Museum für Fotografie, 17.06.–18.09.2011
Die Alte Oper in Frankfurt 1963, noch von der Kriegszerstörung gezeichnet, eine Ruine. Gut lesbar unter dem Dreiecksgiebel die auf Goethe beruhende Inschrift „Dem Wahren Schönen Guten“. Davor braust der Verkehr. Ein VW-Käfer ist aufgrund seiner Geschwindigkeit nur schemenhaft erkennbar. Ein ambivalentes Symbol der Moderne, das vormals als KdF-Wagen für die vom Faschismus propagierte Motorisierung stand und nun mit neuem Namen das Wirtschaftswunder repräsentiert. Dahinter in konturenscharfer Zeichnung eine Straßenbahn mit Bierwerbung: Prost Henninger. Der komplexe Zustand der Bundesrepublik, gleichermaßen geprägt von Verdrängung, Restauration, Aufschwung und den lästigen steinernen Zeugen ist in einem Bild zusammengefasst. Das „Prost Henninger“ wirkt dabei wie ein sarkastisches Bonmot des Kabarettisten Wolfgang Neuss gegen die Bonner Restaurationspolitik. Übrigens schlug der SPD-Oberbürgermeister Rudi Arndt noch 1965 vor, die Alte Oper „mit ein wenig Dynamit“ zu sprengen, was ihm den Spitznamen „Dynamit-Rudi“ eintrug.
Das vielschichtige Bild stammt von der Fotografin Abisag Tüllmann, deren Arbeit, trotz vieler Auslandsreportagen, ebenso mit der Stadt Frankfurt verbunden war, wie das ihrer Kollegin Barbara Klemm. Abisag Tüllmann war mit ihrer Kamera in Frankfurt dabei, als sich in den späten 1960er Jahren neben Berlin und Hamburg auch dort der Protest erhob gegen den Muff aus 1000 Jahren unter den Talaren und dokumentierte die sozialen Kämpfe in Bildern und Reportagen. Zu jener Zeit hatte sie sich schon längst einen Namen gemacht und ihre Bilder waren prominent in „magnum – die Zeitschrift für das moderne Leben“, neben Fotografien von Henri Cartier-Bresson, Inge Morath und Marc Riboud erschienen. Auch für das von Willy Fleckhaus so einzigartig kühl und modern gestaltete Magazin „Twen“ hat Tüllmann Bilder geliefert. Nach dem revolutionären Aufbruch und dem daraus resultierenden „Deutschen Herbst“ hatte sich eine Ernüchterung breitgemacht. Viele ehemalige Revolutionäre waren in den Niederungen angekommen, manche hatten die Grüne Partei begründet, andere waren „ausgestiegen“, unpolitisch geworden, und wiederum andere hatten ihre Schäfchen ins Trockene gebracht und sich angepasst. Dennoch hat sich Abisag Tüllmann einen Rest an Optimismus bewahrt, mit ihrer Arbeit wenigsten im Nanobereich etwas bewirken zu können.
„I try to make something which might change the world just parts of a millimetre to the better.“ So beschrieb Abisag Tüllmann 1981 ihr Credo als Fotografin gegenüber einem israelischen Freund. Nach dem Historischen Museum in Frankfurt/Main zeigt nun als zweite Station das Museum für Fotografie in Berlin die umfassende Retrospektive, die das atemberaubende Lebenswerk dieser vielseitigen Fotografin nach ihrem krankheitsbedingten Tod 1996 zum ersten Mal würdigt.
