Der Retter aus Japan
Chiune Sugihara, dessen Vorname auch Sempo übersetzt wird, wurde am ersten Tag des Zwanzigsten Jahrhunderts, am 1. Januar 1900, in Yaotsu, 50km nördlich von Nagoya, geboren. Zur Zeit seiner Geburt war Japan ein in sich zurückgezogenes Land, das hinsichtlich Wirtschaft und Gesellschaft deutlich hinter den europäischen Mächten oder den USA zurück stand. Doch so wie die Führung des Japanischen Kaiserreichs überzeugt war, dass ihr Land zu Größerem bestimmt sei, so waren auch Chiune Sugiharas Eltern sicher, dass ihr Sohn ein besonderes Leben führen sollte. Sie sollten Recht behalten.
Nachdem er sich entschlossen hatte, dem diplomatischen Dienst beizutreten, wurde Sugihara im Herbst 1919 zum Studium nach Harbin in China geschickt. Harbin galt zu diesem Zeitpunkt als „Paris des Orients“, und sein kosmopolitisches Flair gefiel Sugihara sehr. Vor allem von zwei Bevölkerungsgruppen war er fasziniert: von den Russen (über 100.000) – und von den Juden.
Nach seinem Studium konvertierte Sugihara zur Russisch-Orthodoxen Religion, heiratete im Jahr 1935 und wurde 1937 zu seinem ersten Auslands-Posten als Diplomat entsandt, nach Helsinki. Nur knapp zwei Jahre später wurde Sugihara beauftragt, in Kaunas (Kovno), Litauen ein Konsulat zu eröffnen. Weder Sugihara noch seiner Frau war Litauen vertraut, doch er freute sich auf diese Mission die, wie sich bald herausstellen sollte, sein Leben verändern würde. Am 17. Oktober 1939 eröffnete das Japanische Konsulat in Kaunas. Dort lebten gut 30.000 Juden, was einem Viertel der Gesamtbevölkerung entsprach.
Kurz vor Hanukkah 1939 begegnete Sugihara im besten Delikatessen-Laden der Stadt Solly Ganor, dem elfjährigen Neffen der Inhaberin. Dieser lud Sugihara spontan zu seinen Eltern zur Hanukkah-Feier ein, eine Einladung, die er gerne annahm. Bei dieser Gelegenheit gewann Sugihara weitere Einblicke in das kulturelle und gesellschaftliche Leben Kaunas‘ – und in die teils existenziellen Ängste der Jüdischen Gemeinde. Zwar hofften zu diesem Zeitpunkt alle, dass Litauen als neutrales Land nicht in den Zweiten Weltkrieg hinein gezogen würde. Die stetig zunehmenden Flüchtlingsströme aus Polen wirkten jedoch bereits wie eine Vorankündigung dessen, was noch bevorstand – und so drehte sich am Abend alles um die Frage, wo es denn noch Ausreise-Visa für Juden aus Litauen gäbe. Sugihara versprach, dass er sich erkundigen werde, und versicherte allen Anwesenden, dass er sie nicht vergessen würde.
Für die meisten Juden, gleich ob aus Kaunas stammend oder dorthin geflüchtet, war es vollkommen unmöglich, ein Transitvisum zu bekommen, dass es Ihnen ermöglicht hätte, eines der wenigen zur Aufnahme von verfolgten Juden bereiten Länder zu erreichen. Sugihara wusste, dass er vereinzelt Japanische Transitvisa ausstellen könnte. Er wusste allerdings auch, dass er diese nur verteilen durfte, wenn die Weiterreise aus Japan in das Aufnahmeland gesichert war, was finanzielle Mittel voraussetzte, die viele Juden aus Kaunas nicht hatten – immerhin musste erst mit der transsibirischen Eisenbahn nach Vladivostok gereist werden, und von dort über den Seeweg nach Japan. Sugihara merkte aber im Frühjahr 1940, dass er für zahlreiche Menschen, die bereits sämtliche Konsulate in Kaunas kontaktiert hatten, die einzige Rettung darstellte. Anfang Juli sah Sugihara die Zeit für gekommen, im Japanischen Außenministerium eine Ausnahmegenehmigung zum Ausstellen von Visa, ohne dass die Weiterreise über Japan hinaus gesichert war, zu beantragen. Diese wurde ihm jedoch verweigert.
