
Bajo las banderas, el sol | Under the Flags, the Sun. Land: PRY, ARG, USA, FRA, DEU 2025. Regie: Juanjo Pereira. Sektion: Panorama 2025. Datei: 202505390_1
Juanjo Pereiras Dokumentarfilm „Bajo las banderas, el sol“ (Unter den Fahnen, die Sonne) ist ein beeindruckendes und wichtiges Werk, das die 35-jährige Diktatur von Alfredo Stroessner in Paraguay (1954-1989) beleuchtet. Der Film, der seine Weltpremiere auf der Berlinale vom 13. bis 23. Februar 2025 feiert, ist nicht nur eine historische Dokumentation, sondern auch eine „Archäologie der Gegenwart“, die die anhaltenden Auswirkungen dieser dunklen Ära auf das heutige Paraguay untersucht.
Ein zentraler Aspekt, der „Bajo las banderas, el sol“ besonders bedeutsam macht, ist die Verwendung von Archivmaterial, das lange Zeit als zerstört galt. Nach dem Ende der Stroessner-Diktatur wurde das nationale Filmarchiv Paraguays systematisch vernichtet, um eine Neuinterpretation der Geschichte zu verhindern. Pereira hat in akribischer Recherchearbeit 120 Stunden Filmmaterial aus verschiedenen Quellen weltweit zusammengetragen, darunter Aufnahmen aus Paraguay, Argentinien, Brasilien, Frankreich, Deutschland, Japan, Taiwan, Spanien, Großbritannien, den USA und Belgien.
Dieses wiederentdeckte Material umfasst Nachrichten und Sendungen aus dem Staatsfernsehen, Propagandafilme und ehemals geheime Dokumente. Es bietet einen einzigartigen Einblick in die Mechanismen der Macht und die Methoden, mit denen das Regime die Vergangenheit für Indoktrinationszwecke instrumentalisierte und einen Kult um Stroessner aufbaute.
Um die Bedeutung des Films vollständig zu erfassen, ist es wichtig, den historischen Kontext der Stroessner-Diktatur zu verstehen. Alfredo Stroessner kam 1954 durch einen Militärputsch an die Macht und etablierte ein repressives Regime, das von extremem Personenkult und der brutalen Unterdrückung jeglicher Opposition geprägt war. Unter seiner Herrschaft wurden tausende Menschen inhaftiert, gefoltert und ermordet. Die Kommission für Wahrheit und Gerechtigkeit schätzt, dass es insgesamt 128.076 direkte und indirekte Opfer des Regimes gab. Stroessner nutzte die Angst vor dem Kommunismus, um seine Macht zu festigen und internationale Unterstützung zu gewinnen. Der Film deckt auf, wie Stroessner trotz seiner Brutalität internationale Unterstützung genoss, insbesondere von den USA und Deutschland, die ihn als Bollwerk gegen den Kommunismus in Südamerika sahen. Gleichzeitig bot Paraguay unter Stroessner Zuflucht für NS-Kriegsverbrecher wie Josef Mengele, was die moralische Ambiguität seiner internationalen Beziehungen unterstreicht.
Pereira gelingt es meisterhaft, die Komplexität der Stroessner-Ära einzufangen. Der Film zeigt nicht nur die Unterdrückung und Menschenrechtsverletzungen, sondern auch den wirtschaftlichen Aufschwung, der Stroessners Macht zunächst festigte. Paraguay erlebte in den 1960er und 1970er Jahren ein beachtliches Wirtschaftswachstum, das teilweise auf den Bau des Itaipú-Staudamms zurückzuführen war, damals eines der größten Wasserkraftwerke der Welt und heute das zweitgrößte nach dem Drei-Schluchten-Damm in China.
Diese wirtschaftliche Entwicklung ging jedoch einher mit weit verbreiteter Korruption und einer zunehmenden Kluft zwischen Arm und Reich. Der Film beleuchtet, wie Stroessner und seine Verbündeten von diesem System profitierten, während große Teile der Bevölkerung in Armut lebten.
