Verehrt, gehasst, vergessen – Andrei Dmitrijewitsch Sacharow – Vom Bombenbauer zum Menschenrechtler. Vom Dissident zum Sacharow-Preis für geistige Freiheit.
Es ist der 26. August 1968. Der Dichter Alexander Solschenizyn („Archipel Gulag“, 1965, noch unveröffentlicht) ist an diesem Nachmittag auf dem Weg zu Andrej Sacharow. Es wird keine Fotos des Treffens geben. Im Verborgenen war es in der Wohnung des Physikers Jewgenij Feinberg (1912-2005) im Zentrum Moskaus vereinbart worden. Noch nie hatte der geheime Dichter Solschenizyn den geheimen Forscher Sacharow getroffen. Beide Männer verkörperten exemplarisch die verschiedenen Lebenswelten in der Sowjetunion der 1960er Jahre.
Solschenizyn (50), hatte nach vier Jahren im Krieg acht Jahre lange in sowjetischen Lagern des GULag überlebt. Nach 1946 hatte er die damals modernen Häuser der Physiker als Gefangener gebaut.
Sacharow (47) war bisher privilegiert, wurde bewacht und beschützt. Als ein wissenschaftlicher Kopf des Wasserstoffbomben-Projektes gehörte er zur Nomenklatura, der Führungselite der Sowjetunion.
Doch im August 1968 ist er arbeitslos, wird vom KGB observiert. Mitte Juli war seine Denkschrift Gedanken über Fortschritt, friedliche Koexistenz und geistige Freiheit in der New York Times erschienen. Daraufhin verliert der Physiker seine Arbeit an Nuklearwaffen in der geheimen Stadt Arsamas-16. Die Denkschrift war ein Schock für die Machthaber. Laute Kritik an der Allmacht und Weisheit der Partei ist in dieser Zeit unüblich, Kritik gar an den Zukunftsfantasien des 23. Parteitages der Kommunistischen Partei. Der hatte 1966 die kommende, sozialistische (heile) Welt versprochen. Man müsse nur sauber und fleißig arbeiten, für die Sicherheit sorge die Partei und die Staatssicherheit. Erfolge in Wissenschaft und Raumfahrt schienen dieses Programm zu bestätigen. Während des Parteitages landete automatisch die Forschungsplattform Luna-10 auf dem Mond. Es war der erste Parteitag unter dem neuen Parteichef Leonid Breschnew, der zudem die „Tauwetter“- Zeit der vorsichtigen Kritik an Stalin beendete. Der KGB hatte bereits im Mai 1968 von Sacharows Manuskript erfahren. Das Erscheinen im Westen konnte man nicht verhindern. Dabei war die Denkschrift, so spätere Biographen, nur ein Schritt der Selbstfindung Sacharows: ein Nachdenken über die Atomkriegsgefahr, die weltweite Umweltzerstörung, die Bedrohung der Wissenschaften, gegen Zensur und für Meinungs- und Pressefreiheit. Die Breschnew-Jahre bis zu dessen Tod 1982 werden später die Jahre der Agonie, des allmählichen Erlöschens der Idee der Sowjetunion, genannt. Es wird auch die Zeit der Menschenrechtsarbeit Sacharows sein.
An diesem August-Nachmittag des Jahres 1968 will Solschenizyn den ganz anderen Charakter treffen. Den großgewachsenen, leise sprechenden, umgänglichen, gebildeten, freundlichen Physiker Sacharow, der nie im Krieg kämpfte, nie in Stalins Lagern gelitten hatte, den Stalin-Preisträger, der noch immer Parteichef Breschnew persönlich anrufen könnte. Tatsächlich gibt es weder in den KGB-Unterlagen von ihm oder Solschenizyn einen Hinweis auf das Treffen. Erst Jahre später berichten sie in ihren Lebenserinnerungen davon. Bei Solschenizyn heißt es: Diese Physiker, Intelligenzler hatten die Wohnung nicht geräumt. Sie hatten sogar aufgetischt, als kämen Freunde zu Besuch. Sollen wir gar noch singen? Es gibt nichts zu feiern. Aber die Initiative für dieses Gespräch war von mir ausgegangen. Ich will also höflich sein. Er, groß, warmherzig sitzt mir tatsächlich gegenüber. Die geheime Gestalt, ich kann ihn greifen, einen blauen Ärmel und eine Hand, die Hand, die der Welt die schrecklichste Waffe des 20. Jahrhunderts gegeben hat.
