Jochen Fuchs: Auschwitz in den Augen seiner Besucher. Eine Untersuchung von Teilnehmerinnen und Teilnehmern an Exkursionen nach Auschwitz in den Jahren zwischen 1994 und 2002 und zum Beitrag von Gedenkstättenbesuchen zur politischen (Bewusstseins-) Bildung nebst Vorschlägen zur Optimierung solcher Veranstaltungen, Magdeburg 2003.
Jochen Fuchs, Professor an der Fachhochschule Magdeburg, fährt seit nunmehr zehn Jahren mit Studierenden des Sozial- und Gesundheitswesens nach Auschwitz. Ein Anlass für die erste Fahrt im Jahr 1994 waren fremdenfeindlich motivierte Gewalttaten in Magdeburg. Die Exkursion wurde, so der Autor, als ein möglicherweise probates Mittel angesehen, präventiv tätig zu werden (vgl. S. 9). Dies gilt für ihn umso mehr, als die Teilnehmenden später als SozialarbeiterInnen wichtige potenzielle Multiplikatoren sein werden (vgl. S. 5). „Insofern“, präzisiert Fuchs seine Zielsetzung (S. 5 f.), „ist eine Untersuchung, die einen ihrer Schwerpunkte darauf legt, herauszufinden, wie Auschwitz von diesen (Teilnehmerinnen und Teilnehmern) wahrgenommen wird – und welche Effekte eine solcher Besuch zu erzielen in der Lage ist – von nicht zu unterschätzender Bedeutung.“ Fuchs selbst ordnet die Studie in den Bereich der Wirkungsforschung bzw. Bildungsforschung ein (vgl. S. 8 f.).
Der Autor arbeitet mit einem zweiteiligen Fragebogen. Im ersten Teil werden Fragen im Zusammenhang mit den Exkursionen nach Auschwitz gestellt. Es geht dabei um die Motivation zur Teilnahme und die Einschätzungen der Teilnehmenden hinsichtlich der allgemeinen Bedeutung eines solchen Besuches. Weiter sollen die Befragten unter anderem angeben, ob die historischen Ereignisse dort richtig dargestellt würden, ob der Besuch eine positiv zu bewertende Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte befördere und ob die Teilnahme einen starken Einfluss auf die eigene persönliche Entwicklung gehabt habe (vgl. S. 93). Im zweiten Teil folgen Fragen, die laut Fuchs geeignet sind, die Haltungen bzw. Grundeinstellungen der Befragten zu ermitteln (vgl. S. 11 f.). Diese Erkenntnisse gewinnt er aus der Bewertung nationaler Symbole – wie des Reichstags, der Bundeswehr oder allgemein von Dichtern und Denkern – sowie aus drei Fragenkomplexen zum Thema Scham. Dort konnte etwa entschieden werden, ob man sich für die „von unseren Großeltern“ begangenen Verbrechen schäme und/oder wegen der hohen Rüstungsausgaben „bei uns“ (vgl. S. 95). Als Vergleichsgruppe zog Fuchs StudienanfängerInnen heran.
Zu den Ergebnissen: Am bemerkenswertesten scheint mir, dass die ExkursionsteilnehmerInnen in weit höherem Maße als die Vergleichsgruppe annehmen, dass die Masse des deutschen Volkes für die Judenverfolgung verantwortlich gewesen sei (61,3% gegenüber 38%). Genau umgekehrt verhält es sich hinsichtlich der Führer (genannt werden Hitler, Himmler und Goebbels). Hier sind es 19,8% der Exkursionsteilnehmer und 46% der Vergleichsgruppe, die jenen die Verantwortung zuschreiben. Weiter wenden sich die Teilnehmerinnen in weit stärkerem Maße gegen einen Schlusspunkt in der Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus, als ihre Kommilitonen dies tun (66,1% zu 31,9%). Eine besondere politische Verantwortung „der Deutschen“ lehnen 88,5% derjenigen Befragten ab, die in der Gedenkstätte waren; bei der Vergleichsgruppe waren es mit 59% deutlich weniger.
Neben diesen wenigen Unterschieden ergaben sich eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten. Hinsichtlich der Beliebtheit nationaler Symbole, der kollektiven Selbsteinschätzung und der Bereitschaft, Verantwortung für diese Vergangenheit zu übernehmen, ließen sich keine signifikanten Differenzen ausmachen. Das galt sowohl in Bezug auf vermutete langfristige Effekte als auch hinsichtlich möglicher kurzfristiger Wirkungen (vgl. S. 55 f.).
Abschließend kommt Fuchs zu der Einschätzung, dass mit Hilfe solcher Fahrten zwar keine Missionare ausgebildet würden, aber immerhin MultiplikatorInnen (vgl. S. 76). Mit anderen Worten: Niemand wird bekehrt, doch immerhin fühlt man sich – wie es ein Befragter kommentierte – für den antifaschistischen Kampf gestärkt (vgl. S. 23 Anm. 69).
Wie im (reichlich barock wirkenden) Untertitel bereits angekündigt, endet der Band mit Vorschlägen zur Optimierung von Gedenkstättenfahrten. Fuchs regt an, mit „interaktiven Dokumentationen“ zu arbeiten, die die bei den Teilnehmenden überaus beliebten Gespräche mit Zeitzeugen nach und nach ersetzen sollen. Darüber hinaus plädiert er für eine verstärkte Arbeit mit Archivmaterialien, die er für geeignet hält, die von den Teilnehmenden seiner Ansicht nach empfundene hohe Authentizität auszustrahlen (vgl. S. 77 f.). Diese Empfehlungen beruhen nicht auf den bisher referierten Ergebnissen, sondern auf im Anhang der Studie vorgestellten Evaluationen der Exkursionen. In diesen hatten die Teilnehmenden jeweils die Zeitzeugengespräche sowie die Arbeit mit Archivmaterialien am häufigsten positiv erwähnt (vgl. S. 123).