Nachdem die Sowjetunion Truppen nach Litauen entsandt und Litauen de facto seine Unabhängigkeit verloren hatte, nahm Kaunas‘ Bedeutung ab, und immer mehr Länder schlossen ihre diplomatischen Vertretungen. Die Sowjetunion bestand darauf, dass dies für alle Länder gelten sollte, doch Sugihara arbeitete energisch daran, diesen Schritt soweit wie möglich zu verzögern. Am 27. Juli 1940 wurde das Konsulat von verzweifelten Juden geradezu belagert, und Sugihara entschloss sich dazu, die Befehle aus Japan zu ignorieren. Er wusste, dass er damit seine Karriere aufs Spiel setzte. Später sagte er, dass er sich zwischen seiner Arbeit und seinem Gewissen immer für Letzteres entschieden hätte.
Da Sugihara aber bemüht war, zumindest teilweise diese Vorschriften zu respektieren, verständigte er sich mit dem niederländischen Generalkonsul in Kaunas, Jan Zwartendijk, darauf, dass als Ziel der Reise für alle Flüchtlinge die Insel Curaçao in den Niederländischen Antillen angegeben werden sollte, wo es überhaupt keine Zoll- oder Grenzbehörden gab.
Weiterhin musste Sugihara, dessen Konsulat ja nur mit dem Einverständnis der Sowjetischen Besatzungsmacht weiter existieren konnte, anfragen, ob denn die Transitvisa auch von Seiten der sowjetischen Behörden honoriert wurden. Sugiharas Gesprächspartner waren von dessen fließendem Russisch beeindruckt und entschieden sich, diesem Plan zuzustimmen. In den letzten Juli-Tagen machte Sugihara sich dann an die Arbeit. Da er wusste, dass er für die Missachtung von Befehlen bestraft werden könnte, vollzog er sämtliche Arbeitsschritte selbst und schrieb jedes Visum von Hand, was nicht zuletzt aufgrund der Komplexität der japanischen Schriftzeichen sehr zeitaufwendig war.
Die Zeit drohte generell zur schwierigsten Herausforderung zu werden. Immer mehr Menschen warteten vor den Toren des Konsulats, und Sugihara wusste, dass er, selbst wenn die Sowjetischen Behörden seinem Antrag auf Verlängerung der Frist zur Schließung des Konsulates stattgeben würden, es nahezu unmöglich wäre, allen zu helfen. Mitte August kam dann die Gewissheit: das Konsulat müsste am 28. August 1940 seinen Dienst einstellen.
Bis dahin versprach Sugihara, allen zu helfen, denen er helfen könnte. Selbst als Moshe Zupnik, der Leiter der polnischen Mir Yeshiva zu ihm kam, um für sich und seine zahlreichen Schüler das rettende Dokument zu bekommen, zögerte er keine Sekunde, obwohl es einen Stapel von dreihundert Pässen zu bearbeiten galt (Zupnik überlebte, genau wie alle seine Schüler).
Da Sugihara nun immer weniger Zeit für jeden Eintrag hatte, verzichtete er nach 2.193 erteilten Visa auf die erforderliche Kopie für das Archiv des Konsulats. Gleichzeit gab er jedem Juden den Ratschlag, jedem Offiziellen des Japanischen Kaiserreichs mit den Worten „Banzai Nippon!“ – Es Lebe Japan – zu begegnen, um eventuellen Zweifeln bezüglich Schriftqualität oder Authentizität entgegen zu wirken.
