
Strichka chasu | Timestamp. Land: UKR, LUX, NLD, FRA 2025. Regie: Kateryna Gornostai. Sektion: Wettbewerb 2025. Datei: 202509478_4. © Oleksandr Roshchyn
Kateryna Gornostais Dokumentarfilm „Timestamp“ entfaltet sich als poetisches Paradox: ein Werk über die Zerstörung von Normalität, das gleichzeitig die unzerstörbare Kraft menschlicher Routine feiert. In 125 Minuten observiert die Regisseurin Schulen in der Ukraine, die zum Mikrokosmos einer Gesellschaft werden, die Bildung trotz russischer Raketenangriffe zur Überlebensstrategie erklärt hat. Der Film, seit dem 20. Februar 2025 im Berlinale-Wettbewerb, fungiert als Chronist einer Generation, deren Kindheit zwischen Luftalarm-Sirenen und improvisierten Schutzräumen stattfindet.
Gornostai verzichtet bewusst auf Voice-over, Interviews oder inszenierte Szenen – eine Entscheidung, die den Film von konventionellen Kriegsdokumentationen abhebt. Stattdessen weben sich Beobachtungen aus über 14 Monaten Drehzeit zu einem kaleidoskopischen Tableau: In Cherkasy proben Grundschüler*innen ein Gedicht über Frieden, während im Hintergrund der Donner explodierender Granaten widerhallt. In Borodianka hält eine Mathelehrerin Online-Unterricht vor einer an eine Garagenwand geschraubten Tafel, umgeben von Trümmern ihres zerbombten Hauses. Diese Szenen wirken nicht wie Einzelfälle, sondern als symptomatische Ausschnitte aus einem nationalen Trauma.
Die Kamera von Oleksandr Roshchyn operiert in einer eigenwilligen Dialektik zwischen Distanz und Intimität. Während Massenszenen wie die Evakuierung einer Schulfeier in Kaminanske mit weitwinkligen Totalen dokumentiert werden, fängt sie im nächsten Moment die zitternden Hände eines Teenagers ein, der im U-Bahn-Schutzraum von Charkiw vergeblich versucht, geometrische Formen zu zeichnen. Diese visuelle Rhythmik spiegelt den Lebensalltag der Protagonist*innen: Phasen scheinbarer Normalität, jäh unterbrochen von existenziellen Bedrohungen.
Der Titel „Timestamp“ bezieht sich auf die Praxis, bei der Anwendung von Tourniquets (Abbindesystemen für Blutungen) die Uhrzeit des Anlegens zu notieren – eine Fertigkeit, die mittlerweile zum Lehrplan ukrainischer Schulen gehört. Diese medizinische Metapher wird zur zentralen Chiffre: Der Film selbst fungiert als Zeitstempel einer Epoche, in der Kinder lernen müssen, Verletzungen zu verbinden, bevor sie Radikalbrüche verarbeiten können.
Besonders eindrücklich zeigt sich dies in einer Sequenz aus Romny, Sumy Oblast: Schüler*innen diskutieren im Geschichtsunterricht die Schlacht von Kruty (1918), während draußen Bauarbeiter die Überreste ihrer eigenen Schule bergen, die zwei Tage zuvor von einer russischen Drohne getroffen wurde. Die Kamera verharrt auf einem Mädchen, das stumm die Trümmer betrachtet – ihr Gesicht ein Spiegelbild der historischen Parallelen, die hier unkommentiert aufblitzen.
Gornostai lotet aus, wie Kriegspädagogik tradierte Rollenbilder aufbricht. In einer Szene demonstriert eine Soldatin im Sportunterricht das Zerlegen von Kalaschnikows, während sie gleichzeitig betont: „Kein Mensch kommt unversehrt aus diesem Krieg – weder Körper noch Seele“. Die Ambivalenz solcher Momente – notwendige Überlebenslehre versus Entmenschlichung – bleibt unaufgelöst, genau wie die Frage, ob Teenager mit lackierten Fingernägeln überhaupt Waffen bedienen sollten.
Auffällig ist der Kontrast zwischen der Zerstörung im Off und der ästhetischen Sorgfalt, mit der Alltagsmomente inszeniert werden. Wenn Grundschüler*innen in einem zum Klassenzimmer umfunktionierten U-Bahn-Tunnel Choräle singen, arrangiert die Kamera ihre Gesichter zu einem lebenden Fresko, beleuchtet vom kalten Neonlicht. Selbst die Trümmerlandschaften erhalten durch Nikon Romanchenkos Schnitt eine eigenartige Schönheit: Langsame Kamerafahrten über verbrannte Schulbücher, deren verkohlte Seiten wie abstrakte Kunstwerke wirken.
Der Soundtrack von Alexey Shmurak verstärkt diese Dissonanz. Während Luftalarmsirenen als disharmonische Leitmotive fungieren, unterlegt er eine Abschlussfeier in Kiew mit avantgardistischem A-cappella-Gesang – eine klangliche Metapher für die ukrainische Gesellschaft, die selbst im Chaos nach kultureller Kontinuität strebt.
