Überlegungen zu einer Kontroverse zwischen Jean Améry und Primo Levi
Die Frage, ob in dem unmenschlichen Zustand der psychischen und physischen Verrohung, den die KZ-Häftlinge erleiden mussten, Bildung tatsächlich völlig bedeutungslos wurde, soll im Folgenden mit Hilfe einiger Überlegungen zur Kontroverse zwischen Jean Améry und Primo Levi über den „Geist in Auschwitz“ beantwortet werden.[1]
Zu den zentralen Texten über die Haft in nationalsozialistischen Konzentrationslagern gehört sowohl der von Jean Améry verfasste Essay „An den Grenzen des Geistes“[2] als auch die zwanzig Jahre später erschienene Replik „Der Intellektuelle in Auschwitz“[3] von Primo Levi. Beide Autoren waren etwa zeitgleich im Konzentrationslager Auschwitz-Monowitz inhaftiert; ihre Berichte über diese Zeit decken sich jedoch nur teilweise. Vor allem das innere Erleben, die sich daraus ergebenden Stimmungslagen, die Art der Verzweiflung und die Option auf innere Gestaltungsspielräume werden von beiden sehr unterschiedlich bewertet.
Der von dem österreichischen Philosophen Jean Améry verfasste Essay widmet sich besonders eingehend der Frage nach der Bedeutung von Geistesbildung im KZ. Es ist ein außerordentlich bitterer Text, der die These der „Abdankung des Geistes in Auschwitz“ postuliert. Diese Bitterkeit hat wohl dazu beigetragen, dass Amérys Darstellung als ultimativ angesehen wurde und Berichte anderer Autoren als vergleichsweise blass erschienen. Der Name Jean Améry ist bis heute eine Art Metapher für das unvorstellbare Ausmaß der im KZ erlittenen Qualen.
Ein Zeitgenosse Jean Amérys, der wie dieser Häftling in Auschwitz-Monowitz war und möglicherweise sogar für eine Weile dessen Barackenkamerad (so genau lässt sich das heute nicht mehr klären), war der italienische Chemiker Primo Levi. Zwanzig Jahre lang verfolgte er den Améry-Diskurs aus der Ferne, bis er sich schließlich – acht Jahre nach Amérys Freitod – zum Thema Bildung im Konzentrationslager zu Wort meldete und in einigen Punkten eine Gegenposition zu Amérys Thesen einnahm. Die von Améry gestellten Fragen: „Haben Geistesbildung und intellektuelle Grunddisposition einem Lagerhäftling in entscheidenden Momenten geholfen? Haben sie ihm das Überstehen erleichtert?“ beantwortet Levi völlig anders als jener.
Jean Améry: An den Grenzen des Geistes
Améry befasst sich in seinem Essay vorwiegend mit der Situation der Intellektuellen im KZ:„[die Intellektuellen] fanden nicht einmal Freunde. Es war ihnen nämlich in den meisten Fällen eine physische Unmöglichkeit, sich frischweg des Lagerslangs zu bedienen, der die einzig akzeptierte Form gegenseitiger Verständigung war. […] Ich erinnere mich nur allzu gut des körperlichen Widerwillens, der mich regelmäßig erfasste, wenn ein sonst ganz ordentlicher und umgänglicher Kamerad niemals anders zu mir sagte als ‚mein lieber Mann’.“
Wie aber kam es dazu, dass diese intellektuelle Distinguiertheit so zwingend und bedeutsam für Amérys Leben im KZ war, dass ihm sogar Kameradschaft mit „sonst ganz ordentlichen und umgänglichen“ Mithäftlingen nicht erstrebenswert erschien, obwohl ihm dieser Zustand, wie er selbst eingesteht, recht beklagenswert und „qualvoll“ erschien? Um dies zu erklären, muss man auf Amérys bisherige soziale Position und sein Selbstverständnis als Intellektueller eingehen. Amérys gesellschaftliche Position als Intellektueller war bis dahin schon am Rande der übrigen Gesellschaft angesiedelt. Sein Habitus war geprägt von Nonkonformismus und sein elitärer Dünkel war nicht nur zu einer bewussten Lebenshaltung, sondern zu einem Teil von ihm geworden. Daher hatte er trotz der völlig veränderten Situation im KZ offenbar gar nicht die Wahl, sich anders als eben so zu verhalten. Dieser Zustand der Verelendung war ihm vertraut und schien ihm für einen Intellektuellen seines Formats geradezu angemessen. Indem er in dieser Isolation verharrte und – wie durch einen körperlichen Zwang diktiert – selbst zu ihrer Beibehaltung beitrug, konnte er Reste seiner Identität bewahren und seine intellektuelle Würde erhalten. Anders als vorher jedoch hatte er im Konzentrationslager keine Gleichgesinnten um sich, sodass er diese Situation als tragischen Bruch empfand. In seinem bisherigen Leben war er in seiner Position nämlich keineswegs völlig isoliert gewesen, vielmehr gehörte er einem kleinen Kreis von gleich gesinnten Intellektuellen an, mit dem er diese Randständigkeit teilte.
