Christian A. Braun/Michael Mayer/Sebastian Weitkamp (Hrsg.), Deformation der Gesellschaft? Neue Forschungen zum Nationalsozialismus, Berlin 2008.
Der vorliegende Sammelband vereinigt die Forschungsarbeiten ehemaliger und gegenwärtiger Stipendiaten der Friedrich-Ebert-Stiftung, die sich in ihren Dissertationen intensiv mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzten. Ziel der Herausgeber war es dabei, nicht allein einen historischen Ansatz zu wählen, sondern Autoren verschiedener Fachdisziplinen zu Wort kommen zu lassen. Ein möglichst breitgefächertes Bild des nationalsozialistischen Deutschland entsteht dadurch, dass sowohl die Bereiche Wehrmacht und Polizei, Diplomatie, Propaganda – und hiervon kaum zu trennen – Politik und Kultur umfasst werden. Gemeinsames Erkenntnisinteresse der Beiträge dieser Vertreter der jüngeren Forschungsgeneration ist die Frage, inwieweit von einer Deformation der Gesellschaft im „Dritten Reich“ gesprochen werden kann. Nach Auffassung der Autoren greifen Fragestellungen nach Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der deutschen Geschichte zu kurz, denn die Nationalsozialisten siedelten sich einerseits in einer deutschen Traditionslinie an, brachen aber zugleich mit dieser, so dass Hitlers Aufstieg weder als „Betriebsunfall“ noch als unabwendbare Konsequenz der deutschen Entwicklung erklärt werden kann. Zudem verstellten antagonistische Sichtweisen, wie die der »Intentionalisten« und der »Funktionalisten« bei der »Endlösung der Judenfrage«, den Blick auf das komplexe Geschehen.
Zunächst analysiert Daniel Schmidt, 2007 mit einer Arbeit über die Schutzpolizei im Ruhrgebiet in der Zwischenkriegszeit promoviert, die Verortung der preußischen Polizeioffiziere zwischen Weimarer Republik und Nationalsozialismus. Für deren Selbstverständnis und Ansehen bildeten stets die Offiziere der Reichswehr die maßgebliche Referenzgruppe. Der idealtypische Polizeioffizier galt als militärischer Führer. Dies führte zu einem übersteigerten Konkurrenzdenken zur Wehrmacht, in dem Schmidt eine Erklärung dafür sieht, »dass sich viele jüngere Polizeioffiziere im kommenden Weltanschauungs- und Vernichtungskrieg als Kompanie- und Zugführer durch besondere Radikalität hervorgetan haben« (S. 21 f).
Die Deformation der Militärelite erörtert Timm C. Richter. Er arbeitet heraus, dass der Erste Weltkrieg der Leitidee vom „totalen Krieg“ endgültig zum Durchbruch verhalf, schon die Heeresreform der „Ära Seeckt“ den Aufbau eines totalen Wehrstaates im Blick hatte und das spätere Scheitern der Generäle Groener und Schleicher keineswegs eine Zäsur für die Militärelite bedeutete. Nach Richter ließen »kaltes militärisches Kalkül und die Illusion über die eigenen Möglichkeiten das Militär zu einem integralen Bestandteil des NS-Staates werden«, die in eine »Selbstgleichschaltung« der Reichwehr mündete (S. 38 f.). Richter wendet sich gegen eine Bewertung des Chefs der Heeresleitung, General Fritsch als konservativen Gegenpol zu Blomberg und Reichenau zu betrachten. Tatsächlich habe sich Fritsch jede Kritik an der Person Hitlers verbeten und schon in einem Schreiben an Joachim von Stülpnagel vom 16.11.1924 sein Feindbild klar umrissen: »Ebert, Pazifisten, Juden, Demokraten, Schwarzrotgold« (S. 40).