Geboren wird Andrej Sacharow am 21. Mai 1921 in Moskau. Im vierten Jahr der Gewalt, mit der die Kommunisten nach dem Oktober-Umsturz in Sowjet-Russland ihre Macht stabilisieren wollen. Der Vater, der Russe Dmitri Sacharow (1889-1961) war Physiklehrer und Komponist. Die Mutter, Hausfrau und hochgebildet, Ekaterina Sofiano (1893-1963) stammte aus einer griechisch-russischen Offiziersfamilie. Beide Eltern liebten Literatur und Musik, neben den Deutschen auch die modernen Kompositionen von Alexander Skrjabin (1872-1915).
Andrej Sacharow – der Physiker und die sowjetische Wasserstoffbombe
Andrej fällt an der Universität schnell als genialer Physiker auf. 1942 schließt er sein Studium ab. Er wird vom Militärdienst freigestellt, arbeitet in Uljanowsk an der Wolga als Ingenieur in einer Munitionsfabrik. 1945 kehrt er zur Physik zurück. Es ist die Zeit der Kernphysik, der Entwicklung und des Baus von Nuklearwaffen. Ab 1950 leitet der damals 29jährige eine ganze Forschungsgruppe in der geheimen Stadt Sarow (später Arsamas-16) in der Nähe von Moskau. Technischer Leiter war Juli Chariton (1904-1996); wissenschaftlicher Leiter Igor Kurtschatow (1903-1960). Aus Geheimdienstquellen wissen die sowjetischen Nukleartechniker nur, dass die Amerikaner an der Wasserstoffbombe (der „Super“) arbeiten. Unter diesen Umständen soll Andrej Sacharow eine wissenschaftliche und technische Spitzenleistung erbringen: Die Entwicklung einer transportablen, thermonuklearen Waffe. Sacharows Konzept „Dritte Idee“, die spezifische Nutzung einer atomaren Explosion für die Zündung einer thermonuklearen Waffe, wird beim Test RMS-6s im August 1953 überprüft. Edward Teller (Teller–Ulam Design) hatte etwa zeitgleich in den USA für seine Technologie der gesteuerten thermonuklearen Explosion in ähnliche Richtung gedacht. Erst 1988, während der ersten Auslandsreise Sacharows in die USA, werden sich beide Physiker persönlich begegnen. In diesen Jahren legt er auch grundlegende Arbeiten zur Elementarteilchenphysik, Kosmologie und Kernfusionstechnologie vor, die weltweit noch Jahrzehnte später beachtet werden. Sacharow hat sich Zeit seines Lebens, auch als scharfer Kritiker der Sowjetunion, an die Geheimhaltungsvorschriften gehalten, streng darauf geachtet, die nuklearen Geheimnisse zu bewahren. Sein Motiv: Die Superbombe zu bauen, soll nach diesem furchtbaren Krieg das Überleben der Heimat sichern. Wasserstoffbomben mit ungeheurer Sprengkraft werden zur militärischen Grundlage für die Supermacht Sowjetunion. In den 1980er Jahren wird die Sowjetunion über 40.000 solcher Sprengköpfe haben. Doch den Schöpfer dieser Streitmacht kennt selbst in der Sowjetunion fast niemand. Mit 32 Jahren wird Sacharow Mitglied der Akademie der Wissenschaften, Auszeichnungen und Privilegien folgen. Rückblickend schreibt er in seinen Lebenserinnerungen:
Ich konnte mir nicht verhehlen, mit welchen furchtbaren, unmenschlichen Dingen wir uns beschäftigten. Doch der eben erst zu Ende gegangene Krieg war auch unmenschlich gewesen. Ich war in diesem Weltkrieg nicht Soldat gewesen. Aber ich fühlte mich als Soldat in diesem, dem naturwissenschaftlich-technischen Krieg.
