Das Frauen-Konzentrationslager am Abend des Zweiten Weltkrieges: Kreuzweg und Endstation für Tausende Deportierte
Etwa 9.000 bis 15.000 ungarische Jüdinnen durchliefen 1944/45 das Lager – Massensterben im “Auschwitzer Zelt” – Vernichtung auch durch Gas
Von Ungarn nach Auschwitz
Der hunderttausendfache Mord an den ungarischen Juden wird in der Forschung gemeinhin als das tragischste Kapitel in der Geschichte der Shoa sowie als “Holocaust nach dem Holocaust”[1] bezeichnet. Die Tragik gründet sich dabei nicht nur auf die enorme Anzahl der Getöteten. Auch der Zeitpunkt der Deportationen (Frühjahr-Herbst 1944), die Geschwindigkeit bei der Vernichtung der Menschen, die Untätigkeit der Alliierten, des Vatikans und des Internationalen Roten Kreuzes, die Untätigkeit der Betroffenen selbst (Verantwortung des Judenrats) sowie nicht zuletzt die Kollaboration des ungarischen Staates hat erhebliche Kontroversen ausgelöst.
Als die Panzer der Wehrmacht am 19. März 1944 in Budapest einrollten und Ungarn damit von Nazi-Deutschland besetzt wurde, erreichten auch verschiedene diplomatische Einheiten die Hauptstadt. Die Spezialeinheit unter dem Befehl von Adolf Eichmann, die mit der Deportation der fast 800.000 Juden des Landes betraut wurde, trug seinen Namen: “Sondereinsatzkommando (SEK) Eichmann”. Auch in Ungarn verfuhr man in den nächsten Monaten nach dem “bewährten NS-Plan der Volksausrottung.”[2] Zunächst mussten sich alle Juden ab sechs Jahren ab April 1944 mit dem Stern kennzeichnen, durch Reiseverbot wurden sie dann an den Ort gebunden, danach siedelte man sie um oder sperrte sie in Ghettos. Später brachten die Todeszüge sie nach Auschwitz. Ab dem 15. Mai wurden in der Regel vier Transporte am Tag mit jeweils 3.000 Juden abgefertigt. Für diese letzte Etappe der “Endlösung” hatte man extra die “Kapazitäten” von Auschwitz-Birkenau erhöht. Eine neue Eisenbahnstrecke führte die Opfer nun direkt an die Gaskammern und Krematorien, die fortan Tag und Nacht in Betrieb blieben. Mitte Juli 1944 konnte Edmund Veesenmayer, der “Reichsbevollmächtigte” Hitlers in Ungarn, SS-Führer Heinrich Himmler berichten, bis dahin habe man über die Hälfte aller ungarischen Juden aus dem Land in die Vernichtungslager deportiert (450.000).[3] Erst wenige Tage zuvor hatte Ungarns Reichsverweser Miklós Horthy verfügt, dass die Deportationen zu stoppen seien, nachdem der Druck aus dem In- und Ausland, etwa durch den Einspruch des Papstes, zu groß geworden war. Durch die sog. “Auschwitz-Protokolle”, Berichte Überlebender, die von Zeitungen veröffentlicht worden waren, war mittlerweile auf der ganzen Welt bekannt, was in Europa seit Jahren vor sich ging. Eichmann und das SEK widersetzten sich der Anweisung Horthys allerdings. Bis zum vorläufigen Stopp der Deportationen durch den Befehl Himmlers im August 1944 gelang es ihnen so, den geplanten Abtransport aus der fünften von insgesamt sechs Deportations-Zonen, in die man das Land eingeteilt hatte, (westliches und südwestliches Ungarn) noch abzuschließen.
