtransport der Gefangenen wurde im Telegramm wie vorgesehen auf Montag, den 18. Oktober terminiert.
In den nächsten Tagen wurden weitere kurze Funksprüche ans Reichssicherheitshauptamt geschickt. Sie meldeten die Abfahrt des Deportationszuges. Die Telegramme wurden wie die Dannecker-Kappler-Meldung vom britischen Geheimdienst dechiffriert und dem US-amerikanischen OSS zur Verfügung gestellt.[13]
Am 20. Oktober bestätigte General Harster, der unmittelbare Vorgesetzte Kapplers, von Rom aus den Judentransport. Harster war offensichtlich wie geplant noch bis Mittwoch in Rom geblieben. Die dienstliche Meldung der Deportation hatte er selbst in die Hand genommen. Er schrieb, dass der Transport mit der Nr. X70469 am 18. Okt. Rom verlassen habe und über Wien und Prag nach Auschwitz gehe. Bei Arnoldstein würde er die Grenze passieren. Ausdrücklich machte Harster darauf aufmerksam, dass für den Transport bis zum Ende der Fahrt eine Bewachung dringend erforderlich sei. Man möge daher entsprechende Vorsorge treffen.
Die reguläre Deportation der römischen Juden erst am dritten Tag nach der Razzia zeigt, mit welcher Gelassenheit die Aktion zu Ende geführt wurde. Es gab zu keiner Zeit auch nur einen vorübergehenden Aufschub aus Berlin.
Eine These zur Verteidigung Pius XII.
Ungeachtet des historischen Faktums des regulären Endes der Judenrazzia in Rom, wird von vielen Autoren die These vertreten, dass die telefonische Mitteilung Stahels an Hudal zum sofortigen Ende der Razzia der Wahrheit entspreche. Letztlich sei es der Interventionen Pius XII. zu verdanken, der mittels des Hudalbriefes und durch eine besondere Instruktion des „Briefträgers“ Pater Pankratius Pfeiffer einen Stopp der Razzia und die Rettung der großen Mehrzahl der römischen Juden erreichte.
Zum ersten Mal wurde diese These von der Hauszeitschrift der römischen Jesuitenzentrale Civiltà Cattolica gegen Ende des Seligsprechungsprozesses zu Pius XII. publiziert.[14] Der Untersuchungsrichter des Prozesses, Prof. Pater Peter Gumpel SJ, unterstützte von Beginn an die Behauptung.[15] Belege für den überraschenden Razzia-Stopp können weder er noch die vielen anderen gleichgesinnten Autoren vorweisen.[16] Zuletzt hat das Deutsche Historische Institut in Rom in einer eigenen Studie zur Judenrazzia die Stopp-These und die einhergehende Rettung der Mehrzahl der Juden Roms ausdrücklich zurückgewiesen.[17]
Die kurze Telefonnotiz von Bischof Hudal, dass Himmler den sofortigen Stopp der Verhaftungen befohlen habe, ist mysteriöser. Hatte Hudal die Meldung schlicht erfunden? Dafür hätte er eine Menge Gründe gehabt. Eine Erfindung aus der hohlen Hand ist aber unwahrscheinlich. Vielmehr dürfte Hudal bei seinem Telefonat mit Stahel diesen missverstanden haben. Als Stahel mit Himmler telefoniert hatte, konnte er beruhigt worden sein: Die Razzia sei beendet. Er brauche sich keine Sorgen wegen Unruhen in der Stadt machen. Wenn General Stahel am Sonntag, den 17. Oktober, das Monsignor Hudal in irgendeiner Form mündlich mitteilte, entsprach es der Lage. Seit Samstagnachmittag gab es ja keine Verhaftungen mehr. Alle adressbekannten Juden Roms waren angefahren worden.
Aus Unkenntnis der tatsächlichen Vorgänge dürfte Hudal die Mitteilung Stahels aus dem Himmler-Telefonat als „Abbruch“ missverstanden oder in diese Richtung gedeutet haben.
Autor: Dr. theol. Klaus Kühlwein
Anmerkungen
[1] Zu den Vorgängen rund um die Razzia vgl. R. Katz: Black Sabbath. The Politics of annihilation. The harrowing story of the Jews in Rome 1943, London 1969; F. Coen: 16 ottobre 1943. La grande razzia degli ebrie di Roma, 2. Aufl., Firenze 1994; 16 ottobre 1943. La deportazione degli ebrei romani tra storia e memoria. A cura die M. Baumeister, A.O. Guerrazzi, C. Procaccia, Reihe: Ricerche dell’Istituto Storico Germanico di Roma, Bd. 10, Rom 2016; K. Kühlwein: Pius XII. und die Judenrazzia in Rom, 2. Aufl., Berlin 2013; ders.: Die Liste Dannecker. Als der Holocaust zu Pius XII. kam, TB-Ausg., Berlin 2014
[2] Vgl. TV-Interview der Principessa Pignatelli-d’Aragona, in: Pius XII, der Papst, die Juden und die Nazis, (BBC, 1995); Aussage gegenüber Graham: La strana condotta di E. von Weizsäcker, Ambasciatore del Reich in Vaticano, in: La Civiltà Cattolica 121 (1970), S. 455-7, hier S. 466.
