2001 in den USA produziert, war der Streifen Anfang 2005 für zirka vier Wochen in der deutschen Synchronisation auch in einigen Kinometropolen Deutschlands zu sehen. Kaum wahrgenommen, da nirgends „promoted“, wurde er nach kurzer Zeit wieder aus dem Programm genommen. Warum?
Der Spielfilm des jungen Produzenten Tim Blake Nelson, der bislang alles andere als ausgerechnet den Holocaust zu seinen Themen zählte, behandelt das dramatische Geschehen des einzigen bewaffneten Häftlingsaufstands im Oktober 1944 im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Mehr noch:
Er stellt die schizophrene und menschlich im Grunde nicht zu bewältigende Situation der jüdischen Sonderkommandos dar, die als Sklaven der SS und im Namen des Nazi-Regimes ihr eigenes Volk, häufig auch die eigene Familie eigenhändig in die Gaskammern führen und verbrennen mussten. Gestützt hat sich der Autor und Produzent dabei auf den Bericht des Auschwitz-überlebenden Gerichtsmediziners Miklos Nyiszli [1] sowie auf die Dokumentation von Friedler et al. „Zeugen aus Der Todeszone“ [2].
Dreharbeiten und authentisch nachgebildete Kulissen wurden in Bulgarien realisiert.
Die Handlung spielt ausschließlich in der „Todeszone“, den vier Krematorien von Auschwitz-Birkenau, ab Mai 1944 und beginnt mit der Atmosphäre der Massentransporte aus Ungarn. Dramaturgisch durchaus wirkungsvoll werden hier szenisch die Abläufe der Massenvernichtung aus der Perspektive der jüdischen Sklaven des Sonderkommandos gezeigt – oft in einer Brutalität, die der Zuschauer vielleicht so nicht erwartet. Es ist die Mischung aus Andeutungen und schonungsloser Offenheit, die zunächst schockiert, aber wieder auch die Gefühle im Sonderkommando zu vermitteln sucht. Ein häufig von Kritikern geäußerter Vorwurf lautet: „Geht’s nicht auch ohne die Leichenberge?“. Ja geht es denn ohne?
Im Zentrum stehen einerseits die Vorbereitung der Revolte und die damit einhergehenden Auseinandersetzungen zwischen den Aktivisten des Lagerwiderstands und den Mitgliedern des zwölften Sonderkommandos – und damit einhergehend die unterschiedlichen Motive: Zerstörung der Vernichtungsanlagen versus Massenausbruch. Andererseits wird das aus dem Gas gerettete überlebende ungarische Mädchen zum Leitmotiv. Gerettet? Auf jeden Fall spielt dieses Menschenkind plötzlich eine zentrale Rolle inmitten der weitergehenden Vernichtungsmaschinerie und sorgt im Endeffekt für ein filmisch überzogenes dramatisches Ende. Dieses Ende wäre ohnehin dramatisch gewesen – es sei denn, der Produzent hätte sich eindeutig für eine Hollywood-Variante entschieden.
Hat er aber nicht – und hier sind wir wieder beim Machtkampf zwischen Fiktion und Dokumentation. Verglichen mit der „Grauzone“ wirkt „Schindlers Liste“ wie eine Schnulze, ist und bleibt aber ein außerordentlich guter Film, der seine Oscars verdient hat. Die „Grauzone“ ist stillschweigend im Grauen versunken, wurde kaum wahrgenommen und kann trotzdem als eine durchaus wirkungsvolle Produktion bewertet werden. Nelson hat in „künstlerischer Freiheit“ einige Details in einen faktisch und historisch nicht immer korrekten Zusammenhang gestellt – örtlich, zeitlich und personell -, sich ansonsten aber sehr strikt an die Fakten gehalten. Es ist heute trotzdem – oder gerade daher – für einen unbedarften Zuschauer ein schwer verdauliches Werk. Wer sich nicht im Vorfeld eingehend mit Auschwitz beschäftigt hat, insbesondere mit der Rolle der Sonderkommandos im industriellen Völkermord-Prozess, wird schwer folgen können.
Schwer folgen kann ein Publikum, das an Gewalt- und Horrorspielfilme aus der Massenindustrie der „Volksverblödung“ gewöhnt ist. Nelson, selbst Jude und Amerikaner, scheint dieses Negativ-Potenzial unterschätzt zu haben. Allen kritischen Geistern, die diese Rezension hier lesen, kann ich den (inzwischen auf DVD auch in Deutschland erhältlichen [3]) Film „Die Grauzone“ nur empfehlen – allerdings nicht direkt vor dem Schlafengehen…
Autorin: Marianne Kestler
Anmerkungen
[1] Nyiszli, Miklós: „Im Jenseits der Menschlichkeit. Ein Gerichtsmediziner in Auschwitz“; Dietz-Verlag, Berlin, 1992.
[2] Friedler, Eric/ Siebert, Barbara/ Kilian, Andreas: „Zeugen aus der Todeszone. Das jüdische Sonderkommando in Auschwitz“; dtv, München, 2005 (erweiterte Auflage).
[3] „Die Grauzone. Nach dem Bericht eines Überlebenden“, Regie: Tim Blake Nelson; Buch, Tim Blake Nelson, Miklós Nyiszli; Sprachen: Deutsch (Dolby Digital 5.1), Englisch (Dolby Digital 5.1); DVD-Erscheinungstermin: 8. August 2005.