Als Sugihara am 28. August das Konsulat endgültig verließ, teilte er allen noch Wartenden mit, dass er bis zu seiner Abreise noch einige Tag im Hotel Metropolis wohnen würde. Zwar hatte er Stempel und Siegel des Konsulates bereits abgeben müssen, doch er war sich sicher, dass er auch mit dem offiziellen Briefpapier des Konsulats Dokumente ausstellen konnte, die Leben retten würden. Er verbrachte nun drei Tage in der Lobby des Hotels und verteilte anonyme Visa an alle, die in seine Nähe kamen. Als er zum Bahnhof fuhr, wurde er von „Banzai Nippon!“-Rufen eskortiert. Selbst am Bahnhof und aus dem Zugabteil füllte er so schnell er konnte noch Papiere aus, und ein durch ihn Geretteter sagte ihm auf Jiddisch, er sei ein wahrer Mensch. Sugihara antwortete „Seit gezunt!“, und verließ endgültig den Ort, an dem sich die Prophezeiung seiner Eltern, dass er zu Höherem berufen sei, auf beeindruckende Art und Weise erfüllte.
Nach Stationen als Konsul in Königsberg, Prag und Bukarest werden Sugihara und seine Familie im Winter 1944 von sowjetischen Truppen gefangen genommen. Erst 1947 durften sie wieder nach Japan reisen. Sugihara wird kurz nach seiner Rückkehr wegen Missachtung von Befehlen aus dem öffentlichen Dienst entlassen. Aufgrund seiner Russisch-Kenntnisse arbeitete er mit russischen Firmen zusammen und zog Ende der 1950er Jahre nach Moskau.
Von den 235.000 Juden, die Ende 1939 in Litauen lebten, wurden während des Krieges über 96% von den Deutschen und ihren lokalen Kollaborateuren ermordet. Sugihara fragt sich immer wieder, ob er denn mit seinen Handlungen Menschenleben gerettet hat. Er war überzeugt, dass der von ihm gezahlte Preis gerechtfertigt war, wenn er auch nur einen einzigen Menschen retten konnte. Doch er hatte zunächst keine Möglichkeit, dies zu überprüfen.
Im Sommer 1968 wird Sugihara überraschend zu einem Gespräch mit dem Israelischen Botschafter in Moskau, Yehoshua Nishri, gebeten. Dieser bestätigt ihm, dass nicht nur er, sondern Tausende Menschen ihm das Leben verdanken. Sugiharas Hoffnung wird zur Gewissheit – er hat nicht weniger als 6.000 Menschen das Leben gerettet. Nishri lädt Sugihara nach Israel ein, wo er triumphal empfangen wird und unter anderem mit Zorach Warhaftig zusammen kommt, der ihm knapp 30 Jahre zuvor als Vertreter der Flüchtlinge in Kaunas den Ernst der Lage erklärt hatte. Dank Sugihara, so erklärte er ihm, war nicht nur er selbst noch am Leben, sondern auch seine Kinder und Enkelkinder – insgesamt dreißig Menschen. Analog zu den Nachfahren der von Oskar Schindler geretteten Juden werden diese Nachfahren „Sugihara-Juden“ genannt. Es sind inzwischen über 40.000 in aller Welt.
Im Jahre 1985 erhält Sugihara den Friedenspreis der Stadt Nagasaki und wird auch in Japan für sein heldenhaftes Engagement ausgezeichnet. Im Mai 1985 reist Sugihara erneut nach Israel, wo er von Yad Vashem als Gerechter unter den Völkern geehrt wird und einen Baum in der Allee der Gerechten pflanzen darf. Dieser steht in Sichtweite des Baumes von Raoul Wallenberg – dem wahrscheinlich einzigen Menschen, der alleine noch mehr Juden das Leben gerettet hat als Chiune Sugihara.
Autor: Thomas P. Reitz
Literatur
Ganor, Solly: Light One Candle: A Survivor’s Tale from Lithuania to Jerusalem, Kodansha America 2003.
Gold, Alison Leslie: A Special Fate – Chiune Sugihara: Hero of the Holocaust, Scholastic 2000.