Ein besonders faszinierender Aspekt des Films ist die Darstellung der Rolle der Medien und Propaganda während der Diktatur. Das Archivmaterial zeigt eindrucksvoll, wie das Regime die Medien zur Indoktrination der Bevölkerung nutzte. Stroessner wurde als Vater der Nation und Garant für Stabilität und Fortschritt dargestellt. Der Film deckt auf, wie systematisch eine nationale Bildsprache konstruiert wurde, die Stroessner ins Zentrum stellte und jegliche Opposition als Bedrohung für das Vaterland darstellte. Diese Propaganda war so allgegenwärtig und effektiv, dass ihre Auswirkungen bis heute in der paraguayischen Gesellschaft spürbar sind.
„Bajo las banderas, el sol“ beschränkt sich nicht auf die Vergangenheit, sondern zeigt auch die anhaltenden Auswirkungen der Stroessner-Diktatur auf das heutige Paraguay. Der Film verdeutlicht, wie die Strukturen und Mentalitäten, die während der Diktatur entstanden, das Land weiterhin prägen. Besonders bemerkenswert ist die Darstellung der fortdauernden politischen Dominanz der Colorado-Partei, die Stroessner unterstützte und auch heute noch eine zentrale Rolle in der paraguayischen Politik spielt. Der Film wirft wichtige Fragen zur Aufarbeitung der Vergangenheit und zur Entwicklung einer wahrhaft demokratischen Kultur in Paraguay auf.
Neben seinem historischen und politischen Wert überzeugt „Bajo las banderas, el sol“ auch durch seine filmischen Qualitäten. Pereira hat aus dem umfangreichen Archivmaterial eine kohärente und fesselnde Erzählung geschaffen. Die Montage ist präzise und wirkungsvoll, sie verbindet verschiedene Quellen zu einem vielschichtigen Bild der Diktatur. Der Verzicht auf einen Kommentar aus dem Off lässt das Material für sich selbst sprechen und ermöglicht es dem Zuschauer, eigene Schlüsse zu ziehen. Die sorgfältige Auswahl und Anordnung der Bilder erzeugt eine emotionale Wirkung, die weit über eine reine Dokumentation hinausgeht.
„Bajo las banderas, el sol“ ist ein außergewöhnlicher Dokumentarfilm, der einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung der paraguayischen Geschichte leistet. Er erinnert uns daran, dass die Folgen der Stroessner-Diktatur, die am 3. Februar 1989 endete, in Paraguay noch immer spürbar sind. Der Film ist besonders relevant in einer Zeit, in der weltweit autoritäre Tendenzen zunehmen und die Bedeutung einer kritischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit oft unterschätzt wird. Er zeigt eindrucksvoll, wie die Aufarbeitung von Geschichte nicht nur für das Verständnis der Vergangenheit wichtig ist, sondern auch für die Gestaltung der Gegenwart und Zukunft.
Pereiras Leistung, aus dem zerstörten nationalen Filmarchiv und weltweit gesammeltem Material diese filmische Rekonstruktion zu erschaffen, ist bemerkenswert. „Bajo las banderas, el sol“ ist nicht nur informativ und historisch bedeutsam, sondern auch visuell fesselnd und emotional bewegend. Die Premiere auf der Berlinale 2025 verspricht, dem Film die verdiente internationale Aufmerksamkeit zu verschaffen. Es ist zu hoffen, dass er nicht nur Filmfestivals erobern wird, sondern auch ein breites Publikum erreicht und zu einer tieferen Auseinandersetzung mit der Geschichte Paraguays und den Mechanismen autoritärer Herrschaft anregt.
Under the Flags, the Sun – von Juanjo Pereira (Regie, Buch) / 90′ / Paraguay, Argentinien, USA, Frankreich, Deutschland 2025 / Farbe & Schwarz-Weiß / Guaraní, Spanisch, Deutsch, Französisch, Englisch, Portugiesisch / Untertitel: Englisch
Berlinale 2025 – Sektion Panorama Dokumente