Was unter Berliner Mahnmal-Trubel gelegentlich in Vergessenheit gerät: Der 27. Januar, also der Tag, an welchem 1945 das KZ Auschwitz befreit wurde, ist seit Jahren ein deutscher Gedenktag. Und er ist ein Datum, das in Osteuropa weit mehr Beachtung als in unseren Breiten findet. Dies gilt besonders für das laufende Jahr, in dem sich die Befreiung zum 60. Mal jährt. Als Beleg bringt Shoa.de die deutsche Übersetzung einer russischen Reportage, die diese spezifische Sicht illustriert.

Befreiung von Auschwitz
Am Mittwoch (26.1.2005) weilen in Krakau 40 Staatsoberhäupter, um an einer Zeremonie teilzunehmen, die dem 60. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz gewidmet ist. Gegenwärtig leben in Moskau etwas mehr als drei Dutzend Menschen, die die Hölle des faschistischen Konzentrationslagers überlebt haben.
Am 27. Januar 1947 wurde Ausschwitzt befreit
Auschwitz befreiten am 27. Januar 1945 die Truppen der Ersten Ukrainischen Front, die auf Krakau zumarschierten. Soldaten der Aufklärungseinheit von Grigorij Demin öffneten die Tore des Todeslagers. Demin erinnert sich: „Langsam verließen sie die Baracken. Die Menschen kamen näher, sie kamen in Massen. Sie waren, wie man so sagt, nur Haut und Knochen“. Bei Kriegsende gab es in der Sowjetunion rund 110.000 ehemalige Gefangene in Auschwitz. Wie viele von ihnen derzeit noch leben, weiß niemand. Bekannt ist nur die Tatsache, dass es allein Moskau genau einunddreißig Personen sind.
Kurz vor der Befreiung von Auschwitz jagten die Deutschen ihre Gefangenen gen Westen. Im letzten Moment ritzte Ina Ionovna Vjalikova, die schon alle Hoffnung auf Rettung verloren hatte, ihre Heimadresse in Novošachtinsk auf die Barackenwand. Sie hatte das Glück, nach Hause zurückzukehren, wo sie die schwerste Beschuldigung erwartete: Verrat der Heimat. Ihr Leben verdankt Nina Vjalikova einem unerwarteten Brief, der im Herbst 1945 bei ihren Eltern eintraf. In dem stand: „Teilen Sie mir bitte mit, ob Ihre Tochter lebt. Ich fand Ihre Adresse oder die Adresse Ihrer Tochter auf einer Wand des Konzentrationslagers“. „Und mit diesem Brief ging ich zum KGB“, erzählt Nina Ionovna. Dort ließ man die Anklage augenblicklich fallen, bat sie nur, die Auschwitz-Tätowierung zu entfernen: Sechs Nummern an linken Arm. Die Nummern waren sehr lang – die Gesamtzahl der Gefangenen ging in die Millionen.
„Nummer Einhundertfünfzigtausendsiebenhunderteins. Solche Nummern wurden sofort nach der Ankunft vergeben“, erinnert sich der ehemalige Auschwitz-Häftling Ivan Semenovič Šaškov. Er war acht Jahre alt, als er zum ersten Mal Musik von Wagner hörte. Aus dem Lagerlautsprecher. Dröhnend laut. Unter dieser Musik kam in Auschwitz seine gesamte Familie um. „Ich überlebte, weil ich als künftiger Arbeiter (im Original deutsch, A.d.Ü) für Deutschland ausersehen war. Aus uns Kindern machten sie Sklaven, damit wir, sobald wir herangewachsen waren, für die Deutschen arbeiteten“, sagt Ivan Semenovič.
Die zahnlosen, ausgemergelten Baracken-Nachbarinnen von Ėleonora Josifovna Filonova waren gerade mal um die 20 Jahre alt. Ėleonora selber, die Tochter eines Partisanen, war von Bewohnern ihres Dorfs verraten worden. Es folgten das Gefängnis von Dresden, Königsberg, Auschwitz. „Wir waren rund 60 Gefangene, um uns herum standen andere, zu denen wir riefen: Mädchen, sagt bitte, die backen Tag und Nacht Brot, aber uns geben sie nichts. Wir hungern! Die anderen klärten uns auf: Das ist keine Bäckerei, hier wird kein Brot gebacken – hier werden Menschen verbrannt, lebendige und tote“, so ihre Erinnerungen.
Das Gefühl des Hungers, sagt Ėleonora Iosifovna, kriegst du nicht aus dem Kopf heraus. Es verkörpert dein Verhältnis zum Leben. Ėleonora Iosifovna zeigt eine Photo einer Mitgefangenen: „Hier liegt eine Kranke, die nur noch 25 Kilo wiegt. Ich war auch so eine“.
Autor: Konstantin Ščekočichin (Moskau) (Erst-Veröffentlichung in: Vesti.Ru 26.1.2005, Übersetzung aus dem Russischen: Wolf Oschlies)