Améry berichtet von einem besonders schmerzlichen Erlebnis während eines Marsches an einem Winterabend. Während sich die Häftlingskolonne völlig erschöpft im Gleichschritt dahin schleppte, fiel Améry eine wehende Fahne auf. Sofort stellte sich in seinem Geiste ein Hölderlin-Vers ein: „Die Mauern stehen sprachlos und kalt, im Winde klirren die Fahnen.“ So sehr er sich jedoch bemühte, wollte sich das im „psychischen Humus verkapselte Hölderlingefühl“ nicht einstellen und „das seit Jahren mit diesem Hölderlingedicht […] verbundene emotionelle und geistige Modell“ erschien ihm nicht. „Das Gedicht transzendierte die Wirklichkeit nicht mehr.“ In dieser Situation reduzierten sich die Verse auf ihre Aussage und entsprachen der Realität auf dem Heimmarsch: Die Mauern standen sprachlos und kalt und im Winde klirrten die Fahnen. Améry betont auch hier die Tragik der Isolation des Intellektuellen und erläutert, wenn er einen „annähernd gleichartig gestimmten Kameraden“ gehabt hätte, wäre dies anders gewesen. In Auschwitz jedoch sei es unmöglich gewesen, einen solchen zu finden, denn dieser wäre ja gleichfalls völlig „geistentfremdet“ gewesen. Daher lautet seine enttäuschende Bilanz: „Der Geist in seiner Totalität erklärte sich im Lager als unzuständig. Als brauchbares Werkzeug zur Bewältigung der uns gestellten Aufgaben dankte er ab.“ Als Nonkonformist und Neinsager aus Berufung blieb ihm neben der schweren Einsicht in die „Ohnmacht des Gedankens“ nur die Isolation unter den „ungeistigen Kameraden“. Die von ihm beschriebene Isolation des Intellektuellen jedoch war das soziale Kontinuum, dem er angehörte und das offenbar nirgends, auch in Auschwitz nicht, unterbrochen wurde. Die zu Anfang seines Essays gestellten Fragen kann er folglich nicht anders als negativ beantworten.
Mit Hilfe der spärlich überlieferten biografischen Fragmente zum Leben Jean Amérys lässt sich aufzeigen, dass sowohl seine Überlegungen zum Nutzen des Geistes als auch seine Positionierung in gesellschaftlicher Isolation schon früher festzustellen sind. Auf die zuvor nicht explizit gestellte Frage nach dem Nutzen des Geistes findet sich in viel früheren Schriften bereits eine Antwort, die gleichermaßen niederschmetternd ausfällt. Unter den Bedingungen der Haft in Auschwitz konnte folglich die Besinnung auf seine kulturelle Identität für Améry nichts anderes sein als ein Reservoir an nihilistischen Ansichten einer Wirklichkeit, die ihn ablehnte und die er selbst deshalb nur zurückweisen konnte. Indem er betont, dass sich in Auschwitz „das Denken […] nur selten eine Rast gönnte“, bestätigt auch er, dass Geist und Bildung im Lager bis an die Grenzen der physischen Existenz immer wieder mobilisiert wurden. Auch für ihn, der sich als „Nihilisten der Zwischenkriegszeit“ bezeichnete, hatte dies eine große Bedeutung: Es versicherte ihn auch dort noch seiner Identität als „skeptisch-humanistischer Intellektueller“, wo er zum Häftling Nr. 172 364 reduziert worden war.