Ein Vorfall zeigt bereits im Jahr 1955, dass Sacharow in seinen Ansichten weit entfernt ist von den Revolverhelden der sowjetischen Armeeführung und der Parteinomenklatura. Die wollten Nuklearwaffen vor allem als Mittel zur militärischen Überlegenheit und Expansion nutzen. Am 22. November 1955 wirft ein Bomber über der Steppe von Kasachstan den Prototyp der ersten transportablen Wasserstoffbombe ab. In 1500 Meter Höhe zündet sie wie geplant. Sie ist über 100mal stärker als die Hiroshima-Atombombe. Am Abend des Tests lädt der militärische Versuchsleiter, Marschall Mitrofan Nedelin (1902-1960), zum Bankett. Alle wichtigen Leute sind da, auch der berühmte Chef des Atomprogramms Kurtschatow. Nedelin forderte Sacharow auf, die erste Ansprache zu halten. In seinen Lebenserinnerungen schildert Sacharow diesen Abend, wonach er den Anwesenden vorschlug, darauf zu trinken, dass unsere Produkte immer genauso erfolgreich wie heute über Versuchsgeländen explodieren mögen, doch niemals – über Städten. In der Runde trat eisiges Schweigen ein. Alle waren erstarrt.
Nedelin erhob das Glas und antwortete mit einem russischen Gleichnis: Zwei Alte sitzen abends in ihrer Hütte. Der Alte betet vor einer Ikone darum, gelenkt u n d gestärkt zu werden. Da sagt die Alte: ach Alter, bete doch nur um Stärkung – lenken kann ich selbst. Sacharow sagte den ganzen Abend nichts mehr. Ihm ist deutlich gemacht worden: Ihr Wissenschaftler habt zwar die furchtbarste Waffe gebaut. Über den Einsatz entscheidet ihr aber nicht. In seinen Lebenserinnerungen schreibt er weiter: Natürlich hatte ich das auch schon vorher gewusst, so naiv war ich nicht. Doch es ist eine Sache, etwas zu wissen, und eine andere, es mit ganzer Seele in seiner Bedeutung für Leben und Tod zu empfinden. Das führte in den folgenden Jahren dazu, dass sich meine gesamte Einstellung änderte.
Es wird noch über ein Jahrzehnt dauern, bis Sacharow offen auf „die andere Seite“ geht, sich den Kritikern der Sowjetmacht anschließt. Doch seit 1966 ist er immer wieder in der Dissidentenbewegung in Erscheinung getreten, hat Briefe an die Parteiführung geschrieben, um Verfolgte freizubekommen. Am 5. Dezember 1966 nimmt er an der seit 1965 jährlich stattfindenden (in der Sowjetunion illegalen) Demonstration zur Achtung der Verfassung unter dem Puschkindenkmal im Zentrum von Moskau teil. Noch hat er jedoch nicht die Hoffnung aufgegeben, mit argumentativen Appellen an die Parteiführung, die er oftmals persönlich kennt, Veränderungen in der Rüstungs- und Umweltpolitik zu erreichen. Alles umsonst! Er bekommt keine Antwort. Erst mit seiner im Westen veröffentlichten Denkschrift Gedanken über Fortschritt, friedliche Koexistenz und geistige Freiheit (1968) wird auf „der anderen Seite“ wahrgenommen. Von den Machthabern, jetzt als Feind der Sowjetunion. Trotzdem schickt er weiter Appelle an die Machthaber. Auch im Namen seines 1969 gegründeten Menschenrechtskomitees (ab 1970 – Комитет прав человека в СССР), Solschenizyn wird Ehrenmitglied, schreibt Sacharow im März 1970 einen weiteren Brief an die Machthaber: Vorschläge zur Demokratisierung des öffentlichen Lebens in der Sowjetunion. Vierzig Seiten Analysen und Forderungen: Gewissens- und Gedankenfreiheit, freien Informationsaustausch und die Einrichtung rechtsstaatlicher Strukturen in der Sowjetunion. Zum Beispiel: Der Staat stellt sich den Schutz und die Garantie der Grundrechte seiner Bürger zum höchsten Ziel. Die Verteidigung der Menschenrechte muss an erster Stelle stehen. Zweitens: Alle Handlungen staatlicher Behörden basieren zur Gänze auf Gesetzen (die stabil und den Bürgern bekannt sein müssen). Die Beachtung der Gesetze ist für alle Bürger, Behörden und Organisationen verpflichtend.