Sebastian Weitkamp, mit einer Studie über das Auswärtige Amt und die »Endlösung der Judenfrage« promoviert[1], untersucht in seinem Beitrag über Polizei-Attaches und SD-Beauftragte an den deutschen Auslandsmissionen das Verhältnis dieser »Vernichtungskrieger mit Diplomatenstatus« (S. 65) zum Auswärtigen Amt. Er kommt zu dem Schluss, dass die Konflikte zwischen Missionschefs und SS-Attaches nach 1945 übertrieben wurden und gerade bei der „Judenpolitik“ eine weitgehend reibungslose Zusammenarbeit festzustellen sei. Besonders unter Ribbentrops Führung seit 1938 sei das Auswärtige Amt in allen Bereichen stark nationalsozialistisch geprägt worden und »deformierte vom klassischen Instrument der Außenpolitik zum willigen Erfüllungsgehilfen der „Endlösung“« (S. 74). In dem zweiten, die Diplomatie betreffenden Beitrag thematisiert Daniel Roth am Beispiel der Deutschen Gesandtschaft in Stockholm auf dem Höhepunkt ihres Ausbaus im Zweiten Weltkrieg den »Mikrokosmos der NS-Außenpolitik«. Roth, der 2007 seine Dissertation zu diesem Thema an der Uni Flensburg vorgelegt hat, sieht die Deformation dieser Institution in einem durch die polykratische Ämterkonkurrenz bedingten Konkurrenz- und Anpassungsdruck begründet. Trotz allem vordergründigen Neben- und Gegeneinander, Intriganten- und Dilettantentum sowie dem kriegsbedingten Wildwuchs der Dienststellen an der Stockholmer Botschaft hätten die nach Stockholm entsandten deutschen Diplomaten letztlich nicht als Sand, sondern Öl im Getriebe der Kriegsanstrengungen des „Dritten Reiches“ gewirkt. Die Deformation dieser Institution habe sich in der Anpassung an das nationalsozialistische Leitbild des vorbehaltlos loyalen Interessenvertreters einer zur Staatsideologie erhobenen Weltanschauung realisiert.
In seinem Aufsatz zur Bedeutung der NS-Propaganda für die Eroberung staatlicher Macht und die Sicherung politischer Loyalität vertritt Daniel Mühlenfeld, Doktorand an der Universität Jena, die These, dass die Goebbels-Propaganda »entgegen der bisherigen Forschungsmeinung keineswegs das zentrale Instrument zur Erringung staatlicher Macht vor und Sicherung politischer Loyalität nach 1933 gewesen ist« (S. 93). In der Tat enthalten die von Mühlenfeld herangezogenen Akten reichhaltiges Material, welches zum einen erhebliche organisatorische Defizite der Reichspropagandaleitung und zum anderen den dezentralen Charakter der NS-Propaganda vor 1933 zeigen. So handelt es sich bei der immer noch vorhandenen Sichtweise, Goebbels‘ effektive Meinungsmanipulation habe weite Teile der Bevölkerung zum Nationalsozialismus verführt, um eine Übernahme von Goebbels‘ Selbststilisierung, der schlechthin geniale Dirigent der öffentlichen Meinung gewesen zu sein. Zahlreiche Befunde sprechen dafür, »dass die Wirkungsmächtigkeit der NS-Propaganda auch im „Dritten Reich“ weniger auf Manipulationen, als vielmehr auf der Bereitstellung medialer Inhalte beruhte, von denen das Regime wusste oder zumindest hinreichend sicher vermutete, dass diese von der Bevölkerung nachgefragt waren [ … ] Die Bindekraft des Nationalsozialismus lag also vielmehr in der Befriedigung elementarer Wünsche, Bedürfnisse und Erwartungen der Bevölkerung« (S. 107 f).
Der »normierte Tod« betitelt Christian A- Braun, der mit einer Dissertation zum nationalsozialistischen Sprachstil hervorgetreten ist[2], seinen Beitrag zur sprachlichen Gleichschaltung von Todesanzeigen für gefallene Soldaten im »Dritten Reich«, dargestellt am Beispiel des Gauorgans »Der Führer«. Dass die Presse im Nationalsozialismus rechtlich, wirtschaftlich und inhaltlich gelenkt wurde, ist bekannt nicht jedoch die Übergriffsversuche in Form von Sprachregelungen auf private Texte wie Todesanzeigen. Der Autor beschreibt, wie das Regime die Trauerkultur um Millionen Menschen, die es in den Tod schickte, zu verändern suchte. Nachdem in den Augen des Regimes das subversive, Wehrkraft und Volksgemeinschaft unterminierende Verhalten der Angehörigen in den Anzeigen für ihre gefallenen Soldaten darin bestand, zu selten den Heldentod für Führer und Vaterland zu rühmen, wurden in einem langen Prozess bis September 1944 erfolgreich verbindliche Sprachregelungen geschaffen: »Für Führer, Volk und Reich gaben ihre Leben. Oder: Für Führer, Volk und Vaterland starben den Heldentod« (S. 119). Sämtliche Gestaltungsspielräume wurden nivelliert und den privaten Anzeigen »der Charakter eines Formulars« verliehen (S. 144).
