Schmeitzner, Mike (Hrsg.): Totalitarismuskritik von links. Deutsche Diskurse im 20. Jahrhundert, Göttingen 2007.
Als eines der einschneidendsten geostrategischen Ergebnisse des Ersten Weltkrieges erfolgte die Umgestaltung der politischen Landkarte Europas. Die alten Vielvölkerstaaten Österreich-Ungarn und Osmanisches Reich mussten die oft Jahrhunderte lang beherrschen Nationalitäten in ihre Unabhängigkeit entlassen. Deutschland verlor entsprechend des Versailler Vertrages östliche wie westliche Grenzgebiete. Die bolschewistische Oktoberrevolution 1917 beseitigte die zaristische Herrschaft und ersetzte sie durch die Macht der Räte und der Kommunistischen Partei Russlands. In den Schützengräben des Krieges waren scheinbar nationale Fragen gelöst worden. Nach wie vor bestand aber die soziale Frage. Sie stellte sich nicht nur heimkehrenden Soldaten, sondern auch der Bevölkerung in siegreichen wie unterlegenen Staaten. Große Teile der Volksmassen waren radikalisiert. Die spannungsreichen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse entluden sich in revolutionären/konterrevolutionären militärischen Aktionen. Die Nachkriegszeit erwies sich als Beginn sich rasch ausbreitender totalitärer/autoritärer Regimes in Europa.
Unter dem Titel „Totalitarismuskritik von links. Deutsche Diskurse im 20. Jahrhundert“ gab der Historiker Mike Schmeitzner, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. an der TU Dresden, einen Sammelband heraus. 15 Autoren referieren in drei Hauptkapiteln, deren Eckpunke an den Schnittstellen sowohl deutscher als auch europäischer politischer Geschichte liegen und die Klammer der Betrachtungen bilden: 1918 – 1933 – 1945 – 1989/90, über theoretische Reflektionen und publizistische Beiträge, die der Wahrnehmung, Erkenntnis und Ausstrahlung der Weltanschauungsdiktaturen dienten.
Im Einführungstext „Thematische Relevanz und Konzeption“ umreißt Mike Schmeitzner sein Thema Totalitarismuskritik in geschichtlichem und personellem Überblick, weist auf die Entstehungsgeschichte dieses Sammelbandes durch Tagungen in Washington, Dresden und Meißen hin. Gekennzeichnet durch sachliche Inhalte und chronologische Zusammenhänge, befindet der Herausgeber, sind die Beiträge fundierte Anklagen gegen die Terrorregimes in Moskau, Rom oder Berlin, Vergleichsstudien zu den Weltanschauungsdiktaturen oder zu den Lagerwelten in Stalins Sowjetunion und Hitlers Drittem Reich. Recht offensichtlich weist der Herausgeber nach, dass die Kritik an links- und rechtsextremen Ideologien und Diktatur nicht nur eine Domäne Liberaler und Konservativer war, sondern auf der demokratischen Linken gleichfalls entfaltet wurde. Aus dem allgemeinen Blickfeld sind die totalitarismuskritischen Ausführungen von Karl Kautsky, Rudolf Hilferding oder Kurt Schumacher gekommen. Sie übten nicht nur Kritik an faschistoiden Bestrebungen. Ihre Betrachtungen galten auch den linken „verfeindeten“ Brüdern, vor allem den sowjetischen Kommunisten. Der jüdische Sozialist und spätere Bundestagsabgeordnete der SPD, Peter Blachstein, kennzeichnete aus eigener Erfahrung in einem 1948 geschrieben Text KZ und GULag als „Sklavereisysteme. Es ist nicht ‚Vernichtung durch Arbeit’, was das Kennwort des KZ-Systems war, sondern ‚Arbeit ohne Rücksicht auf Vernichtung’. Deshalb fehlt dem russischen System auch der Zug der absichtlichen Grausamkeit und der Tötungswut, die den SS-Lagern charakteristisch war und die nur durch den Vernichtungs- und Ausrottungszweck erklärbar sind“.