All seine Artikel, Briefe, Vorschläge bleiben unbeantwortet. Nur der Geheimdienst KGB füllt damit seine Sacharow-Akte unter dem Code-Namen „Asket“. Auch diese Zurückweisung lässt ihn ab Mitte der 1970er Jahre nicht nur zum Menschenrechtsaktivisten werden. Er wird ein konsequenter Bürgerrechtler und Analytiker der internationalen Politik vom Standpunkt der Menschenrechte. 1969 war Sacharows erste Ehefrau Klawdija (1919-1969) gestorben. Er versorgte seither seine drei Kinder allein. Als Akademiemitglied verfügt er weiter über ein für sowjetische Verhältnisse hohes Einkommen. Im Dezember 1970 trifft Sacharow beim Prozess gegen den Oppositionellen Eduard Kusnezow (Jg. 1939) in Leningrad die jüdische Aktivistin Jelena Bonner (1923-2011). Der Jude Eduard Kusnezow hatte wegen „antisowjetischer Tätigkeit“ bereits sieben Jahre in Lagern verbracht. Versuche, eine legale Ausreise nach Israel zu erreichen, waren abgelehnt worden. Im Mai 1970 versuchte er mit Freunden vergeblich, ein Flugzeug für die Flucht nach Schweden zu kapern. Das Gericht verurteilt ihn unter Beifall der bestellten Anwesenden wegen Hochverrats zum Tode. Jelena Bonner brüllt in den Saal: Schämt Euch! Nur Faschisten freuen sich über Todesurteile. Der anwesende Sacharow ist fasziniert. Er schreibt dazu später in seinen Lebenserinnerungen: Der Beifall im Saal verstummte augenblicklich.
Der Fotograf Juri Rost (Jg. 1939) war ein Freund der Familie. In seinem Buch Kefir nado gret‘ : Istoriia liubvi, rasskazannaia Elenoi Bonner I Uriiu Rostu (Der Kefir muss erwärmt werden. Die Geschichte einer Liebe in Gesprächen von Jelena Bonner und Juri Rost, Verlag Boslen, Moskau 2018) hat er sich nach langen Gesprächen mit Jelena Bonner mit der Liebesbeziehung dieser beiden Oppositionellen beschäftigt. In den Jahren 1970 bis 1989 waren sehr persönliche Bilder entstanden, die Bonner und Sacharow authentisch zeigen. Für Rost sind beide individuelle und recht gegensätzliche Persönlichkeiten, die sich nicht zufällig bei einem Dissidentenprozess wiedertrafen. Juri Rost: Dahin reiste er allein. Sie mochte ihn erst nicht. Den Einzelgänger. In Russland heißt es: der Kefir muss erwärmt werden. Er mochte ihn aber kalt. Später hieß die Legende, sie, die Jüdin, hätte ihn eingefangen, sie hätte ihn geführt. Das ist nicht wahr. Er hat das vorangetrieben. Sie hat später seine Texte durchgesehen, klar, sie konnten zusammensitzen und diskutieren. Aber er war der Hartnäckige. Sehr Eigensinnige! Sacharow, so seine Biographen, sei ein eigensinniger Charakter gewesen, gepaart mit einer hervorragenden naturwissenschaftlichen Analysefähigkeit, die ihm seinen mühevollen Weg zum Andersdenkenden ebnete, ihn dann zum konsequenten Bürgerrechtler werden ließ.