Primo Levi: Der Intellektuelle in Auschwitz
Im Titel seines bereits 1947 erschienenen autobiografischen Berichts über die Zeit seiner Haft in Auschwitz stellte Primo Levi die Frage „Ist das ein Mensch?“[4] – gewiss ist dies zugleich als Anklage zu verstehen. Dieses frühe Buch Levis zielt vor allem auf die Unmenschlichkeit der Bedingungen im Konzentrationslager und die Dehumanisierung der Häftlinge. „[Es] überlege ein jeder, was für einen Wert, was für eine Bedeutung selbst die geringsten unserer täglichen Gewohnheiten in sich bergen, unsere hundert kleinen Dinge, die auch der armseligste Bettler sein Eigen nennt […]. Diese Dinge sind Teile unserer selbst, sind fast wie Glieder unseres Körpers […] Nun denke man sich einen Menschen, dem man, zusammen mit seinen Lieben, auch sein Heim, seine Gewohnheiten, seine Kleidung und schließlich alles, buchstäblich alles nimmt, was er besitzt: Er wird leer sein, beschränkt auf Leid und Notdurft und verlustig seiner Würde und seines Urteilsvermögens, denn wer alles verloren hat, verliert auch leicht sich selbst […]“, schreibt Levi. Er erlebte das Lager als einen Ort, an dem das Mensch-Sein oft bereits endete noch bevor das Leben biologisch erloschen war. Seine Frage „Ist das ein Mensch?“ beantwortet er am Ende des Buches folgendermaßen: „Mensch ist, wer tötet, Mensch ist, wer Unrecht zufügt oder leidet; kein Mensch ist, wer jede Zurückhaltung verloren hat und sein Bett mit einem Leichnam teilt.“
In seiner beinahe 40 Jahre später verfassten Replik auf den Essay von Jean Améry nähert Levi sich dieser substanziellen Frage nach dem Mensch-Sein noch einmal. Seine Überlegungen zu Amérys verbitterter These von der „Abdankung des Geistes in Auschwitz“ können zugleich als erneute Antwort auf die Frage nach dem Mensch-Sein gelesen werden. Levi bemüht sich nun zu zeigen, dass, wer Reste seiner kulturellen Identität bewahren konnte, noch nicht alles verloren hatte, und so über eine letzte Reserve gegen die Selbstaufgabe verfügte. In Levis Replik ist die entscheidende Frage des Überlebens in Auschwitz untrennbar mit der Möglichkeit der Bewahrung von Identität verknüpft. Identität sei unerlässlich dafür, sich Ziele zu setzen, denn, so schreibt er, „Ziele im Leben sind die beste Verteidigung gegen den Tod: nicht nur im Konzentrationslager.“ Dabei setzt er Identität mit Würde gleich: „Und doch braucht man zum Leben eine Identität, das heißt Würde. […] wer das eine verliert, verliert auch das andere und stirbt einen geistigen Tod: Und wer auf diese Weise wehrlos ist, ist auch dem physischen Tod ausgesetzt.“ Levi zeigt verschiedene Situationen auf, in denen „Bildung von Nutzen“ sein konnte. Als Gegenbeispiel zu Amérys Hölderlin-Episode beschreibt er, wie er beim Versuch des Rezitierens von Dante geradezu in eine Euphorie geriet. Levi wollte damals auf einem gemeinsamen Weg mit einem französischen Kameraden diesem einen Eindruck von der italienischen Sprache vermitteln. Er bemühte sich daher, aus Dantes göttlicher Komödie den „Gesang des Ulyss“ zu rezitieren und frei ins Französische zu übertragen. Besonders berührten ihn die Verse „Bedenket welchem Samen ihr entsprossen: Man schuf euch nicht, zu leben wie die Tiere, nach Tugend und nach Wissen sollt ihr trachten.