Das Ghetto Theresienstadt hat in der Geschichte der Shoah eine Sonderstellung, da es vom Internationalen Roten Kreuz befreit wurde. 1941, als die Deportation der Juden aus dem Reichsgebiet nach Osten beschlossen wurde, war es Himmler klar: wenn auch diese „Aussiedlung“ breite Zustimmung fand, würde jeder Deutsche seinen Juden haben für den er eine Ausnahme begehrte; nicht immer konnte man ablehnend antworten. In einigen Fällen waren auch Verbindungen mit einflussreichen Persönlichkeiten im neutralen Ausland oder ausländische Staatsbürgerschaften zu berücksichtigen. Für Himmler & Co. ergab sich die Notwendigkeit einer guten Täuschungsmöglichkeit, um das, was nach zwei Kriegsjahren der Bevölkerung an Gewissen geblieben war, zu beruhigen. Im Protektorat Böhmen und Mähren befolgte Heydrich eine Politik mit „Zuckerbrot und Peitsche“ – Peitsche für die Intellektuellen und Zuckerbrot für die Arbeiterschaft. Da erschien es vorteilhaft, einen Teil der böhmisch-märischen Juden bis auf weiteres in ein nahes Ghetto zu schicken und so für dessen Aufbau gleich die erforderliche Arbeitskraft zu haben. Gleichzeitig konnte man die Leiter der Jüdischen Gemeinden glauben lassen, mit ihrem Ersuch der Errichtung von Ghettos als Alternative zu den Deportierungen einen ersten Erfolg errungen zu haben.
Die Wahl der Festung Theresienstadt, an der Mündung der Eger in die Elbe, als Ghetto entsprach vielen Anforderungen: Im Protektorat, vom Sudetengebiet mit verlässlicher Bevölkerung nur drei Kilometer entfernt und wegen der Festungsmauern auch leicht zu bewachen. Die vielen Kasernen eigneten sich gut als Massenquartiere und im nahen „Polizeilager Theresienstadt“ Kleine Festung konnten die „Liquidierungen“ in diskreter Weise, ohne Aufsehen durchgeführt werden. Die Nähe bekannter Badekurorte erlaubte dem Propagandatrupp vom sogenannten „Theresienbad“ zu sprechen. Und um die weiteren Probleme sollten sich eben die Juden kümmern. Die Jüdische „Selbstverwaltung“ musste unter größten Schwierigkeiten, Wohnraum, Wasserversorgung, Ernährung, Gesundheitswesen, usw. verwalten. Wenn nicht die jüdische Verwaltung, wer sonst hätte sich darum gekümmert? Im Oktober 1939 schloss Eichmann im Ort Nisko (Polen / nahe Lublin) eine Rede mit den deutlichen Worten: „… Sonst heißt es eben sterben“.
Die jüdischen Funktionäre hatten keinen Kontakt zu wirklichen Entscheidungsträgern und mussten bei SS-Offizieren von geringem Rang – die selbst nur einen kleinen Spielraum hatten und auch bespitzelt wurden – vorsprechen und harte, grob ausgedrückte Befehle entgegennehmen. Diese waren ohne Widerspruch, in kürzester Zeit durchzuführen. Um eine Milderung dieser Befehle zu erreichen, musste man für den SS-Offizier annehmbare Argumente in richtiger Form vortragen. In ihren oft strengen Urteilen über Judenälteste und Judenräte beachten die Historiker weder, dass jede dieser Vorsprachen bei der SS mit Verhaftung und Martyrium enden konnte, noch den psychischen Stress, der sich aus dieser Situation ergab. Niemand berücksichtigt, dass sowohl die drei Judenältesten von Theresienstadt als auch andere Funktionäre Gelegenheit gehabt hatten, sich selbst in Sicherheit zu bringen. Sie hatten in ihren Gemeinden die Auswanderung vieler Juden organisiert, um sich dann in Theresienstadt zu treffen. Im Vergleich zu den Ghettos im Osten und den Konzentrationslagern war Theresienstadt ein „Musterghetto“, aber dennoch eine Zwangsgemeinschaft. Da mussten Glaubensjuden mit getauften Leidensgenossen, Kommunisten mit Zionisten, Anhänger der Habsburger und Hohenzollern mit denen von Masaryk/Beneš (es waren auch einige „jüdische Nazis“ dabei) gemeinsam zu überleben versuchen; das Leben war eben eine andere Sache. Von November 1941 bis April 1945 kamen Transporte aus Böhmen und Mähren, Deutschland, Wien, Holland, Dänemark, Slowakei. Von Januar 1942 bis Oktober 1944 gingen Transporte ab; man wusste nicht wohin und zog das bekannte dem unbekannten Übel vor. Fast bis zum Ende wusste man nichts über das wahre Ziel und Los der abgegangenen Transporte.