Auschwitz-Birkenau entwickelte sich im Verlauf der “Aktion Margarethe”, wie die Besetzung Ungarns intern genannt wurde, für die ungarischen Juden zum zentralen Ort, von dem aus einerseits ihre Weiterverteilung in andere Lager im Reich geregelt, und an dem andererseits die meisten von ihnen vernichtet wurden. Viele, die die Selektion auf der “Rampe” zunächst überlebt hatten, waren später fortlaufend periodischen Selektionen bzw. Transfers und Überstellungen ausgesetzt. In der zweiten Hälfte des Jahres 1944 wurden etwa 65.000 Häftlinge, darunter eine nicht mehr festzustellende Anzahl von Juden, gen Westen transportiert. Die größten Gruppen ungarischer Juden kamen nach Dachau, Buchenwald, Bergen-Belsen, Groß-Rosen, Mauthausen, Natzweiler und nach Ravensbrück (über 9.000, nach Strzelecki)[4] bzw. in deren Außenlager. Die Historiker Götz Aly und Christian Gerlach dagegen schätzen allein die Anzahl der in Birkenau zur Zwangsarbeit selektierten ungarischen Juden auf insgesamt bis zu 100.000 Menschen.[5]
Die meisten ungarischen Juden und Jüdinnen, die nicht in den Gaskammern ums Leben gekommen waren, blieben also nicht bis zur Evakuierung von Auschwitz im Januar 1945 im Lager, sondern waren bereits im Frühjahr und Sommer weitertransportiert worden. Der ungarisch-amerikanische Holocaust-Forscher Randolph Braham spricht von fast 370 Arbeits- und Konzentrationslagern, in die sie von Auschwitz aus verschleppt wurden.[6]
Wege nach Ravensbrück
Der Transport der ungarischen Jüdinnen nach Ravensbrück scheint dabei immer auf ähnlichen Routen durchgeführt worden zu sein. Die meisten Frauen, die von Auschwitz aus auf einen Arbeitstransport in das Frauen-Konzentrationslager geschickt wurden, deportierte man direkt aus Birkenau mit dem Zug ins Reich. Nach ein bis zwei Tagen erreichten die Züge den Ort Fürstenberg bzw. den Bahnhof Ravensbrück. Andere hielten sich erst tage-, zeitweise auch wochenlang in Arbeitslagern auf bevor sie nach Ravensbrück weitertransportiert wurden. Die ungarischen Jüdinnen, die im Januar 1945 die sog. “Todesmärsche” aus Auschwitz-Birkenau antreten mussten, berichten in ihren Erinnerungen hauptsächlich über zwei Evakuierungsrouten: einerseits über den Weg von Auschwitz nach Gleiwitz, andererseits über die Route Auschwitz-Loslau und danach weiter mit der Bahn nach Ravensbrück. Über den Weg, den die Züge zurücklegten, äußern sich die Frauen nicht. Es ist anzunehmen, dass die Transporte aus Loslau, ebenso wie die Züge aus Gleiwitz, in nordwestlicher Richtung über Breslau und Berlin nach Ravensbrück geleitet wurden. Die Deportation dauerte im Durchschnitt fünf bis zehn Tage.
Die Ankunft der ungarischen Jüdinnen aus Budapest im Herbst und Winter 1944/45 fällt in die sog. “Endphase” des Frauen-Konzentrationslagers Ravensbrück, deren Beginn gemeinhin auf den Sommer 1944 datiert wird. Nach dem Sturz Horthys im Oktober 1944 und der Machtübernahme der faschistischen “Pfeilkreuzlerpartei” in Ungarn drangen die Deutschen darauf, nun auch die Deportationen in der sechsten Zone, in Budapest, aufzunehmen. Die Deportationswege der Budapester Juden und Jüdinnen lassen sich aufgrund der Überlieferung in Erlebnisberichten relativ gut nachzeichnen. Als sie Ende Oktober 1944 auf Plakaten, im Radio und in der Zeitung aufgefordert wurden, sich zum “vaterländischen Arbeitsdienst” zu melden, folgten Tausende diesem Aufruf. Rund um die Hauptstadt in Ziegeleien und auf Sportplätzen konzentriert wurden die Juden und Jüdinnen zunächst zu Schanzarbeiten gezwungen bevor man sie auf die Märsche an die ungarisch-österreichische Grenze schickte. Der Weg führte über Gödöllö, Komárom, Györ nach Hegyeshalom, wo die ungarische Gendarmerie die Trecks an die Deutschen übergab. Erneut musste bis Zürndorf marschiert werden, wo die Menschen in Waggons gesperrt und zur Zwangsarbeit abtransportiert wurden. Viele der ungarischen Jüdinnen, die den rund 200 km langen Marsch überlebt hatten und nun auf dem Weg in die Konzentrations- und Arbeitslager des Reichs waren, wurden direkt nach Ravensbrück deportiert, was ungefähr eine Woche dauerte. Es kam auch vor, dass Frauen zunächst andere Lager durchliefen bzw. sofort in eines der zahlreichen Arbeitslager von Ravensbrück verschleppt und erst später in das Hauptlager transportiert wurden.