“ Seine damaligen Emotionen beschreibt er so: „Als hörte ich das selber zum ersten Mal: wie ein Posaunenstoß, wie Gottes Stimme […] Ich halte [meinen Kameraden] zurück, es ist so wichtig, so dringend, dass er jetzt zuhört […] ehe es zu spät ist, denn morgen schon kann er oder ich tot sein; vielleicht sehen wir uns auch nie wieder, […].“ Er beschreibt, dass die Verse ihm in diesem Augenblick erschienen, als sagten sie etwas über sein Schicksal. Die Erinnerungen an den „Gesang des Ulyss“ hatten „damals und dort […] einen großen Wert. Sie ermöglichten es mir, eine Verbindung mit der Vergangenheit herzustellen, retteten sie vor dem Vergessen und stärkten meine Identität. Sie überzeugten mich davon, dass mein Verstand […] nicht aufgehört hatte zu funktionieren. Sie beförderten mich in den Augen meines Gesprächspartners. Sie gewährten mir einen vorübergehenden, aber keineswegs stumpfsinnigen Urlaub, im Gegenteil, er war befreiend und setzte sich gegen alles andere ab: Es war also eine Gelegenheit, mich selbst wiederzufinden. […] Für mich hatte das Lager auch diese Bedeutung.“
So stellte für Primo Levi die klassische humanistische Bildung einen kulturellen Rettungsanker in Auschwitz dar. Wenn sich dort ein solcher Moment ergab, lebte er geradezu auf und nutzte seinen Handlungsspielraum, um soziale Bindungen zu knüpfen oder zu stärken. Für ihn waren zuvor schon die Herausforderungen des Lebens nie allein intellektuell zu bewältigen gewesen. Es ist bekannt, dass er in seiner Heimat einem Freundeskreis angehörte, mit dem ihn antifaschistische Gesinnung, (meist) assimiliertes Judentum und die Bewältigung der Herausforderung der Berge verband. Er sah sich nicht als Intellektuellen, sondern als wissbegierigen jungen Mann, der gemeinsam mit seinen Freunden überall Abenteuer und Entdeckungen erwartete. Seine Bildung bot ihm in einer bestimmten Situation in Auschwitz Dante-Verse an, die ihm jedoch dort nicht nur die vertraute, sondern sogar eine neue Botschaft vermittelten. Genau dieses Entdecken jedoch war das, was seine Kontinuität ausmachte und was ihn seiner geistigen Lebendigkeit versichern konnte, auch und vor allem in Auschwitz.
Wenn Zwei nicht dasselbe tun, kann es dennoch vergleichbar sein
Amérys und Levis unterschiedliche Reaktionen im Konzentrationslager machen deutlich, dass die Absicht der Nationalsozialisten, die Inhaftierten in den Lagern alle gleich zu machen, nicht wirklich gelang: Das schier endlose Heer abgewrackter, verhungerter, grauer Gestalten, diese zu Nummern degradierten Wesen waren bei aller äußerlichen Gleichheit nur auf den ersten Blick gleich gemacht, denn sie trugen weiterhin die Unterschiede ihrer Herkunft und ihres Werdegangs in sich, und dies war oft das einzige, was sie besaßen und das sie ihrer Identität und menschlichen Würde versichern konnte.