Die Arbeitsfähigen – die Männer wurden von der SS auch als „kampffähig“ betrachtet, was bittere Folgen hatte – kamen hauptsächlich aus Böhmen und Mähren. Die Alten und Pflegebedürftigen hauptsächlich aus Deutschland und Wien. Dazu kamen noch die „Prominenten“, Persönlichkeiten die entweder im Ausland zu bekannt waren, um einfach in den Osten zu verschwinden oder irgendeine Beziehung hatten mit der Eichmann für eine gewisse Zeit, oder auch bis zum Ende, rechnen musste. Das Ende der Protektion (Protektor selbst verhaftet oder gestorben, neue politische Lage, 20. Juli 1944, usw.) oder kein weiteres Interesse der SS den Betreffenden noch vorzuzeigen, bedeutete Einreihung in den nächsten Transport. Die wichtigsten Persönlichkeiten waren der Rabbiner und Gelehrte Leo Baeck aus Berlin, der Jurist Heinrich Klang und der Finanzmann Felix Stranski aus Wien, der frühere Minister Alfred Meissner aus Prag, der Jurist Eduard Mejers aus Holland und der französischer Minister Léon Meyer. Die richtige Protektion, welche sie bis zum Ende schützen konnte, hatten der Freikorpskämpfer Karl Lowenstein, die Witwe vom SA-Obergruppenführer August Schneidhuber und noch einige andere.
Hingegen fast alle ehemaligen Offiziere mit hohen Auszeichnungen (Eisernes Kreuz, usw.) sowie einige Agenten von der Abwehr welche, weil nicht rechtzeitig ins Ausland geschickt, sich in Theresienstadt befanden, wurden mit den letzten Transporten (September/Oktober 1944) verschickt. An diesen Beispielen sieht man, wie sich ein Ereignis außerhalb vom Ghetto – 20. Juli 1944 und darauf folgende Verhaftungen und Hinrichtungen – durch das Wegfallen von Protektionen in Theresienstadt ausgewirkt hatte.
In einem der Transporte im Oktober 1944 waren viele Musiker zusammen eingereiht und darüber gibt es viele Spekulationen, welche sich aber als Seifenblasen entpuppen, wenn man beachtet, dass die Selbstverwaltung von Anfang an Künstler nur zu leichten Arbeiten einteilte, welche weder ihre Hände schädigen noch die Teilnahme an den Darstellungen hindern sollten; aber für die SS nicht als „unentbehrlich“ galten.
In Theresienstadt gab es, der jüdischen Eigenart entsprechend, ein reges kulturelles Leben. Gelehrte hielten Vorträge über viele Themen; für die Protokolle der Studiensitzungen der Mediziner interessierte sich das zuständige Hauptamt der SS. Es gab – im Rahmen der Möglichkeiten – Konzerte, Theater, Kabarett. In den Kinder- und Jugendheimen wurde, wenn auch illegal, Unterricht erteilt. Deutsche Juden pflegten sich an Sams- und Feiertagen mit den Rabbinern ihrer Gemeinden zu treffen, um eine Predigt zu hören und trotz aller Schwierigkeiten wurden auch jüdische Gottesdienste gehalten.