Trotz des mosaikhaften Ansatzes gelingen Gornostai beklemmende Einblicke in kindliche Traumaverarbeitung. In einer der intensivsten Szenen tanzt eine Schulklasse zur Feier ihres Abschlusses. Während die meisten Jugendlichen lachen und sich drehen, bleibt ein Mädchen regungslos am Rand stehen. Ihre Augen, von der Kamera minutenlang in Großaufnahme gehalten, spiegeln eine Mischung aus Wut, Angst und emotionaler Abstumpfung. Es ist ein stummer Schrei gegen die Absurdität, Pubertät und Patriotismus vereinen zu müssen.
Ebenso verstörend wirkt die Normalität, mit der Sechsjährige in Tschernihiv Luftschutzübungen absolvieren. „Wenn ihr eine Explosion hört, legt euch flach hin und deckt den Kopf ab“, instruiert eine Lehrerin, während die Kinder diese Bewegungen spielerisch nachahmen – als handle es sich um eine neue Variante von „Feuer, Wasser, Sturm“.
Indirekt thematisiert der Film die geopolitischen Dimensionen des Konflikts. Als Schüler*innen in Lwiw Briefe an europäische Parlamentarier verfassen, wird die Kamera zum Komplizen ihrer Forderungen: „Warum liefert Deutschland nicht mehr Raketenabwehrsysteme?“ Solche Momente vermeiden plakative Anklagen, entfalten ihre Wirkung durch die Naivität der Fragesteller.
Gleichzeitig dokumentiert „Timestamp“ die Ukrainisierung des Bildungswesens. In einer Deutschstunde in Transkarpatien korrigiert die Lehrerin Schüler*innen, die versehentlich russische Vokabeln verwenden. Es sind diese mikrohistorischen Details, die den Film über seine unmittelbare Thematik hinausheben – er wird zur Chronik einer Nation, die ihre kulturelle Identität gegen imperialistische Vernichtungsversuche verteidigt.
Die Entscheidung für eine nicht-lineare Erzählstruktur birgt Ambivalenzen. Während die sprunghafte Montage zwischen Orten und Protagonist*innen die Ubiquität des Krieges unterstreicht, verhindert sie tiefere Identifikation mit Einzelschicksalen. Wenn die Kamera nach 20 Minuten einer Lehrerin in Charkiw plötzlich den Rücken kehrt, um stattdessen Teenager bei einer Drohnenbau-Werkstatt zu zeigen, hinterlässt dies ein Gefühl der Fragmentierung.
Dennoch erweist sich dieses Stilmittel letztlich als konsequent: Es spiegelt die Zersplitterung ukrainischer Lebensrealitäten, in denen Kontinuität zum Luxusgut geworden ist. Die Regisseurin scheint sagen zu wollen: Dies ist kein Film über individuelle Helden, sondern über ein kollektives Überlebensprojekt.
„Timestamp“ gelingt das Kunststück, weder in voyeuristisches Elend noch in pathetischen Heroismus abzugleiten. Indem Gornostai auf explizite Gewaltdarstellungen verzichtet – wir sehen keine Leichen, keine brennenden Panzer –, zwingt sie das Publikum, die unsichtbaren Narben des Krieges zu begreifen. Die eigentliche Tragödie offenbart sich in den Nebensätzen: wenn ein Junge beim Aufsatzschreiben beiläufig erwähnt, sein Vater „arbeitet jetzt an der Front“, oder wenn Abiturient*innen statt Universitätsbewerbungen militärische Grundausbildungen diskutieren.
Als erste ukrainische Regisseurin seit Kira Muratova (1997) im Berlinale-Wettbewerb vertreten, setzt Gornostai mit diesem Film ein klares Statement: Die Ukraine kämpft nicht nur um Territorium, sondern um das Recht auf Zukunft – verkörpert durch Kinder, die trotz aller Widrigkeiten Gedichte analysieren und Algebraaufgaben lösen. In einer Schlüsselszene rezitiert ein Mädchen in zerschossener Schuluniform Verse von Lessja Ukrajinka: „Niemals werde ich knechten mich dem Schicksal“. „Timestamp“ macht diese Haltung sinnlich erfahrbar – als dokumentarisches Manifest unbeugsamer Würde.
Der Film endet nicht mit Credits, sondern mit einer stummen Einstellung: Eine Lehrerin wischt im Halbdunkel des Schutzraums die Tafel ab, während im Hintergrund das Sirren einer Drohne zu hören ist. Es ist dieser letzte, atemlose Moment, der die Essenz des Werks verdichtet: Solange Kreide auf Schiefertafeln knirscht, bleibt die Hoffnung unauslöschlich.
Timestamp – von Kateryna Gornostais (Regie, Buch)/ mit Olha Bryhynets, Borys Khovriak, Mykola Kolomiiets, Valeriia Hukova, Mykola Shpak / 125′ / Ukraine, Luxemburg, Niederlande, Frankreich 2025 / Farbe / Ukrainisch / Untertitel: Englisch, Deutsch
Berlinale: Sektion Wettbewerb