Für das Jahr 1944 sind im Zeitraum vom 3. Februar bis zum 29. November fast 30 Transporte in das Frauen-Konzentrationslager nachweisbar, in denen sich unter den insgesamt 7.516 Häftlingen auch ungarische Jüdinnen befanden. Allein während der Phase, die der Machtergreifung der Pfeilkreuzler in Ungarn im Oktober und der danach einsetzenden Deportation der Juden aus Budapest im November folgte, kamen über 3.000 ungarische Jüdinnen nach Ravensbrück.[7] Die Schätzungen für diese Häftlingsgruppe für den gesamten Zeitraum, in dem das Lager existierte (Mai 1939-April 1945), schwanken zwischen 9.000 und 15.000 Personen.
Katastrophale Lebensbedingungen im “Auschwitzer Zelt”
Die Verhältnisse, die die ungarischen Jüdinnen bei ihrer Ankunft in Ravensbrück vorfanden, lassen sich nicht mit dem Wesen des Lagers vor dem Einsetzen der Massentransporte aus dem Osten und aus Ungarn vergleichen. Die Bedingungen waren einem ständigen Wandel unterworfen, und je länger der Krieg dauerte, desto schwieriger wurde es, zu versuchen, sich diesen Bedingungen anzupassen. In der zweiten Hälfte des Jahres 1944 erfolgte der gravierendste Einschnitt in der Geschichte des Frauen-Konzentrationslagers. Mit der Umfunktionierung des nahe Ravensbrück gelegenen “Jugendlagers Uckermark” in einen zusätzlichen Vernichtungsort sowie der Inbetriebnahme einer Gaskammer neben dem Krematorium Ende 1944/Anfang 1945 war Ravensbrück zu einem “unmittelbaren Vernichtungslager”[8] geworden. “Alltag” bedeutete für die Frauen in den letzten Monaten der Existenz des Lagers einen Wettlauf gegen den Tod. Zusätzlich zu Hunger, Kälte und Krankheit bedrohten nun gezielte Massenvernichtungsaktionen ihr Leben.
Die Lagererfahrungen der ungarischen Jüdinnen differieren von den Erfahrungen anderer (jüdischer und nicht-jüdischer) Häftlingsfrauen in Ravensbrück. Die Frauen aus Ungarn hatten meist weniger als zwölf Monate unter den extremen Bedingungen der Konzentrationslager, denen Häftlinge aus anderen Nationen oft jahrelang ausgesetzt waren, leben müssen. Dafür kamen sie zu einem Zeitpunkt in die Lager, an dem der Genozid zur Routine und das Überleben äußerst schwierig geworden war. Folglich unterscheiden sich die Wahrnehmungen dieser Gruppen in Interviews, Zeugenaussagen und Erinnerungsberichten, die nach 1945 aufgenommen wurden, voneinander.
Das Schicksal der ungarischen Jüdinnen in Ravensbrück wird für immer mit dem “Auschwitzer Zelt” verbunden sein, das seinen Namen der massenhaften Unterbringung von aus Auschwitz-Birkenau evakuierten polnischen und ungarischen Häftlingsfrauen verdankt, die die ersten waren, für die es im Spätsommer 1944 keinen Platz mehr in den bereits überfüllten Baracken des Frauen-Konzentrationslagers gab. Das Elend im Zelt ist neben den medizinischen Experimenten sowie der Vernichtung von Tausenden von Häftlingen in der Gaskammer eines der schrecklichsten Kapitel in der Geschichte von Ravensbrück.