Der erste Judenälteste Jakob Edelstein (zionistischer Funktionär) sah Theresienstadt einerseits als eine Möglichkeit, für die Juden aus Böhmen und Mähren in ihrer Heimat zu bleiben und andererseits auch als eine Vorbereitung der Jugend für das zukünftige Leben in Palästina. Diese Politik führte zu schweren Benachteiligungen der Alten aus Deutschland und Wien und Eichmann schöpfte Verdacht über mögliche Verbindungen mit dem tschechischen Widerstand. Edelstein wurde Ende Januar 1943 abgesetzt (auch wenn er für einige Monate erster Stellvertreter von Eppstein blieb), im November 1943 dann verhaftet, um nach Auschwitz verschickt zu werden, wo er mit seiner Familie das Martyrium erlitt.
Der zweite Judenälteste Paul Eppstein (Dozent der Soziologie) hatte 1942 vier Monate im Gestapo-Gefängnis verbracht und kam Ende Januar 1943 nach Theresienstadt, um Edelstein als Judenältesten abzulösen. Eppstein versuchte verzweifelt, Eichmanns „Vertrauen“ zu gewinnen, um das Ghetto zu retten und vernachlässigte die internen, alltäglichen Probleme. Als deutscher Intellektueller glaubte er im Land der Richter und der Henker noch in der Sprache der Dichter und der Denker sprechen zu können, was bei der SS nur Argwohn erregte. Am 27. September 1944, dem Versöhnungstag, vor Abgang des ersten Transportes im September 1944, wurde Eppstein verhaftet und in der Kleinen Festung ermordet.
Die Leitung des Ghettos ging an den dritten und letzten Judenältesten Benjamin Murmelstein (Rabbiner und Gelehrter). Die Listen von den ersten zwei Transporten waren schon von der früheren Leitung gemäß den Richtlinien der SS (welche praktisch keine Wahl zuließen) zusammengestellt. Zu einem weiteren Transport meldeten sich die Frauen freiwillig, um ihren Männern zu folgen. Am 2. Oktober 1944 wurde Murmelstein beim Tagesrapport das Ende der Transportwelle mitgeteilt: Zwei Stunden später kam die Weisung, Listen für neue Transporte zusammenzustellen. Murmelstein, in einer Nervenkrise – „alles verloren“ – begann zu widersprechen und auf die Unmöglichkeit weiterer Transporte hinzuweisen bis der Kommandant Rahm ihn anschrie: „Hier wird nicht verhandelt, raus!“. Nach einer halben Stunde kam die Entscheidung der SS, die Listen in eigener Regie zusammenzustellen. In höllischen vier Wochen mussten erst die Familienangehörigen der im September „zur Arbeit verschickten“ Personen Theresienstadt verlassen; alle anderen mussten vor der SS erscheinen. Die Entscheidungen über „Bleiben“ oder „Osten“ wurden nach geheimen, noch heute unklaren Richtlinien getroffen. Murmelstein konnte nur versuchen in einigen Fällen die Austragung aus der Transportliste zu erreichen; nicht immer wurden die Gründe von der SS als stichhaltig anerkannt. Am Ende war es Murmelstein gelungen, für ungefähr 500 Personen die Austragung aus dem Transport zu erreichen und zwar ohne dass an deren Stelle andere verschickt wurden. Ende Oktober 1944, nach dieser Transportwelle, befand sich Theresienstadt im Chaos mit wenig arbeitsfähigen Männern, vielen Pflegebedürftigen und vielen Prominenten. Das Ghetto musste daher wider vorzeigbar werden. Um die Leute zu harter Anstrengung zu ermuntern, entschied sich Murmelstein dafür, gegen Privilegien, Missbräuche und Diebstähle hart vorzugehen. So konnte Arbeitern eine Zusatzkost als Belohnung gewährt werden, ohne die Rationen der Pflegebedürftigen kürzen zu müssen. Neben den wenigen Männern mussten die Frauen hart anpacken und leisteten Großes. Nach dem Besuch von einem hohen SS-Offizier Anfang Dezember 1944 konnte mit einer neuen, wirklichen Stadtverschönerung begonnen werden, um einen Besuch aus den Ausland zu ermöglichen; ein Ghetto das von Ausländern gesehen wurde, war schwer zu „liquidieren“.
