Im Jahr 2014 schreibt der Guardian, dass mehr als 1300 Filme über den 2. Weltkrieg publiziert wurden. Mit dem Film „The City and the City“ legen die Regisseure Christos Passalis und Syllas Tzoumerkas auf der Berlinale 2022 nun einen alles andere als gewöhnlichen Kriegsfilm vor, der eine bisher kaum thematisierte Geschichte aus den Archiven holt und einem größeren Publikum offenbart.
Das Historiendrama, das im Original I Poli Ke i Poli heißt, spielt im griechischen Thessaloniki und erzählt die Geschichte jüdischen Lebens in der Stadt. Thessaloniki wird nicht umsonst auch „Mutter Israels“ genannt, denn die Stadt war jahrhundertelang Ziel und Heimat sephardischer Juden. So war die zentralmakedonische Stadt am Thermaischen Golf früher auch als Jerusalem des Balkans bekannt. Auf unkonventionelle Weise entfaltet der Film seine charakteristische Erzählweise, denn einem konventionellen Plot stellt der Film sechs Kapitel gegenüber, die über Themen verbunden sind und nicht über eine übergeordnete Handlung. So gibt es etwa keine zentralen Figuren, deren Geschichte entfaltet wird oder eine klar definierte Struktur. Vielmehr begleitet der Episodenfilm einige Mitglieder der jüdischen Gemeinde über fünf Jahrzehnte hinweg.
Während bei den allermeisten Filmen Einigkeit bei der Wiedergabe der Handlung bestehen könnte, liest man über I Poli Ke i Poli etwa, dass in dem Film ein kleines Mädchen namens Rosa sorglos durch die Straßen Thessalonikis streife, die zum Spiel der Straßenmusikanten tanze. Später werde sie dem Zuschauer als Rebetiko-Sängerin vorgestellt. Glaubt man einer anderen Rezension, gehe es in dem Film um die Figur Maurice, die verlassen wird. Sicherlich stimmen beide Aussagen zum Film, allerdings lässt sich der Inhalt des Filmes nicht erschöpfend darstellen, was an der unkonventionellen Erzählweise liegt. Lässt man die Regisseure selbst zu Wort kommen, zeigt sich eine tiefe Verbindung der beiden zu Thessaloniki, denn sowohl Passalis als auch Tzoumerkas sind 1978 in der nordgriechischen Stadt geboren.
Mit ihrem Werk, das zwischen Film und Installation changiert, nähern sich die beiden griechischen Regisseure nach vielen Jahren wieder ihrer Geburtsstadt, der sie ehemals den Rücken gekehrt hatten. Bei ihren Recherchen zur Filmgeschichte mussten die beiden Filmemacher tief in die Historie der Stadt eintauchen und stellten fest, dass die jüdische Geschichte der Stadt nicht nur äußerst bittere und menschenverachtende Passagen beinhaltet, sondern diese nach Ende des Krieges systematisch geheimgehalten wurden. Den Hintergrund des Filmes stellt die Welthistorie bereit: Im Winter 1943 entsendet das nationalsozialistische Regime Adolf Eichmanns Stellvertreter nach Griechenland. Eichmann war verantwortlich für die Organisation der Verfolgung, Vertreibung und Deportation von Juden. Das ebenso schnell wie rigoros ausgeführte Programm zur Gettoisierung und Deportation hatte die Auslöschung von über 90 Prozent der jüdischen Bevölkerung Thessalonikis zur Folge. Die tragische wie dramatische Geschichte erzählt nun The City and the City.
Bei The City and the City handelt es sich um ein Projekt, das vom Thessaloniki International Film Festival und der Metropolitan Organization des Museums of Visual Arts von Thessaloniki in Auftrag gegeben wurde. So entwickelt der Film auch seine eigene Ästhetik, indem er in gewisser Hinsicht einen Eklektizismus darstellt. Der Film springt zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zeigt das moderne Thessaloniki, setzt diesem das Vergangene entgegen, lässt unterschiedliche Sprachen vernehmen, zeigt neben Farbbildern auch Bilder in Schwarz und Weiß und Stummszenen. Zu der Charakteristik des Films passt sicherlich auch die Tatsache, dass der Film in zwei Shootings gedreht wurde, die Monate auseinanderlagen. So hatten die Filmemacher bereits Material vorliegen, dass bearbeitet werden konnte, wobei die Ideen, so die Filmemacher in einem Interview, über die Monate hinweg revidiert, überarbeitet und angepasst wurden.
Das Homecoming für die Filmemacher wandert dem Zuschauer auf teils abstruse Weise über die Filmleinwand. Die Charaktere des Films wandern buchstäblich von der einen in die andere Periode, wobei der Film in den 30er-Jahren seine Erzählung aufnimmt. Die damals noch große jüdische Community in Thessaloniki sieht sich damals bereits ersten Aggressionen konfrontiert. Erst in den 50er-Jahren nach Ende des Krieges setzt der Film seine zweite Station, da, wie Christos Passalis und Syllas Tzoumerkas konstatieren, kein gewöhnlicher Kriegsfilm geplant war. Mit der dritten Station, die der Film in 1983 setzt, verbinden die beiden Filmemacher ihre erste Erinnerung an Thessaloniki, was im Kontext des Films eine persönliche Note bedeutet. Die Station „Nowadays“ erinnert hingegen lediglich an eine tatsächliche Datierung und könnte daher das Thessaloniki heute, gestern, vor Monaten oder wenigen Jahren bedeuten. Den Filmemachern bedeutet diese Episode aber besonders viel, da deren Heimat- und Geburtsstadt noch immer nicht die eigene Geschichte aufgearbeitet hat. So sehen die innovativen Regisseure etwa heute noch die „Geister der vergangenen Zeit“.
Insofern stellt der Film nicht zuletzt auch eine Mahnung dar. Sowohl die einzelnen Episoden in der modernen Stadtlandschaft von Thessaloniki als auch die in schwarzweiß gehaltenen Passagen der Vergangenheit mahnen den Zuschauer, informieren, stellen dar, erinnern und entfalten letztlich ein niederschmetterndes Gesamtkunstwerk in ästhetischem Gewand, das aufrüttelt und schockiert. Dafür verdient es der Film, von ganz vielen Menschen betrachtet zu werden.
The City and the City
Regie: Christos Passalis und Syllas Tzoumerkas
Griechenland 2022
Berlinale – Sektion Berlinale Encounters