[3] Der Hudalbrief ist auf Deutsch dokumentiert in Bd. 9, Dok. 373, S. 509f der „Actes et documents du Saint Sièges relatifs à la Secondes Guerre mondiale“ (ADSS), hrsg. von P. Blet, R. Graham, A. Martini, B. Schneider, 11 Bde., Città del Vaticano 1965-81. Original: Archivio Santa Maria dell‚Anima (ASMA), K 34, f. 373r.
[4] Hudal, A.: Die Grundlagen des Nationalsozialismus. Eine ideengeschichtliche Untersuchung, Leipzig/Wien 1937 (Nachd. Faksimile: Bremen 1982).
[5] ADSS 9, Dok. 373, S. 510. Hudal: Römische Tagebücher, Graz 1976, S. 213f. Unter Historikern ist die Pacelli-Mission zu Hudal unumstritten.
[6] Politisches Archiv Auswärtiges Amt (PA AA) Inland II g, 5789/E421 514.
[7] Weizsäcker-Prozess Case No. 11, Exhibit-No. 319, Weizsäcker Doc. No. 241. Signatur im Institut für Zeitgeschichte München: MB 26/119.
[8] Z.B.: R. Rychlak: Hitler, the War and the Pope, 2.Ed., Huntington 2010, S. 233; A. Tornielli: Pio XII. Il Papa degli Ebrei, Casale Monferrato 2002, S. 285f; M. Hesemann: Wie die jüdische Gemeinde Roms die Nazis überlebte, in: Vatican-Magazin, Nr. 11 (2010), S. 30-35, hier S. 32.
[9] Graham: La strana condotta, S. 465.
[10] ASMA, K 34, f. 373r.
[11] Ebd.
[12] Bundesarchiv (Berlin-Lichterfelde): Persönlicher Stab Reichsführer SS (NS 19/1880).
[13] Harster to Berlin, via Rome, 20. Oct. 1943, decode 7732, NA, RG 226 Entry 122, Misc. X-2 Files, box 1, folder 5-Italien Decodes. Dannecker to RSHA IV B 4, 21. Oct. 1943, decode 7754, ibd.
[14] G. Sale: Roma 1943. Occupazione nazista e deportazione degli ebrei Romani, in: La Civiltà Cattolica 154 (2003), S. 417-29, hier S. 224; ders.: Hitler, la Santa Sede e gli ebrei. Con documenti dell´archivio Segreto Vaticano, Milano 2004, S. 195.
[15] Vgl. früh Gumpels schriftliche Stellungnahme zum Buch von Cornwell „Hitlers Pope“: Cornwell’s Pope: ‚A Nasty Caricature of a Noble and Saintly Man‘. Point by Point Rebuttal by Church Historian, in ZENIT, 16. Sept. 1999; ders.: Pope Pius XII and the attitude of the Catholic Church during World War II, in: The Angelus. A Journal of Roman Catholic Tradition, Mai 2009; ders.: The General Beelitz Testimony, in: Pope Pius XII and the attitude of the Catholic Church during World War II, hrsg. von G. Krupp, 4. Aufl., Pave the Way Foundation 2014, hier S. 99; abgedruckt im italienischen Original in: P. L. Guiducci, Il Terzo Reich contro Pio XII. Papa Pacelli nei documenti nazisti, Milano 2013, S. 344ff.
[16] Z.B.: R. Rychlak: Righteous Gentiles, S. 130f); Gallo (sein Sammelband: Pius XII, the Holocaust and the Revisionists; darin vor allem sein Artikel: To Halt the Dreadful Crime, S. 126f); Hesemann (vor allem: Wie die jüdische Gemeinde Roms die Nazis überlebte, in: Vatican-Magazin, Nr. 11 (2010), S. 30-35; Der Papst, der Hitler trotzte. Die Wahrheit über Pius XII., Augsburg 2008, S. 129f); Tornielli: Pio XII. Il Papa degli Ebrei, S. 289f; Gaspari: Gli ebrei salvati da Pio XII, Roma 2001, S. 19, 22;
[17] 16 0ttobre 1943. La deportazione degli ebrei romani tra storia e memoria. A cura die M. Baumeister, A.O. Guerrazzi, C. Procaccia, Reihe: Ricerche dell’Istituto Storico Germanico di Roma, Bd. 10, Rom 2016; bes. S. 58f.