„Ein Mann, der heute beinahe in Vergessenheit geraten ist“, dessen Bedeutung für die Kultur-, Literatur- und Mediengeschichte aber nicht unterschätzt werden darf. Der Autor Christoph von Ungern-Sternberg beklagt in der Einleitung seiner biographischen Darstellung des Kritikers, Drehbuchautors, Herausgebers, Essayisten, Journalisten und Kulturvermittlers Willy Haas dessen Verschwinden im öffentlichen Bewusstsein. Lediglich durch den Literaturpreis der Tageszeitung Die Welt, der ihm zu Ehren alljährlich verliehen wird, und durch die Kopfzeile der wöchentlichen Literaturbeilage dieser Zeitung – der Literarischen Welt –, die er begründet hat, wird an ihn erinnert.
Christoph von Ungern-Sternberg zeichnet Leben und Wirken Willy Haas’ vor dem zeithistorischen Hintergrund nach. Sich im Wesentlichen an die Chronologie der Lebensstationen haltend, beginnt der Biograph mit der Jugendzeit und geht vor allem den Fragen nach, wie sich Willy Haas bereits in jungen Jahren eine so bedeutende Stellung im Literaturbetrieb erarbeiten konnte, welche Rolle seine jüdische Herkunft für ihn spielte und wie er seinen Eltern und der ausgehenden k.u.k.-Monarchie gegenüber stand. Während der Prager Zeit bewegte er sich im Dunstkreis von Franz Kafka und startete erste journalistische Versuche mit der Redaktion und Herausgabe der Herder-Blätter, in denen Artikel von unter anderen Franz Kafka, Franz Werfel oder Robert Musil erschienen.
Es folgen die ersten Arbeiten beim Film, sein Aufstieg als einer der ersten Filmkritiker überhaupt sowie als Drehbuchautor. 1925 gründete er Die literarische Welt. Ungern-Sternberg geht sehr genau auf die Tätigkeit Haas’ als Herausgeber ein und zeigt auf, wie er sich im publizistischen Spektrum der Zeit positionierte. Dabei beleuchtet er die Zielsetzung der Literarischen Welt und die Arbeiten der einzelnen Autoren und erläutert zudem die Umstände aufgrund der heftigen Kritik, die die Zeitschrift in diesen ersten Jahren erfuhr. 1933 musste Haas das Blatt schließlich verkaufen und emigrierte nach Prag. Dort versuchte er ein ähnliches Medium zu etablieren, die Welt im Wort, deren Produktion er allerdings ebenfalls nach kurzer Zeit einstellen musste.
1939 schließlich musste er nach der Besetzung der Tschechoslowakei durch die Nazis auch aus Prag fliehen. Seine Emigration führte ihn nach mehreren unglücklichen Versuchen, einen geeigneten Ort für das Exil zu finden, nach Indien. Dort fand er wiederum Anschluss in die Filmindustrie und wirkte an frühen Bollywood-Produktionen mit. Dieses Kapitel bietet neben den Schilderungen der Lebensumstände des Flüchtlings spannende Einblicke in die frühe indische Filmindustrie um 1940. Detailliert geht der Autor beispielsweise auf die Bedeutung von Tänzen, Gesängen und mythologischen Motiven im indischen Film ein. Nach dem Bankrott seines indischen Arbeitgebers diente Haas kurzzeitig in der britisch-indischen Armee. In dieser Zeit befasste er sich mit dem Nationalsozialismus und verfasste einige analytische Arbeiten zum Thema mit deutlicher antifaschistischer Ausrichtung.
Nach der Rückkehr aus Indien ging er zunächst nach London, wo er seine Frau kennen lernte und wieder publizistisch aktiv wurde. In Deutschland spielte er dann eine bedeutende Rolle beim Wiederaufbau des deutschen Zeitungswesens in der britischen Zone, zunächst als Controller und später als Redakteur der 1948 gegründeten Die Welt.
Das Verdienst der Willy Haas-Biographie von Ungern-Sternberg liegt nicht nur darin, das Leben eines der wichtigsten Persönlichkeiten des frühen Film- und Presselebens Europas in einer klar geschriebenen Analyse darzustellen, sondern auch darin, einmal wieder deutlich zu machen, inwieweit Karrieren und Lebensläufe durch die Verfolgungs- und Vernichtungspolitik der Nazis erschüttert, wenn nicht gar zerstört wurden.
Autorin (Rezensentin): Dr. Andrea Brill
Christoph von Ungern-Sternberg: Willy Haas 1891–1973. „Ein grosser Regisseur der Literatur“. edition text+kritik, München 2007, 327 Seiten, ISBN 978-3-88377-858-7.