Rezension über: |
---|
Jan Bazuin: Tagebuch eines Zwangsarbeiters. Mit Illustrationen von Barbara Yelin. Aus dem Niederländischen von Marianne Holberg. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Paul-Moritz Rabe. München: C.H.Beck 2022, 159 Seiten, ISBN 978-3-406-78165-0, 20,00 EUR. |
„Hunger, Hunger, Hunger und nochmals Hunger“ – aus dem Tagebuch eines Zwangsarbeiters
Wie erlebten ausländische Zwangsarbeiter die letzten Wochen des Zweiten Weltkrieges in Deutschland? Was bestimmte ihren Lebensalltag? Welche Gefühle und Hoffnungen hatten sie? Fragen, die das 77 Jahre nach seiner Entstehung erstmals veröffentlichte und durch kluge Erläuterungen ergänzte Tagebuch von Jan Bazuin beantwortet.
Etwa 13,5 Millionen Menschen verschleppten die Deutschen während des Zweiten Weltkriegs aus den besetzten Gebieten und zwangen sie, in Deutschland zu arbeiten, vor allem in der Rüstungsindustrie und in der Landwirtschaft. Die meisten Zwangsarbeiter*innen stammten aus Osteuropa; aber auch aus anderen okkupierten Gebieten wurden Menschen zwangsrekrutiert, alleine ca. 500.000 aus den Niederlanden. In den letzten Jahren ist durch Memoiren und rückblickende Zeitzeugenberichte bereits einiges über die Situation der Zwangsarbeiter*innen bekannt geworden; gerade Geschichtswerkstätten haben durch Forschungen vor Ort wichtige Erkenntnisse gesammelt und nicht selten auch Kontakte zu den ehemaligen Häftlingen initiiert.
Kollaborationsverdacht
Hingegen gibt es bislang kaum authentische Darstellungen aus der damaligen Zeit selbst, was natürlich in erster Linie den unmenschlichen Lebensbedingungen der Zwangsarbeiter*innen geschuldet ist, aber auch mit der Tatsache zusammenhängt, dass diese Menschen in ihren Heimatländern nach 1945 nicht selten unter Kollaborationsverdacht standen.
Dies befürchtete wohl auch der Niederländer Jan Bazuin, dessen Tagebuch eines Zwangsarbeiters erst jetzt entdeckt und veröffentlicht wurde. Bazuin kam Ende 1944 aus Rotterdam nach München und hielt seine Erlebnisse in Form eines Tagebuchs fest. In kurzen, teilweise unvollständigen Sätzen beschreibt der 19-Jährige seinen monotonen, von Entbehrungen geprägten Alltag. Tagelange Fahrten in Viehwaggons, stundenlanges Stehen beim Appell, Hunger und die Suche nach Lebensmitteln sowie der Versuch, sich gegen die Minusgrade in den Baracken zu schützen, bestimmen das Leben.
Kaum politische Inhalte
Hinzu kommt die Angst, Opfer alliierter Bombenangriffe zu werden. Politische Kommentare finden sich in den Tagebuchnotizen kaum, auch artikuliert Bazuin interessanterweise keinen Hass auf die Deutschen. Gefühle werden im Tagebuch ohnehin nur selten festgehalten und beschränken sich auf knappe Aussagen zum Heimweh oder der Sehnsucht nach seiner Freundin Annie.
Jan Bazuin schrieb sein Tagebuch als Möglichkeit der Selbstbehauptung und Selbstvergewisserung, also für sich. Dass dieser Text überhaupt entstehen konnte, ist darauf zurückzuführen, dass Bazuin als Niederländer zu den privilegierten Zwangsarbeiter*innen gehörte; für die Zwangsrekrutierten aus Osteuropa waren die Haftbedingungen ungleich härter.
Nachwort von Fachmann zu NS-Geschichte Münchens
An eine Veröffentlichung seiner Aufzeichnungen hat Bazuin nie gedacht. Entsprechend unbearbeitet ist der Text, was die Lektüre für den historisch Interessierten spannend macht, andere Leser*innen aber auch zum Beispiel angesichts zahlreicher Wiederholungen irritieren dürfte.
Ergänzt wird der Tagebuchtext durch ein kenntnisreiches Nachwort des Herausgebers Paul-Moritz Rabe, eines ausgewiesenen Fachmanns gerade für die NS-Geschichte Münchens, sowie ein umfangreiches, hilfreiches Glossar. Beides erleichtert die Lektüre ebenso wie die in dunklen Farben gehaltenen einfühlsamen Illustrationen der Münchner Künstlerin Barbara Yelin.
Autor: Tomas Unglaube
Zweitveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Erstveröffentlichung in: ENDSTATION RECHTS. ↗, 25. März 2022.