Als gegen Ende des Sommers 1944 die Kapazitätsgrenzen der Baracken endgültig überschritten waren, ließ die Lagerleitung zwischen den Blöcken 24 und 26 ein etwa 50Meter langes Zelt aufstellen, in dem in der Folgezeit, je nach Aussage, über 3.000 Häftlinge zusammengepfercht vegetierten. Derartige Sonderabschnitte in den Konzentrationslagern wie das Zelt in Ravensbrück nennt der Soziologe Wolfgang Sofsky “Zentren der systematischen Verelendung.” Inmitten des Häftlingslagers habe die SS Regionen des Massensterbens abgetrennt und dort eine gezielte Politik des Aushungerns betrieben. “Diese Bezirke”, so Sofsky, “waren nichts anderes als Vernichtungslager im Konzentrationslager.”[9]
Über das Zelt existieren keine NS-Dokumente. Was darüber bekannt ist, wissen die Forscher von den Überlebenden. Aus ihren Aussagen wird deutlich, welch unhaltbare Zustände im Inneren geherrscht haben müssen. Erstmals berichtete eine Französin, Marie Claude Vaillant-Couturier, 1946 im Rahmen der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse darüber. Auch später, während der Ravensbrück-Prozesse in Hamburg, fand es mehrfach Erwähnung. Alle Zeuginnen berichten mit Entsetzen von einer dünnen Schicht Stroh, feucht und stinkend, auf der die Frauen teilweise mit einer dünnen Decke auf ihren ausgezehrten Körpern, teilweise ganz ohne Decke hätten ausharren müssen. Die Kälte im harten Kriegswinter 1944/45 hatte einen großen Anteil an der Todesrate, die in den Erinnerungen mit einem Dutzend bis 30-40 Toten täglich angegeben wird. Nachdem die ersten Massentransporte in Ravensbrück eingetroffen waren, sei die Zahl der Toten ab November 1944 auf etwa 1.000 Fälle pro Monat gestiegen, berichtet die Häftlingsärztin A.A. Nikiforowa nach dem Krieg.[10] Als die ungarische Jüdin Kató Gyulai aus Budapest im Dezember 1944 zwölf Tage im Zelt verbringen muss, befinden sich 2.000 Personen darin, etwa 800 Jüdinnen und 200 Sinti und Roma ihres Transports in einem Teil sowie genau so viele Frauen aus einem Außenlager bei Frankfurt/M. und Auschwitz in dem anderen. “Sie glichen schon keinen menschlichen Gestalten mehr, sie waren nur noch in Lumpen gehüllte, barfüßige Phantome, die umfielen wie die Fliegen. Wenn sie krank waren, kümmerte sich niemand um sie, und wenn sie starben, wurden sie von ihren Gefährtinnen hinausgetragen”[11], schreibt Gyulai 1947 ihre Erinnerungen nieder, die im Jahre 2001 auf Deutsch publiziert wurden. Jeder Neuzugang im Lager trug zur Verschlechterung der Verhältnisse bei, bedeutete weniger Platz, weniger Essen, geringere Überlebenschancen. Über das solidarische Verhalten untereinander gibt es daher sehr verschiedene Aussagen. Oftmals entstand Unruhe und Chaos bei der Essensausgabe, nicht selten ergoss sich die Kohl- oder Rübensuppe über den Boden, so dass es gar nichts zu Essen gab. Anfangs habe in ihrer Gruppe noch ein wenig Ordnung geherrscht, doch die Müdigkeit, der Hunger und das Frieren habe sie und die anderen schnell mürbe gemacht, schreibt Gyulai, die von Handgreiflichkeiten und Streitereien berichtet, bei denen es dann “um ein Minimum an Platz oder eine Kartoffel” gegangen sei.[12] Als besonders schlimm empfanden die Frauen im Zelt auch den dauernden Schlafentzug. Durch die Überfüllung mussten viele im Stehen schlafen, wobei ihre Beine einknickten und sie dadurch wieder aufwachten. Überlebende berichten, man habe sogar eher auf das Abendbrot verzichtet, als seinen Sitz- oder Schlafplatz für die Nacht aufzugeben. Das “Recht des Stärkeren” herrschte ebenso beim Handgemenge um die Mäntel, die ab und zu verteilt wurden, sowie beim stundenlangen Appellstehen. Wer ohnmächtig umfiel, blieb auf dem kalten Boden liegen und wurde nicht zurück ins Zelt gebracht. Die Vermutung liegt nahe, dass die SS das Prozedere auch dazu benutzte, die Menschen in der Kälte absichtlich elend zugrunde gehen zu lassen, um so Platz für Neuankömmlinge zu schaffen.