Ursula Eva Tüllmann wurde 1935 als Tochter einer nach Nazidiktion „halbjüdischen“ Mutter in Hagen geboren. Ihren Vater, Besitzer eines Lesezirkel-Vertriebs, zwangen die Nazis aufgrund seiner Ehe, die die Nazi-Definition der „Rassenschande“ erfüllte, sein Unternehmen zu verkaufen. Er starb kurz nach dem Krieg. Mutter und Tochter ließen sich in Wuppertal nieder, wo Abisag Tüllmann die Werkkunstschule besuchte und arbeitete für eine Werbefirma Paul Pörtners, der ihr den Namen Abisag gab. Später zog sie nach Frankfurt/Main. Ihre ersten Fotografien machte sie 1953 mit einer Fotobox von Roma-Familien in Avignon. Das Interesse und ihre Empathie für die Situation von Ausgegrenzten aufgrund rassistischer oder sozialer Diskriminierung lassen sich in vielen ihrer Fotoserien erkennen. Der Mensch und die Gesellschaft, die Conditio humana, stehen im Fokus ihrer Arbeiten. 1963 erschien ihre fotografische Liebeserklärung an ihre Stadt Frankfurt, die unter dem Titel „Großstadt“ in moderner grafischer Gestaltung erschien und heute ein gesuchter Klassiker unter den Fotobüchern ist. Ihrem talentierten und wachen Blick für Bildaufbau und interessante Perspektiven sind viele Bilder zu verdanken, die das Thema Mensch und Großstadt, Isolation und Einsamkeit in einer von Kälte geprägten Betonarchitektur wirkungsvoll zum Ausdruck bringen.
Tüllmann hielt mit ihrer Kamera die Atmosphäre jener Jahre fest und vermochte es, in vielen ihrer Fotografien vielschichtige Erzählungen zu liefern, im Kern pointiert scharf, manchmal elegisch und dann wieder mit entlarvendem Humor. Eine Fronleichnamsprozession fing Tüllmann 1964 exakt in jenem Moment ein, als der Eiserne Steg über den Main nur von Nonnen bevölkert wurde. Wie ein Korsett zwängen die Brückengeländer die Nonnen zu einem Strom, der aus der Stadt und aus dem Bild hinaus führt.
Die Studentenproteste hielt sie mit deutlicher Sympathie fest. Herbert Marcuse, Ernst Bloch und Rudi Dutschke durfte sie ganz aus der Nähe fotografieren. Nach dem Mordanschlag auf Dutschke fotografierte sie eine Szene im Terrassencafé in Frankfurt. Im Zentrum des Fotos befindet sich ein Leser der Abendpost-Nachtausgabe mit der Schlagzeile „Attentat auf Dutschke. Fünfstündige Operation“. Der Springer-Konzern und seine Zeitungen, allen voran die „Bild“-Zeitung, hatten eine Pogromstimmung geschürt, von der sich der Attentäter Josef Bachmann nachweislich hatte beeinflussen lassen. Gesten und Gesichter der fünf älteren Männer auf dem Foto zeichnen diese als Angehörige einer Generation und eines Klientel aus, die nicht selten unverhohlen Sympathie zeigte für den feigen Anschlag und zu der Frage Anlass gab, was diese wohl vor 1945 getan hatten.
Abisag Tüllmann, die für alle wesentlichen Zeitungen und Magazine wie „Die Zeit“, „Stern“, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, „Der Spiegel“ arbeitete, hat neben ihrer Stadt- und Sozialfotografie auch ein großes Interesse für Auslandsreportagen gezeigt und zusammen mit Henryk M. Broder aus Israel berichtet. Sie fotografierte im kriegszerstörten Libanon, im Apartheidstaat Südafrika und dokumentierte Aktivitäten der Black Panther Party. Bekannt wurde sie auch als Theaterfotografin. Die Stücke unter Claus Peymanns Ägide in Berlin, Bochum, Stuttgart und Wien begleitete sie bis kurz vor ihrem Tod 1996. Die legendäre Fotoserie von der alten Therese Giehse in ihrer herausragenden Rolle als Mutter in dem gleichnamigen Stück von Bertolt Brecht stammt von Tüllmann.
Autor: Matthias Reichelt
Katalog: Martha Caspers (Hrsg.): „Abisag Tüllmann 1935–1996. Bildreportagen und Theaterfotografie“ mit Essays von Martha Caspers, Katharina Sykora, Kristina Lowis, Monika Haas, Barbara Lauterbach und Ulrike May. 204 S., zahlreiche Abbildungen in Schwarz-Weiß und Farbe, Hatje und Cantz, 29,90 €