Im bürgerrechtlichen Engagement, in der Furchtlosigkeit trafen sich beide. Bonner und er heiraten am 7. Januar 1972. Fast zwei Jahrzehnte lang wird die Verbindung beider vom KGB und von der sowjetischen offiziellen Öffentlichkeit verfolgt und antisemitisch diffamiert. Sacharow hatte sich bereits in der Denkschrift (1968) für die unbedingte Sicherung des Existenzrechtes Israels in gesicherten Grenzen eingesetzt. Auch das brachte ihm die Ablehnung der Machthaber in der Sowjetunion ein, die sich seit 1967 in einem Unerklärten Krieg gegen Israel (Jeffrey Herf, deutsch Wallstein Verlag 2019) befand. Jelena Bonners Familienschicksal, der Stiefvater 1938 während des Großen Terrors erschossen, die jüdische Mutter seit 1937 im GULag, und deren Engagement für die legale Ausreise sowjetischer Juden nach Israel bestärkten Sacharow in seiner eigenen menschenrechtlichen Kritik an der antiisraelischen Politik der Sowjetunion. Er kritisiert im Herbst 1975 die antisemitische UN-Resolution „Zionismus ist Rassismus“, die die Sowjetunion (und die DDR) unterstützt hatten. Sie widerspreche den Zielen der UN und verstärke weltweit die antisemitischen Stimmungen.
Dissident und Verbannung nach Gorki durch den KGB
Über das Jahre 1973 setzt er zudem sein Denken von sozialistischen Ideen und Zukunftsprojektionen ab. Nachlesbar ist dieser Befreiungsprozess im Sammelband: Andrei Sacharov. Za i protiv. 1973: dokumenty, fakty, sobytija (Vor- und Nachteile. Das Jahr 1973 in Dokumenten, Faktensammlungen und Ereignissen, russisch, Pik Verlag Moskau 1991). Darin auch das legendäre Interview mit dem schwedischen Journalisten Ole Stenholm vom Juli 1973: (deutsch in: Sacharow. Stellungnahme, Verlag Fritz Molden, Wien/München Zürich 1974, S. 43-55; auch als Audio vorhanden)
Nehmen wir den Sozialismus. Am Anfang glaubte ich ihn zu begreifen und hielt ihn für gut. Allmählich aber begann ich, vieles nicht mehr zu verstehen, und in mir kamen Zweifel auf an der Richtigkeit unserer ökonomischen Basis; ich fragte mich, ob es in unserem System etwas anders gäbe als leere Worte, etwas anderes als Propaganda für den innen – und außenpolitischen Gebrauch. … Frage: Worin sehen Sie die größten Mängel in der heutigen sowjetischen Gesellschaft? Sacharow: Sicherlich in der Unfreiheit. In der Unfreiheit, in der Bürokratisierung der öffentlichen Verwaltung, darin, dass dieses Regierungssystem äußerst unvernünftig und schrecklich egoistisch ist. Es ist eine egoistische Klassenverwaltung, die im Wesentlichen nur ein Ziel verfolgt: die bestehende Ordnung aufrechtzuerhalten und ungeachtet der misslichen Verhältnisse den Schein des Wohlstandes nach außen hin zu wahren.
Sein Biograph, der russisch-amerikanische Wissenschaftshistoriker Gennady Gorelik (Jg. 1948) schreibt in seinem 2013 (zuerst russisch, Moskau 2010) auch auf Deutsch erschienen Buch: Ein Leben für Wissenschaft und Freiheit, wonach diese Metamorphose hin zum Bürgerrechtler vor allem ein Ausdruck seines technisch-naturwissenschaftlichen Weltverständnisses war: Viele derer, die sich erkühnten, die Mängel der Sowjetgesellschaft beim Namen zu nennen, trösteten sich mit der Idee einer lichten Zukunft. Doch erst wer sich von diesem Irrglauben befreit hat, vermag die Menschenrechte als Grundlage gesunden menschlichen Lebens wirklich begreifen. Menschenrechtsverteidiger schert weniger die lichte Zukunft als die Rechte leibhaftiger Menschen der Gegenwart, mit Rechten, verkündet in der Verfassung des jeweiligen Landes und von den Vereinten Nationen.