Das Verheerendste für die Zeltbewohner aber waren die hygienischen Bedingungen, die die Frauen enervierten, entwürdigten und nicht zuletzt auch umbrachten. Während die Häftlinge in den Baracken sich wenigstens noch einmal am Tag dürftig waschen konnten, erinnert sich Kató Gyulai hingegen voller Schrecken: “In den zwölf Tagen sahen wir Wasser nur als Regen oder Schnee.”[13] An Händewaschen nach der Toilette war nicht im geringsten zu denken. Die Frauen mussten ihre Notdurft in Eimer verrichten, die in einer Ecke des Zeltes standen, oder sie gingen auf die Latrinen, die man wenige Meter davon entfernt aufgestellt hatte. Dann riskierten die spärlich bekleideten Frauen allerdings, sich auf dem Weg dorthin in der eisigen Kälte eine Lungenentzündung zu holen oder ihren Schlafplatz zu verlieren. “Die Eimer waren am Morgen immer voll, und ihr stinkender Inhalt lief über, bisweilen auch über die in der Nähe Liegenden. Wir mußten die Eimer unter Beschimpfungen hinaustragen und in eine Grube direkt neben dem Zelt entleeren”[14], erinnert sich Gyulai zurück.
Vielen Überlebenden sind auch die unzähligen Läuse und anderes Ungeziefer im Gedächtnis geblieben, die sich aufgrund der unzulänglichen hygienischen Verhältnisse gleichermaßen in den Blöcken und im Zelt ungehindert ausbreiten konnten. Mit dem Ungeziefer, aber auch durch die Überstellungen bereits Infizierter, kamen Krankheiten ins Lager, die sich aufgrund der hohen Kontaktdichte unter den Häftlingen rasend schnell ausbreiteten. Typhus, Paratyphus, Krätze, Ruhr und Fleckfieber, Cholera und Tuberkulose (TBC) – die Lagerleitung wurde den Seuchen im letzten Kriegswinter längst nicht mehr Herr. Zwar gab es Ende 1944 einen Typhus- und einen TBC-Block in Ravensbrück, doch wurden die Kranken dort nicht versorgt – im Gegenteil: man pferchte die Frauen zu dritt oder viert in die Betten und überließ sie ohne Essen und Medizin ihrem Schicksal. Andere Häftlinge, denen die Zustände bekannt waren, nannten den TBC-Block daher auch “Friedhof”[15].