Fuchs konstruiert in seiner Darstellung eine vermeintlich selbstverständliche Reihe zwischen fremdenfeindlicher Gewalt/Rechtsextremismus, Geschichtsbewusstsein, einem Gedenkstättenbesuch und schließlich auf wundersame Weise veränderten Haltungen – aus denen politisches Handeln folge, das sich wiederum gegen den Anfang dieser Reihe wende. Zunächst einmal bleibt unklar, was Fuchs unter Rechtsextremismus versteht (er spricht wahlweise auch von Neofaschismus).[1] Ebenso unklar ist, was die MultiplikatorInnen, die diesem unbestimmten Rechtsextremismus eines Tages entgegenzutreten haben, in und aus der Beschäftigung mit dem Holocaust zu lernen hätten. Zu beeinflussen gilt es für Fuchs Haltungen und Einstellungen, denn nach solchen Veränderungen sucht er schließlich. Was damit gemeint ist, erfahren wir aus den von ihm gestellten Fragen: Es geht um die Bewertung nationaler Symbole und um Meinungen zum Umgang mit der nationalsozialistischen deutschen Geschichte. In welchem Zusammenhang das mit tatsächlichem politischen oder allgemeinerem gesellschaftlichen Handeln stehen soll, können sich Leserinnen und Leser allenfalls zusammenreimen. Zwar benutzt Fuchs den Begriff des Geschichtsbewusstseins nicht, aber letztlich geht es genau darum, wenn von Lehren aus der Geschichte oder von Scham angesichts des Geschehenen die Rede ist. Leider fehlt auch diesbezüglich jede begriffliche Bestimmung.
Das größte Manko sehe ich jedoch an einer anderen Stelle: Es ist die Black Box Gedenkstättenbesuch. Abgesehen vom Abdruck eines Programms erfahren wir nicht, was dabei geschieht. Selbst wenn sich signifikante Veränderungen hätten nachweisen lassen, wäre noch gänzlich unklar, wodurch diese befördert worden sind. Fuchs selbst ist die Problematik durchaus bewusst, wie er überhaupt durchgehend zurückhaltend argumentiert. Leider hat er aus dieser Haltung keine methodischen Konsequenzen gezogen. Eine Konsequenz könnte zunächst lauten, das Geschehen in den Gedenkstätten selbst ausführlich zu erforschen. Dabei könnte sich herausstellen, dass dieses Geschehen gar nicht geeignet oder überhaupt wirkungsmächtig genug ist, um die erwarteten oder vielmehr erhofften Veränderungen zu bewirken.[2]
Abschließend ist noch ein Wort zur vom Autor berücksichtigten Literatur erforderlich. Es finden sich (fast) ausschließlich Texte aus dem Gedenkstättendiskurs. Darin scheint mir ein Grund für die angesprochenen Unschärfen zu liegen. Andererseits hat Fuchs eine beeindruckende Zahl von Untersuchungen aus dem Bereich der „Grauen Literatur“ zu Tage gefördert (zumeist Befragungen), die in verschiedenen Archiven unbemerkt verstaubten und die eine eigenständige kritische Würdigung verdienten. Ich wäre dabei nicht nur an den Ergebnissen dieser Erhebungen interessiert, sondern hielte es für mindestens ebenso ertragreich, diese Arbeiten als Quellen zu lesen. Sie könnten – wie auch die vorliegende Studie – Aufschluss geben über Selbstverständnisse hinsichtlich des Lernens aus der Geschichte.
Autor: Christian P. Gudehus
Erstveröffentlichung auf der Website H-Soz-u-Kult
Anmerkungen
[1]↑ Umfangreich diskutiert wird der Gegenstand beispielsweise bei Christoph Butterwege: Rechtsextremismus, Rassismus und Gewalt. Erklärungsmodelle in der Diskussion, Darmstadt 1996; Benno Hafeneger, Mechthild M. Jansen: Rechte Cliquen. Alltag einer neuen Jugendkultur, Weinheim 2001; Kurt Möller: Rechte Kids. Eine Langzeitstudie über Auf- und Abbau rechtsextremistischer Orientierungen bei 13- bis 15jährigen, Weinheim 2000.
[2]↑ Vgl. zum ersten Aspekt: Jackie Feldmann: Marking The Boundaries of the Enclave: Defining the Israeli Collective Through the Poland ‘Experience’. In: Israel Studies (2002), Vol. 7, No. 2, S. 84–114. Zum zweiten Aspekt siehe Viola B. Georgi: Entliehene Erinnerung. Geschichtsbilder junger Migranten in Deutschland, Hamburg 2003. Zwar untersucht Georgi nicht die Wirkung von Gedenkstättenbesuchen, aber einige ihrer Befragten waren kurz vor den Interviews in Gedenkstätten.
Jochen Fuchs: Auschwitz in den Augen seiner Besucher. Eine Untersuchung von Teilnehmerinnen und Teilnehmern an Exkursionen nach Auschwitz in den Jahren zwischen 1994 und 2002 und zum Beitrag von Gedenkstättenbesuchen zur politischen (Bewusstseins-) Bildung nebst Vorschlägen zur Optimierung solcher Veranstaltungen (= Magdeburger Reihe, Bd. 13. Schriften der Hochschule Magdeburg-Stendal), Verlag der Erich-Weinert-Buchhandlung, Magdeburg 2003, 128 Seiten, ISBN 978-3-933999-13-9, EUR 7,40.