Damit vollendet Sacharows seinen viel beschriebenen Schritt „auf die andere Seite“ zu gehen, sein Abstreifen sozialistischer ideologischer Erzählungen, sein Eintreten in seine eigene Denkwelt jenseits marxistisch-leninistischer Erlösungsverheißungen. Die folgenden sechs Jahre gibt er Interviews, verfasste zahlreiche Artikel und beteiligte sich an Diskussionen, mit denen er zu Reformen und zur Befreiung der politischen Gefangenen aufforderte. Seine öffentliche Abkehr vom Sozialismus war auch ein Affront gegen die „liberale Intelligenz des Westens“, die „der linken Mode“, dem von ihm kritisierten „Linksdrall“ anhinge. Sacharow beschreibt die Attraktivität linker Ideologien im Westen in seinem Buch „Mein Land und die Welt“ (1975): Ein weiterer, nicht unwichtiger, Faktor für die Vorherrschaft linker Ideen ist der Umstand, daß seit Jahrzehnten die westliche Welt mit ihrem Wettbewerb der Ideen einem unaufhörlich sich ergießenden Strom kommunistischer prosowjetischer oder prochinesischer Propaganda ausgesetzt ist, die im Grunde vernünftige soziale Ideen mit Halbwahrheiten und Lügen tendenziös vermischt. Obwohl das ARD-Büro Moskau unter Fritz Pleitgen (1938-2022) und ab 1977 geleitet von Klaus Bednarz (1942-2015) eine umfassende und kritische Berichterstattung zu ihm lieferte, konnte sich gerade in linksgerichteten Bereichen der (west-)deutschen Öffentlichkeit, anders als etwa in Frankreich, keine rückhaltlose Solidarität mit den sowjetischen, erst recht nicht mit antikommunistischen Dissidenten wie Bonner oder Sacharow etablieren. Geschickt agierte zudem der KGB und die sowjetische Propaganda, wonach Sacharownur „Werkzeug des imperialistischen Feindes“ und seiner Geheimdienste sein könne. In einer Kampagne der sowjetischen Presse wurde argumentiert, Sacharows „Krankheit“ zeige sich darin, wonach der nach Menschenrechtsverstößen in der Sowjetunion suchen würde, also im „weit fortgeschrittenem Weltsystem.“ Dort gebe es doch aber keine Ausbeutung, Profitstreben oder politische Gefangene – also könne es auch keine Menschenrechtsverletzungen geben. Dagegen geschähen die wirklichen Menschenrechtsverletzungen wie Arbeitslosigkeit, Ausbeutung oder Imperialismus im Westen, die ihn nur unzureichend kritisiere. Wer das nicht erkenne, könnte nur krank sein oder im Sold des Westens stehen.
Sacharow widersprach auch den Positionen fortschrittskritischer Stimmen wie Dennis Meadows „Grenzen des Wachstums“ (1972) oder Robert Jungks „Der Atomstaat. Vom Fortschritt in die Unmenschlichkeit“ (1977). Nicht verwunderlich also, wenn Andrej Sacharow auch als erklärter Befürworter der friedlichen Nutzung der Kernenergie und Ex(Wasserstoff-) Bombenbauer in der linken, pazifistischen Friedensbewegung in Deutschland nicht viele Anhänger hatte. Zu den Gründen sagte die Soziologin Ulrike Ackermann 2021 im Südwestrundfunk: Bereits in den 70er und 80er Jahren war es so, dass der Blick auf Ostmitteleuropa durchaus auch davon verstellt war, dass man meinte. Immerhin gibts eine gute Kinderbetreuung. Die Produktionsmittel sind verstaatlicht, bis hin zur Illusion, es gäbe einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Aber generell kann man sagen, dass die Dissidenten, die nicht irgendwelche sozialistischen Vorstellungen hatten, dass die hier im Westen und besonders in Deutschland eher als Störenfriede der Entspannungspolitik angesehen worden sind.