Die Spielräume jedes Einzelnen waren zwangsläufig äußerst gering. Dennoch geben uns Améry und Levi Beispiele für solche Spielräume, die auf eine besonders ausgeprägte Kontinuität im Verhältnis zu ihrer Bildung hindeuten. Améry als jemand, dessen „Blick nach oben gerichtet war und […] nur selten auf dem gewöhnlichen Volk im Lager haften blieb“ bestätigte sich durch seine Haltung in seiner sozialen Einsamkeit als Intellektueller unter „Ungeistigen“. Levi dagegen, ein stets Lernender, entdeckte sogar in Auschwitz in Bekanntem etwas Neues. Dies erhielt ihn in seiner Vitalität und so konnte er über eine „lebendige Kultur“ verfügen. Die hinter dieser Verschiedenheit verborgene Entsprechung besteht in der persönlichen sozialen Kontinuität bei beiden, für die Bildung offensichtlich von besonderer Bedeutung war.
Daran ist Zweierlei bemerkenswert: Zum einen stellen diese beiden ehemaligen KZ-Häftlinge Améry und Levi zwar Gegenteiliges fest – des einen Geist dankte in Auschwitz ab, des anderen hingegen diente ihm zu allerhand Nützlichem –, gleichzeitig aber erhielten beide dabei ihre persönliche Kontinuität aufrecht, was ihnen Kraft geben konnte, auch wenn das bei Améry vordergründig nicht den Anschein hat. Auf der anderen Seite ist es beachtlich, mit welcher Zähigkeit Bildung selbst unter den Bedingungen in Auschwitz wirksam war, und dass dies offenbar bei beiden zentrale Bedeutung hatte, weil es sie ihrer Identität versicherte, der sie sich anders an diesem unseligen Ort nicht versichern konnten.
Nun könnte man freilich zu dem Schluss gelangen, es sei typisch für Intellektuelle, dass sie bis zum bitteren Ende ihre Bildung zu mobilisieren versuchten. Fasst man den Bildungsbegriff jedoch in einem möglichst weit gefassten Sinne als individuelle Aneignung von Kultur, der gleichermaßen kognitive wie praktische, affektive und somit habituelle Aspekte einschließt, so lassen sich in der Literatur unzählige und vielfältige Beispiele für das oben beschriebene Phänomen finden. Bildung ist immer auch aufs Engste mit der leiblichen Existenz des Individuums verbunden: Man hat nicht nur Wissen gespeichert und gelernt, in einer bestimmten Weise zu denken, sondern auch, in einer bestimmten Weise zu sein. Wie sehr Bildung (in diesem weit gefassten Sinne) und kulturelle wie soziale Identität miteinander verknüpft sind, soll an dieser Stelle durch ein weiteres Beispiel illustriert werden, mit dessen Hilfe gezeigt werden kann, dass sich die Bedeutsamkeit von Bildung für soziale Differenzierung nicht auf Intellektuelle im KZ beschränkt:
Ein schwindsüchtiger polnischer Bauer[5] verwandte in seinen letzten Lebensstunden im Krankenbau des KZ Sachsenhausen alle verbliebene Kraft darauf, seine kulturelle und soziale Herkunft zu demonstrieren, um sich von seinen Barackenkameraden abzugrenzen: Er wollte noch einmal zeigen, dass er anders war als sie. Zunächst beschimpfte er seine Mithäftlinge wegen ihrer Hochsprache, begann dann ein Lied im Dialekt seiner Heimat zu singen und zu pfeifen und tanzte dazu mit allerletzter Kraft. So vergewisserte er sich seiner Zugehörigkeit zum Volk der Góralen, einem aufständischen Bergbauernvolk aus den Beskiden, das eine eigene Kultur bewahrt hatte. Seine Barackenkameraden, aus seiner Sicht alles „feine Herrensöhnchen“, verfolgten diesen Totentanz mit einiger Beklemmung und wurden Zeugen, wie dieser Bauer im Moment seines Sterbens mit der Mobilisierung seiner „einverleibten Kultur“ auch noch einmal körperliche Kraft gewann, die nach dem Energieprinzip gar nicht mehr hätte da sein dürfen.