Gleichzeitig mit der Transportwelle September/Oktober 1944, als der Untergang wahrscheinlich schien, hatte der Verband der orthodoxen Rabbiner aus den USA und Kanada endlich die Möglichkeit, den Schweizer Bundesrat Jean Marie Musy – für seine deutschfreundliche Einstellung und guten Beziehungen zu Himmler bekannt – um Hilfe zu bitten. Der Weltkongress-Delegierte hatte nie einen solchen Versuch unternommen. Einerseits das Eintreten von Musy, anderseits die Berichte, dass Theresienstadt durch die dort geleistete harte Arbeit, wieder vorzeigbar werden konnte, dürften Himmler dazu gebracht haben, einen Führerbefehl – von Bormann überbracht, um das Ghetto Theresienstadt durch einen Todesmarsch zu liquidieren – aufzuheben. Nach dieser Entscheidung von Himmler hatten Eichmann & Co. die Idee, in eigener Regie einen Erschießungsplatz und eine Gaskammer in Theresienstadt zu errichten. Murmelstein, von den Technikern auf die Gefahr aufmerksam gemacht, wagte eine Vorsprache beim Kommandanten Rahm der zornig alles leugnete, aber nach drei Tagen, aus Prag den Befehl (vom Höheren SS-Führer und Reichsminister für das Protektorat Karl Hermann Frank) zur Einstellung jener verdächtigen Arbeiten brachte. Anfang März 1945 besuchte Eichmann Theresienstadt und befand, dass das Ghetto Besuchern gezeigt werden konnte.
Am 6. April 1945 besuchte eine Delegation vom Internationalen Roten Kreuz Theresienstadt; am Ende des Besuches sagte Murmelstein in einer, vorher nicht zensierten Abschiedsrede: „Das Schicksal Theresienstadts bereitet mir Sorgen“. Die Delegierten verstanden dieses Signal und noch am selben Tag erreichten sie bei Reichsminister und SS-Führer Karl Hermann Frank, das Ghetto Theresienstadt in ihren Schutz nehmen zu können. Der Delegierte Paul Dunant unterrichtete die Leitung am 22. April, mit der Wahrung der Interessen vom Ghetto betraut zu sein und am 3. Mai 1945 verlegte er sein Amt nach Theresienstadt. Am 5. Mai 1945 erhielt der letzte Kommandant Karl Rahm den Marschbefehl und verließ, in Uniform und bewaffnet, mit einem Scharführer Theresienstadt. Das Ghetto wurde so vom Internationale Roten Kreuz befreit.
Am 6. Mai 1945 dankte Leo Baeck in einem Brief Murmelstein für die unter diesen schwierigen Umständen geleistete Arbeit. Die Rote Armee erreichte Theresienstadt erst am Abend des 7. Mai 1945. Feldmarschall Schörner ergab sich erst am 11. Mai 1945.
Autor: Wolf Murmelstein. Der Autor ist Sohn des dritten und letzten Judenältesten des Lagers, Benjamin Murmelstein.
Literatur
Lederer, Zdenek: Ghetto Theresienstadt, London, 1953. Englisch.
Adler, H. G.: Theresienstadt, Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft, 2 Ausgabe, Tuebingen 1960, Deutsch.
Adler, H. G.: Die verheimlichte Wahrheit, Tuebingen, 1958, Deutsch. Sammlung von Dokumenten.
Murmelstein, Benjamin: Terezin, il Ghetto Modello di Eichmann, Bologna 1961, Italienisch. Deutsche Ausgabe in Vorbereitung.
Makarova, Elena /Makarov Sergei / Kuperman, Victor: University over the Abyss, 2 Ed. Jerusalem 2004, Englisch. Behandelt das Kulturleben in Theresienstadt