Mit den Gemeinsamkeiten und Unterschieden bei der Behandlung ausländischer Juden in Deutschland und Frankreich befasst sich Michael Mayer im Anschluss an seine Dissertation.[3] In den Regierungen und Gesellschaften beider Staaten stellt der Autor einen Konsens in der angeblichen „Notwendigkeit“ einer antijüdischen Politik fest die auch dazu führte, dass sich die gesetzlichen Regelungen nicht nur auf ausländische und kurzzeitig eingebürgerte Juden beschränkten, sondern in beiden Staaten Gesetze erlassen wurden, um den öffentlichen Dienst sowie Medizin und Justiz auch von inländischen Juden zu „säubern“. Ein jähes Ende dieser Gemeinsamkeiten konstatiert Mayer beim »außerstaatlichen Vorgehen der radikalen Nationalsozialisten gegen die Juden« – das »keinerlei Entsprechung in Frankreich« fand (S. 162).
Erinnerung in der Exilliteratur an Berlin, insbesondere den Berliner Tiergarten, reflektiert Susanna Brogi, die zu diesem Themenkomplex auch ihre Dissertation verfasst hat.[4] Anders als Privatgärten unterlag der Tiergarten schon bald restriktiven behördlichen Bestimmungen, die den als »jüdisch« diffamierten Teil der Bevölkerung systematisch erniedrigten. Brogi beschließt ihre Erörterung mit einer Tagebuchnotiz von Witold Grombowicz, der im argentinischen Exil den Holocaust überlebt hatte. Als er sich zur Zeit des Kalten Krieges vorübergehend in Berlin aufhielt, ließen ihn »die polnischen Düfte im Tiergarten den eigenen Tod wittern« (S. 188). So zeigt diese Tagebuchnotiz Berlin und den Tiergarten als Orte, an denen sich zusätzlich die außerhalb Deutschlands begangenen deutschen Verbrechen angelagert haben. Die Bewertung Brogis, dass »die Gesellschaft und deren repräsentativen Orte ebenso wie der literarische Ort Tiergarten eine die Spuren der realen Zerstörung Überdauernde irreversible Deformation erfahren« haben (ebd.), sollte als heuristisches Prinzip im Hinblick auf bleibende Deformationen gesellschaftlicher Gruppen und Institutionen Anwendung finden.
Die Autoren/innen des Sammelbandes haben von den Polizeioffizieren über die Militärelite, SS-Diplomaten, den Mikrokosmos einer Gesandtschaft, der Bedeutung der NS-Propaganda, sprachlichen Gleichschaltung, Ausgrenzung von Juden und Fallbeispielen literarischer Rezeption neue Forschungsansätze vorgelegt und materialreich belegt, die im wissenschaftlichen Diskurs vertieft werden sollten.
Autor: Wigbert Benz. Erstveröffentlichung: : Archiv für Sozialgeschichte. Band 48 (2008), S. 768-770
Christian A. Braun/Michael Mayer/Sebastian Weitkamp (Hrsg.), Deformation der Gesellschaft? Neue Forschungen zum Nationalsozialismus, Wissenschaftlicher Verlag Berlin, Berlin 2008, 191 S., kart., 24,80 €
Anmerkungen
[1] Sebastian Weitkamp, Braune Diplomaten. Horst Wagner und Eberhard von Thadden als Funktionäre der Endlösung, Bonn 2008.
[2] Christian A. Braun, Nationalsozialistischer Sprachstil. Theoretischer Zugang und praktische Analysen auf der Grundlage einer pragmatisch-textlinguistisch orientierten Stilistik, Heidelberg 2007.
[3] Michael Mayer, Antisemitismus in NS-Deutschland und Vichy-Frankreich. Die Ministerialbürokratie und die „Judenpolitik“, München 2008 (erscheint in den »Studien zur Zeitgeschichte«).
[4] Susanna Brogi, Der Tiergarten in Berlin – ein Ort der Geschichte. Eine kultur- und literaturhistorische Untersuchung, Würzburg 2008.