Der Kontakt zwischen Zeltbewohnern und den Insassinnen des Barackenlagers war verboten. Trotzdem wurde ihnen manchmal Hilfe von außen zuteil. Anja Lundholm z.B. beschreibt, wie sie und andere politische Häftlinge einmal Lebensmittel und Decken gestohlen und sie den Zeltbewohnerinnen heimlich gebracht hätten. Lundholm gelingt eine eindrucksvolle Schilderung darüber, was sie sah und fühlte, als sie das Zelt das erste Mal betrat: “Es verschlägt uns die Sprache, nimmt uns den Atem. (…) Zusammengerollt, wimmernd liegen sie am eisigen Boden, werden gestoßen, getreten; andere (…) kriechen auf vergeblicher Suche nach Wasser zum Säubern über sie. Viele der Gesichter, in die wir schauen, sind vom Wahnsinn gezeichnet. (…) Ein Inferno. O Gott, welch ein Inferno!“[16]
Das aus anderen Konzentrationslagern bekannte “Muselmannsyndrom” trat auch in Ravensbrück auf. Frauen, die sich aufgegeben hatten, wurden von der SS hämisch als “Schmuckstücke” bezeichnet. Diese Häftlinge waren nicht länger handlungsfähig. Eine überlebende ungarische Jüdin erinnert sich: “Allmählich wurde deutlich, daß es in Ravensbrück nur ein Entweder-Oder gab: entweder man überlebte oder man starb. Wenn die Wärterin morgens um vier Uhr (…) um sich schlagend in den Schlafraum kam und eine von uns nicht aus dem Bett stieg, weil sie (…) zu erschöpft war, sich zum Aufstehen zu zwingen, dann hatte sie den Tod gewählt, ob sie es wußte oder nicht.”[17] Die von der SS gezielt betriebene Politik der Verelendung, die “Transformation der Conditio humana”[18], wie Sofsky es nennt, führte zu einer Dehumanisierung auf allen Ebenen. “Der somatischen Desintegration entsprach ein radikaler Rückgang der geistigen Aktivitäten und seelischen Regungen. (…) Die mentale Agonie erreichte eine Grenze, die kaum zu erklären ist.”[19] Das “Muselweib” wurde so auch im Frauen-Konzentrationslager zur Leitfigur des Massensterbens. Auf den Hunger folgte die Ermordung der Seele, am Ende blieben die Frauen mit sich und ihrem Schicksal allein – Tote schon zu Lebzeiten.
In den letzten Monaten vor Kriegsende waren die Häftlingsfrauen dem Vernichtungswillen der Nationalsozialisten auch in Ravensbrück im besonderen ausgesetzt, da die SS bemüht war, ihre Anzahl zu verringern. Ein Großteil der ungarischen Jüdinnen starb ab Januar oder Februar 1945 in der Gaskammer des Lagers. Wahrscheinlich im Herbst 1944 hatte die Lagerleitung damit begonnen, “rosa Karten” an die Häftlinge zu verteilen, die dadurch eine Befreiung von der Arbeit in den Innen- und Außenkommandos von Ravensbrück erhielten. Geschwächte, kranke und “arbeitsunfähige” Häftlinge stellten dabei die Zielgruppe der Selektionen dar. Im Januar wurden diese Frauen dann erst in einen abgesperrten Teil des Lagers und danach in regelmäßigen Abständen in den geräumten Teil des Jugendlagers Uckermark verlegt. Von dort transportierte man sie zurück nach Ravensbrück, wo sich die Gaskammer befand. Der Verbleib der in der Gaskammer ermordeten Häftlinge wurde von der SS nachträglich auf Sammellisten zusammengestellt, die das (nicht existierende) “Schonungslager Mittwerda” als Deportationsort auswiesen.[20] Das Zelt in Ravensbrück existierte noch bis zum April 1945. Bevor die letzten SS-Leute das Lager auf der Flucht vor der Roten Armee verließen, gab die Lagerleitung noch den Befehl, es abzureißen. Die Frauen, die das Lager bis zu diesem Zeitpunkt überlebt hatten, machten sich nun auf den “Todesmärschen” gen Norden und Westen auf ihren letzten, leidvollen Weg.
Autorin: Doreen Eschinger
Literatur
Apel, L.: Jüdische Frauen im Konzentrationslager Ravensbrück 1939-1945. Berlin 2003.
Gerlach, C.; Aly, G.: Das letzte Kapitel. Realpolitik, Ideologie und der Mord an den ungarischen Juden 1944/1945, Stuttgart München 2002.
Gyulai, K.: Zwei Schwestern. Geschichte einer Deportation, herausgegeben von Linde Apel und Constanze Jaiser, Berlin 2001.
Herzog, M.; Strebel, B.: Das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück. In Füllberg-Stolberg, C.; Jung, M.; Riebe, R.; Scheitenberger, M. (Hg.): Frauen in Konzentrationslagern. Bergen-Belsen, Ravensbrück, Bremen 1994, S. 13-26.
Kertesz, L.: Von den Flammen verzehrt. Erinnerungen einer ungarischen Jüdin, Bremen 1999.