Im Januar 1980 verschwindet Sacharow aus der Öffentlichkeit. Nach seiner Kritik am sowjetischen Einmarsch in Afghanistan wurde er nach Gorki (heute wieder Nischni Nowgorod) verbannt, einer für Ausländer gesperrten Stadt. Ohne Zugang zu Telefon und unter ständigen Schikanen und der Kontrolle des Geheimdienstes KGB. Jelena Bonners Buch In Einsamkeit vereint (Zuerst 1986) beschreibt diese Zeit aus erster Hand.
Erst im Dezember 1986 konnten beide auf Initiative Gorbatschows wieder nach Moskau zurückkehren. Sacharow wurde am 23. Dezember 1986 am Kiewer Bahnhof von zahlreichen Journalisten empfangen. Er erklärte auf dem Bahnsteig: Ich bin sehr bewegt, und dass ich freigekommen bin, verdanke ich natürlich wirklich der internationalen Unterstützung, durch wissenschaftliche Freunde, durch andere Freunde, durch Familie und insbesondere der Unterstützung meiner Frau.
In den Jahren 1987-89 wird aus den Dissidenten ein Reformpolitiker-Paar. Die Großen der Welt wollen ihn treffen: Präsidenten, der Papst. Deutsche Politikerinnen wie die Grüne Petra Kelly, Willy Brandt, Richard von Weizsäcker sprechen mit ihm in Moskau. Er setzt sich für Abrüstung und Umweltschutz ein, reist nach Frankreich, Italien, Japan und 1988 in die USA.
Im März 1989 vollzieht Andrej Sacharow dann endgültig den Wandel hin zum aktiven Politiker. Er wird Abgeordneter im Volksdeputiertenkongress, eine zum Teil frei gewählte Versammlung von über 2000 Abgeordneten mit gesetzgeberischer Macht. Seine Forderungen gehen jedoch über die Praxis der Perestroika hinaus. Am 9. Juni 1989 tritt Andrej Sacharowans Rednerpult und sorgt für Tumulte im Saal. Beifall auf der einen Seite und wütende Rufe und Pfiffe von einer Vielzahl der Anwesenden. Andrej Sacharow fordert freie Wahlen und die Abschaffung des Machtmonopols der Kommunistischen Partei, welches im Artikel 6 der Sowjetverfassung fixiert ist. Das hatte zuvor niemand öffentlich geäußert. Er fordert: Dekret über die Macht! Artikel 6 der Verfassung wird aufgehoben. Zweitens: Es gelten in der Sowjetunion ausschließlich Gesetzes, die der Volksdeputierten-Kongress beschlossen hat. Das gilt auch für die Teilrepubliken.
Der folgende, öffentliche Schlagabtausch mit Gorbatschow geht als Nachricht um die Welt. Gorbatschow will Sacharows Rede nicht dulden. Er bestimmt als Tagungsleiter: Andrej Dmitriewitsch, Ihre Redezeit ist zu Ende. Es reicht jetzt, Genosse Sacharow. Später wird sich Gorbatschow korrigieren, sagen, Sacharow ging im Juni 1989 zwar in die richtige Richtung: Aber es war zu früh. Während einer Reise in die USA im Hochsommer 1989 schreibt er sein letztes Werk: einen Verfassungsentwurf für eine Sowjetunion ohne Kommunistische Partei an der Macht. Der Verfassungsentwurf ist Sacharows Vermächtnis, auch wenn er politisch unbeachtet bleibt. Eine kurze Rede dazu am 12. Dezember 1989 vor den Volksdeputierten ist sein letzter öffentlicher Auftritt. Am 14. Dezember 1989 stirbt er in seiner Wohnung an Herzversagen. Er wurde 68 Jahre alt.