Die Weimarer Republik erwies sich von Beginn ihrer Existenz an als politisch fragil. Nach der Abschaffung der Monarchie entstand ein Machtvakuum, welches die politisch extreme Linke wie die antiparlamentarische Rechte mit ihren Machtstaatvorstellungen ausfüllen wollten. Es galt, den Menschen das demokratische Wesen und ihren direkten Nutzen nahe zu bringen. Der Sozialdemokrat Hermann Heller (1891 bis 1933) gehörte zu jenen, die Lösungswege suchten auf dem Weg zur „Grundlegung einer starken Demokratie“. Im ersten Hauptkapitel „Frühe Analysen und Klärungsversuche“ untersucht Stephan Albrecht (Universität Hamburg) Hellers Denkwege und Zielstellungen. Als zentrale Frage betrachtete dieser in einem ersten Ansatz den (politischen) Bildungsstand der Arbeiterklasse „wenn die große Menge der Bevölkerung eine wirkliche Möglichkeit der Beteiligung und Mitwirkung an und in den demokratischen Institutionen und Prozessen haben“ soll. Angesichts der gesellschaftlichen Verhältnisse und den Diktaturbestrebungen in vielen europäischen Staaten, die Vorreiterrolle Italiens studierte er vor Ort, sieht Hermann Heller „die Notwendigkeit der Gestaltung einer Massendemokratie auf die Tagesordnung gesetzt.“ In ihrem Mangel erkennt der Sozialdemokrat den politischen Kern der Krise.
Nach der Übernahme der Staatsmacht durch die Nationalsozialisten emigrierten politisch konträr Stehende, Hermann Heller starb 1933 im spanischen Exil, und entwickelten dort die „Konzeptualisierungen im Exil“, welche den zweiten Teil des Buches zusammenfassen. Zu den Geflohenen, unter anderem die sozialdemokratischen Politiker und Theoretiker Rudolf Hilferding und Curt Geyer, die angesichts der Entwicklung in Stalins Sowjetunion und Hitlers Deutschland – einschließlich ihrer offenen und offensichtlichen jeweiligen expansionistischen Politik – zu dem Schluss kamen, dass es sich hier um eine „Wesensgleichheit der totalitären Staatssysteme“ handle. Kann der Kölner Historiker Rainer Behring die programmatische und theoretische Entwicklung Hilferdings und Geyers auf hohem Niveau nachweisen, überzeugt „Linkszionismus und das Totalitarismus-Problem“ über den früheren aktiven KPD-Politiker Arthur Rosenberg (1889 bis 1943) von Mario Keßler (Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam) nicht. Nach Ende des Ersten Weltkrieges positionierte sich Historiker Rosenberg, nicht verwandt mit dem NS-Ideologen Alfred Rosenberg, parteipolitisch auf dem „ultralinken Flügel“ der Kommunistischen Partei, war Mitglied der KPD-Zentrale, des Exekutivkomitees der Komintern, Reichstagsabgeordneter und verließ 1927 die Partei. „In den folgenden Jahren profilierte er sich als Zeithistoriker und unabhängiger Marxist.“ Leider erfahren wir in diesem Aufsatz nicht, welche Beweggründe ihn nach dem enormen Parteiengagement veranlassten, mit seinem ideologischen Bekenntnis radikal zu brechen. Erfahrungen mit kommunistischer Doktrin, der Beobachtung des Aufkommens und Erstarkens der faschistischen Bewegung hätten Arthur Rosenberg prädestiniert, zeitnahe Vergleiche zu ziehen. „Eine systematische, wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Problem des Totalitarismus findet nicht statt.“ Jedoch die Frage nach dem „Warum“ untersucht Mario Keßler nicht.