Morrison, J.: Ravensbrück. Everyday Life in a Women‘s Concentration Camp 1939-1945, Princeton 2000.
Saidel, R. G.: The Jewish Women of Ravensbrück Concentration Camp. University of Wisconsin Press 2004.
Strebel, B.: Das KZ Ravensbrück. Geschichte eines Lagerkomplexes, Mit einem Geleitwort von Germaine Tillion, Paderborn 2003.
Ders.: Ravensbrück – das zentrale Frauenkonzentrationslager. In: Herbert, U.; Orth, K.; Dieckmann, C. (Hg.): Die nationalsozialistischen Konzentrationslager – Entwicklung und Struktur. 2 Bde., Göttingen 1998, Bd. 1, S. 215-258.
Tuvel Bernstein, S.: Die Näherin. Erinnerungen einer Überlebenden, München Wien 1998.
Anmerkungen
[1] Gerlach, C.; Aly, G.: Das letzte Kapitel. Realpolitik, Ideologie und der Mord an den ungarischen Juden 1944/1945, Stuttgart München 2002, S. 11.
[2] Szita, S.: Verschleppt, Verhungert, Vernichtet. Die Deportation von ungarischen Juden auf das Gebiet des annektierten Österreich 1944-1945, Wien 1999, S. 22.
[3] Vgl. Braham, R. L.: Hungarian Jews. In: Gutman, Y.; Berenbaum, M. (Hg.): Anatomy of the Auschwitz Death Camp, Bloomington/Indianapolis 1998, S. 456-468, hier S. 465.
[4] Vgl. Strzelecki, A.: Endphase des KL Auschwitz. Evakuierung, Liquidierung und Befreiung des Lagers, Oswiecim-Brzezinka 1995, S. 353ff.
[5] Vgl. Gerlach/Aly, S. 294.
[6] Vgl. Braham, S. 466.
[7] Vgl. dazu: Philipp, G.: Kalendarium der Ereignisse im Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück 1939-1945. Unter der Mitarbeit von Monika Schnell, Berlin 1999, S. 319ff.
[8] Herzog, M.; Strebel, B.: Das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück. In Füllberg-Stolberg, C.; Jung, M.; Riebe, R.; Scheitenberger, M. (Hg.): Frauen in Konzentrationslagern. Bergen-Belsen, Ravensbrück, Bremen 1994, S. 13-26, hier S. 25
[9] Sofsky, W.: Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager. 4. Auflage, Frankfurt/M. 2002, S. 68.
[10] Vgl. Dokument 2.5.: Die persönlichen Aussagen der Ärztin A.A. Nikiforowa. In: Jacobeit, S. (Hg.): „Ich grüße Euch als freier Mensch.“ Quellenedition zur Befreiung des Frauen-Konzentrationslagers Ravensbrück im April 1945, Berlin 1995, S. 188-191, hier S. 189.
[11] Gyulai, K.: Zwei Schwestern. Geschichte einer Deportation, hg. von Linde Apel und Constanze Jaiser, Berlin 2001, S. 35.
[12] Ebenda, S. 38.
[13] Ebenda, S. 40.
[14] Ebenda, S. 39.
[15] Vgl. Morrison, J.: Ravensbrück. Everyday Life in a Women‘s Concentration Camp 1939-1945, Princeton 2000, S. 251.
[16] Lundholm, A.: Das Höllentor. Bericht einer Überlebenden, 2. Auflage, Reinbek bei Hamburg 1988, S. 166ff.
[17] Tuvel Bernstein, S.: Die Näherin. Erinnerungen einer Überlebenden, München Wien 1998, S. 281.
[18] Sofsky, S. 229.
[19] Ebenda, S. 231f.
[20] Vgl. Strebel, B.: Ravensbrück – das zentrale Frauenkonzentrationslager. In: Herbert, U.; Orth, K.; Dieckmann, C. (Hg.): Die nationalsozialistischen Konzentrationslager – Entwicklung und Struktur. 2 Bde., Göttingen 1998, Bd. 1, S. 215-258, hier S. 238.