Autor: Michael Hänel
Literatur: (Auswahl)
Bibliographien Sacharow: (russ.)
https://www.sakharov-archive.ru/library/
https://www.sakharov-archive.ru/sakharov/works/
http://www.prometeus.nsc.ru/science/names/sakharov/about.ssi
https://ufn.ru/ru/articles/1991/5/b/
Aktuelle Biographien:
Andrei Sacharow : ein Leben für Wissenschaft und Freiheit / Gennady Gorelik. Aus dem Russ. von Helmut Rotter, Basel [u.a.]: Birkhäuser (2013) Original: Геннадий Горелик. Андрей Сахаров: наука и свобода (2004)
Борис Альтшулер: Сахаров и власть. „По ту сторону окна“. Уроки на настоящее и будущее (2021)
Борис Альтшулер, Леонид Литинский, Андрей Сахаров, Елена Боннэр и друзья: жизнь была типична, трагична и прекрасна (сборник) 704 Seiten (Sammelband)
Boris Altschuler, Leonid Litinsky, Andrej Dmitrijewitsch Sacharow, Elena Bonner und Freunde: Ein typisches Leben: tragisch und schön (Zusammenstellung)
Verlag AST Moskau (2020)
Юрий Рост: Сахаров „Кефир надо греть“ : История любви, рассказанная Еленой Боннэр Юрию Росту (2018)
Juri Rost Sacharow. „Kefir muss erhitzt werden.“ Die Liebesgeschichte, erzählt in Gesprächen von Elena Bonner mit Juri Rost, Verlag Boslen Moskau 2018
Jay Bergman: Meeting the Demands of Reason. The Life and Thought of Andrei Sakharov. Ithaca, NY, London: Cornell University Press (2009)
Radio: (Online verfügbar)
Michael Hänel, Alexander Solschenizyn und sein Archipel Gulag,
SWR2 Wissen, 6. 12. 2018, 28min
Michael Hänel, Metamorphosen eines Kämpfers – Begegnungen mit Andrej Sacharow, SWR2 Wissen, 29. 10. 2012, 28 min https://soundcloud.com/user151816063/metamorphosen-eines-kaempfers-begegnungen-mit-andrej-sacharow
Michael Hänel: Porträt zum 100. Geburtstag Andrej Sacharow – Vom Bombenbauer zum Menschenrechtler, SWR2, 21. Mai 2021
https://www.swr.de/swr2/wissen/andrej-sacharow-vom-bombenbauer-zum-menschenrechtler-swr2-wissen-2021-05-21-100.html
Weiteres: (Auswahl) – Sacharows Friedensnobelpreis, Sacharow-Preis und Europäische Parlament
Jiri Pelikan/Manfred Wilke (Hrsg.): Menschenrechte: Ein Jahrbuch zu Osteuropa Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg (1977)
The Sakharov-Bonner Case. Folder 44. The Chekist Anthology. Wilson Center Digital Archive (2011)
https://digitalarchive.wilsoncenter.org/document/sakharov-bonner-case-folder-44-chekist-anthology
Joshua Rubenstein/Alexander Gribanov: The KGB File of Andrei Sakharov. Yale University Press (2005)
Michael Hänel: Zwischen allen Stühlen, Der Mahner und Humanist Andrej Sacharov, Zeitschrift Osteuropa 11-12/2014, S. 153–164; Online:
https://www.ssoar.info/ssoar/handle/document/46104
The Sakharov-Bonner Case. Folder 44. The Chekist Anthology. Wilson Center Digital Archive (2011)
https://digitalarchive.wilsoncenter.org/document/sakharov-bonner-case-folder-44-chekist-anthology
Ulrike Ackermann: Sündenfall der Intellektuellen – Ein deutsch-französischer Streit von 1945 bis heute, Klett-Cotta (2000). u.a. zur sowjetischen Wasserstoffbombe, Friedensnobelpreis und Sacharow-Preis für geistige Freiheit.
Klaus Bednarz: Mein Moskau. Notizen aus der Sowjetunion, Hoffman und Campe (1985)