Auch dieses Beispiel kann die obige Erkenntnis bestätigen. In „Ist das ein Mensch?“ bemerkt Primo Levi: „Die Fähigkeit des Menschen, sich auch in offenbar verzweifelten Situationen einen Schlupfwinkel zu schaffen, sich abzukapseln […] ist erstaunlich groß und verdiente eine eingehende Untersuchung.“ Diese Einsicht deckt sich mit dem Ergebnis der hier vorgestellten Analyse. Bildung stand als Ressource für solche „Schlupfwinkel“ zur Verfügung, da sie durch ihre Körpergebundenheit weitgehend unbeschadet Einlass in das KZ fand. Da sie „nackter als nackt“ – wie es bei Levi heißt – in das Lager gekommen waren, hatte das für die Inhaftierten eine besondere Bedeutung: Diese früher angeeignete, inkorporierte Kultur war der letzte Besitz aus ihrem bisherigen Leben; er stellte etwas Eigenes dar, das sich offenbar nicht in gleicher Weise zerstören und manipulieren ließ wie ihre körperliche Verfassung.
Die Ausführungen Amérys und Levis, ebenso wie das Beispiel des polnischen Bauern, konnten deutlich zeigen, dass Bildung immer zugleich Speicher individueller wie sozialer Erfahrungen ist. Die Aktivierung dieser individuellen Bildung im Konzentrationslager stiftete Identität, indem sie die außerhalb des Lagers entwickelte soziale Identität der Person mobilisierte. Dies äußerte sich in Gefühlen und Handlungen der Zugehörigkeit und der Abgrenzung. Beides aber war gleichermaßen für die Inhaftierten im KZ bedeutsam, weil sie dem Bestreben der SS, die Masse der Häftlinge bis auf ganz wenige, grobe Unterscheidungen völlig zu nivellieren und zu dehumanisieren, etwas entgegensetzen konnten.
„Die Grenzen meines Körpers sind die Grenzen meines Ichs“, schrieb Améry in einem Essay über die Folter.[6] Das bedeutet jedoch zugleich: Solange dieser Körper existiert, – wie beschädigt, zerrüttet, erniedrigt auch immer – birgt er dieses Ich! Wenn es sogar im KZ noch möglich war, Bildung als Teil des Habitus zu aktivieren, war das ein lebendiges Zeichen für dieses Ich und musste daher für die Inhaftierten eine ganz besondere Bedeutung haben. Der Rückgriff auf Bildung eröffnete gewissermaßen einen virtuellen sozialen Raum, durch dessen Betreten sich ein autonomer Handlungsspielraum auftat, der selbst angesichts des Todes Bestand hatte und die Möglichkeit zu einem letzten Wort bedeutete. Die Inhaftierten konnten sich so ihrer Souveränität über die letzten verbliebenen Territorien des Selbst vergewissern, die im Konzentrationslager einzig noch in dieser virtuellen Form existierten: Was es außen herum schon lange nicht mehr gab, war innen noch vorhanden und sogar jederzeit verfügbar.
„Wer alles verloren hat, verliert auch leicht sich selbst“, wurde Levi oben zitiert. Bildung, dieses letzte Territorium des Selbst, konnte die KZ-Insassen davon überzeugen, dass es etwas gab, das sie noch nicht verloren hatten. Die Introversion war daher ein Mittel, sich selbst zu bewahren. Auch Jean Améry, der bitter die Abdankung des Geistes in Auschwitz feststellte, versicherte sich dort seiner Identität über sein Verhältnis zu Bildung: In seinem Selbstverständnis vom Intellektuellen als gesellschaftlichem Außenseiter sah er sich auch in Auschwitz bestätigt. In dem scheinbaren Versagen des Geistes fand er die Kraft, er selbst zu bleiben – seinen Habitus als kritischer Intellektueller und damit seine soziale Zugehörigkeit als von Bildung geprägter gesellschaftlicher Außenseiter konnte er bewahren. Bei Levi finden wir weitaus müheloser diese Kontinuität, da sie von ihm selbst zum Ausdruck gebracht und als positives Erleben dargestellt wurde.