Dieser Problemstellung wendet sich im dritten Hauptteil „Theorie und Praxis im Kalten Krieg“ des zu besprechenden Bandes Uwe Backes (Stellvertretender Direktor des Hannah-Arendt-Institutes in Dresden) in seinem Beitrag „Vom Marxismus zum Antitotalitarismus: Ernst Fraenkel und Richard Löwenthal“ zu. Die Abkehr Beider von marxistischen Dogmen ging mit prinzipieller Faschismus- und Kommunismuskritik einher. Das Resultat: „Beide leisteten nach 1945 vielbeachtete wissenschaftliche Beiträge zur Totalitarismuskonzeption.“
Freiwillig zog Ernst Fraenkel (1898 bis 1975) in den Krieg und erlitt schwere Verwundungen. Nach dem Jurastudium schloss er sich der SPD an und plädierte auf deren linken Flügel „für eine grundlegende soziale Veränderung der bestehenden Verhältnisse.“ Als niedergelassener Rechtsanwalt tätig, vertrat er nach dem Systemwechsel 1933 verfolgte Gewerkschafter wie Parteifreunde und floh 1938 wegen der Repressalien aus Deutschland. 1941 erschien seine Auswertung der nationalsozialistischen Erfahrungen unter dem Titel „The Dual State“/ „Der Doppelstaat“ in den USA. Nach Tätigkeiten im amerikanischen Staatsdienst kehrte Fraenkel Anfang der fünfziger Jahre nach Deutschland zurück und übernahm in Berlin (West) eine Professur für Politikwissenschaft. „Die letzten Lebensjahre empfand er wegen der Auseinandersetzungen mit einer fanatisierten Studentenschaft als Last.“ – Exkurs: Die jungen Intellektuellen waren durch die Kritische Theorie der Frankfurter Schule beeinflusst. Spezifische Untersuchungen zu diesem Thema steuern in diesem Band Alfons Söllner „Totalitarismustheorie und frühe Frankfurter Schule“ und Eckhard Jesse (beide TU Chemnitz) „Die Totalitarismuskonzeption von Herbert Marcuse“ bei.
Nach kurzer Mitgliedschaft in der KPD wurde Richard Löwenthal (1908 bis 1991) mit einigen Kommilitonen 1929 ausgeschlossen, weil sie sich weigerten, die Sozialdemokraten als „Hauptfeinde“ im „Angesicht der steigenden Gefahr des Nationalsozialismus“ zu sehen. Zeitweilig in der Gruppe „Neu Beginnen“ illegal tätig, entzog er sich dem Verfolgungsdruck und emigrierte. Nach wechselvollen Lebenswegen lehrte Löwenthal wie Fraenkel an der Freien Universität in Berlin und agierte als anerkannter Kommunismus- und Sowjetunion-Experte.
Gemeinsamkeiten der intellektuellen Entwicklung bei Fraenkel und Löwenthal sind deren anfängliches Bekenntnis zum Marxismus: Der Glaube an den historischen begründeten Sieg der Arbeiterklasse und „geschichtlicher Notwendigkeit der Überwindung des Kapitalismus“ sind den gesellschaftlichen Verhältnissen der Weimarer Republik geschuldet. Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus werten sie als Kriterium der Praxis an marxistischer Theorie. Beider Haltung gegenüber dem Faschismus war bedingungslos konträr. Jedoch sahen sie nicht ein, diesen „als ein letztes Stadium des Kapitalismus zu interpretieren, dem der Sozialismus ohne viel eigenes dazutun auf dem Fuße folgen werde.“ Backes weist überzeugend in seinem Beitrag den prägenden Einfluss des angloamerikanischen Exils auf die früheren Linken nach.
Totalitarismus werteten sie nicht nur als Herrschaftsform. Sie analysieren totalitäres Handeln als logische, spezifische Konsequenz ihres Zeitalters. Der frühzeitig im Marxismus geschulte Löwenthal deutete Hitlers und Stalins Anstrengungen eine gesamte Gesellschaft zu einem Endpunkt hin umzuwälzen, als „totalitäre Revolution.“ Treffend formuliert Uwe Backes als Schlussfolgerung: „Die ehemaligen Marxisten gewannen die Überzeugung, nicht nur der Faschismus, sondern auch im Marxismus sei eine Form ‚totalitären Denkens’ wirksam, ohne deren Kenntnis die verhängnisvolle Wechselwirkung der Extreme unverständlich bliebe.“
Autor: Uwe Ullrich
Schmeitzner, Mike (Hrsg.): Totalitarismuskritik von links. Deutsche Diskurse im 20. Jahrhundert; Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2007; 404 Seiten, gebunden, 42,90 Euro