Öffnet man den Bildungsbegriff auf die mit Bildung verknüpfte kulturelle und soziale Identität, wie es hier getan wurde, zeigt sich die Kontroverse zwischen Primo Levi und Jean Améry in einem neuen Licht: Beide hatten Recht mit dem, was sie vorbrachten, da sie beide die Frage nach dem Nutzen von Bildung im Konzentrationslager in der Weise beantworteten, wie es ihrer, durch ihre soziale Position bestimmten, persönlichen und kulturellen Identität entsprach.
Der so verwendete Bildungsbegriff macht zugleich deutlich, dass unter diesen Extrembedingungen im Konzentrationslager, in einem Zustand der Abwesenheit eines gesellschaftlichen Normalzustandes, Bildung konstitutiv für einen sozialen Minimalkontext ist. Als individuelle Aneignung von Kultur ist Bildung das persönliche Medium der Grenzüberschreitung, das jederzeit und überall verfügbar ist und so das Hier und Jetzt transzendieren kann. Als Aneignung einer gemeinsamen Kultur ist Bildung zugleich ein Mittel der Grenzbefestigung, da sie Zugehörigkeiten und Abgrenzungen manifestieren hilft und daher soziale Identität in der realen Welt vermittelt. – Bildung ist also zugleich ein Schlüssel zu menschlicher Würde und Freiheit wie auch zu sozialer Ungleichheit.
Autorin: Maja Suderland, Diplom-Soziologin; wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Technischen Universität Darmstadt.
Literatur
Améry, Jean (1966): Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. München: Szczesny.
Améry, Jean (1980): Örtlichkeiten. Stuttgart: Klett-Cotta.
Anissimov, Myriam (1999): Primo Levi. Die Tragödie eines Optimisten. Eine Biographie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Daxelmüller, Christoph (1998): Kulturelle Formen und Aktivitäten als Teil der Überlebens- und Vernichtungsstrategie in den Konzentrationslagern. In: Herbert, Ulrich (Hrsg.): Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur. Göttingen: Wallstein, Bd. 2: S. 983-1005.
Heidelberger-Leonard, Irene (2004): Jean Améry. Revolte in der Resignation. Biographie. Stuttgart: Klett-Cotta.
Levi, Primo ([1986] 1990): Die Untergegangenen und die Geretteten. München: Hanser.
Levi, Primo ([1947] 2000): Ist das ein Mensch? Ein autobiographischer Bericht. München: dtv.
Sebald, W.G. (1990): Jean Améry und Primo Levi. In: Heidelberger-Leonard, Irene (Hrsg.): Über Jean Améry. Heidelberg: Winter Universitätsverlag, S. 115-123.
Steiner, Stephan (Hrsg.) (1996): Jean Améry (Hans Maier). Basel, Frankfurt a.M.: Stroemfeld.
Suderland, Maja (2004): Territorien des Selbst. Kulturelle Identität als Ressource für das tägliche Überleben im Konzentrationslager. Frankfurt am Main; New York: Campus
Traverso, Enzo (2000): Als Intellektuelle in Auschwitz: Jean Améry und Primo Levi. In: Auschwitz denken. Hamburg: Hamburger Edition, S. 246-280.
Anmerkungen
[1] Der Beitrag basiert auf dem Buch der Autorin Maja Suderland: Territorien des Selbst. Kulturelle Identität als Ressource für das tägliche Überleben im Konzentrationslager. Frankfurt/M.; New York: Campus, 2004.
[2] in Jenseits von Schuld und Sühne, München: Szesny, 1966.
[3] in Die Untergegangenen und die Geretteten, München: Hanser, 1990. [I sommersi e i salvati; 1986]
[4] Primo Levi: Ist das ein Mensch? Ein autobiographischer Bericht. München: dtv, 2000. [Se questo è un uomo; 1947]
[5] vgl. Christoph Daxelmüller: Kulturelle Formen und Aktivitäten als Teil der Überlebens- und Vernichtungsstrategie in den Konzentrationslagern. In Ulrich Herbert (Hg.): Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur. Göttingen: Wallstein, 1998.
[6] in Jenseits von Schuld und Sühne, München: Szesny, 1966.