Vladimir Vertlib: Spiegel im fremden Wort. Die Erfindung des Lebens als Literatur. Dresden 2006.
Der lange Weg in die Heimat
In welcher Art und Weise prägt es ein minderjähriges Kind, einen jungen Menschen für die Dauer seines Lebens, wenn er im Schlepptau seiner Eltern kurzzeitliche räumliche Irrfahrten über drei Kontinente, eine Odyssee zwischen Ländern, Städten und Sprachen, Schulen und Mitschülern, (antisemitischen) Vorbehalten und eigenen Ängsten, unterschiedlich dominierten Gesellschaftssystemen durchlebt? Auskunft darüber kann nur geben, wer selbst einen Gutteil der Ortswechsel in seiner eigenen Biographie wiederfindet. Es könnte die Lebensgeschichte von Vladimir Vertlib sein.
Vertlib wurde 1966 in Leningrad, heute Sankt Petersburg, geboren. Seine Eltern emigrierten fünf Jahre später, – der Vater war ein engagierter (illegaler) Zionist, der das Recht der Juden auf Auswanderung von den sowjetischen Behörden einforderte – nach Israel. Nur kurz war der Aufenthalt, weil die (idealisierten) Vorstellungen nicht dieser Wirklichkeit entsprachen. Rom, Wien, Amsterdam, Tel Aviv, New York … und die gesamte Tour nochmals. Bis Ende 1981 die endgültige Übersiedlung nach Wien erfolgte. Umhergetrieben durch die ratlosen, unüberlegten Versuche des Vaters (s)eine Heimat, eine Zukunft für die Familie zu finden, begann für Vladimir Vertlib jetzt eine Zeit stabiler Einrichtung in eine neue Gesellschaft. Nach dem Gymnasium studierte er Volkswirtschaftslehre, arbeitete bei einer Bank und lebt seit 1993 als freischaffender Schriftsteller, Journalist und Übersetzer in Salzburg und Wien.
Mit diesem unruhigen Lebenslauf und dessen schriftstellerischer Umsetzung war Vertlib prädestiniert für die Berufung auf den Lehrstuhl der Dresdner Chamisso-Poetikdozentur für Migrantenliteratur. Diese Dozentur rief 2001 das Mitteleuropazentrum der TU Dresden und die Robert-Bosch-Stiftung, welche auch jährlich den Adelbert-von-Chamisso-Preis an deutschsprachige Autoren nichtdeutscher Sprachherkunft auslobt, in Zusammenarbeit mit dem Lehrstuhl Neuere deutsche Literaturwissenschaft ins Leben. Eingebunden ist seit 2005 die Sächsische Akademie der Künste. In ihren Vorträgen sollen die Dozenten der Frage nachgehen, welche Erfahrungen sie „zwischen den Sprachen“ sammelten, die individuell wahrgenommenen Traditionen unterschiedlicher Sprachräume herausarbeiten und in ihrer besonderen Bedeutung die Hauptthemen Emigration, Heimat, Sprache und Exil referieren. Als fünften Dozenten berief die Jury Vladimir Vertlib 2006 ins Amt.
Die veröffentlichten fünf Vorlesungen hat er dem wichtigsten inneren Halt in seinem jungen Leben gewidmet: „Für meine Mutter“. „In einer Mischung aus Selbstverleugnung und Pflichterfüllung unternahm sie alles, um ihre eigne Illusion am Leben zu erhalten: eine intakte Familie, die dem Kind – also mir – Geborgenheit und Sicherheit bot“ (S. 15).
Der Einführungstext „Die Erfindung des Lebens als Literatur“, mit ausführlichen Passagen aus verschiedenen Veröffentlichen erläutert, stellt Emigration und „autobiographisches“ Schreiben in den Mittelpunkt der Ausführungen. Vertlieb erzählt hier nach, wie er die unruhigen Jahre seiner Kindheit und Jugend im inneren Abstand der Jahrzehnte wahrnimmt und Berichte der Eltern wertet, einschätzt, um ein schlüssiges Gefüge der Entscheidungen für Außenstehende (und sich selbst) nachvollziehbar zu machen. Anhand der Beispiele diskutiert er in drei Thesen, ob Zuwandererliteratur eine Bereicherung der Nationalliteratur ist, ob es überhaupt noch diese gibt, da es keine „reinen“ Nationalstaaten mehr gibt und ob dem Leser autobiographische Hintergründe des Textes wichtig sind.
„Deutschsprachiger Schriftsteller zu werden, ist für mich keine Selbstverständlichkeit gewesen. Die ersten Schreibversuche erfolgten auf Russisch. Im Deutschen hatten die Worte eine Bedeutung, im Russischen, meiner Muttersprache, einen tieferen Sinn“ (S. 58). Seine Sicht auf das Schreiben zwischen den Sprachen und Kulturen diskutiert Vladimir Verlib in der Vorlesung „Holprigkeiten, Lügen, Neukreationen“.
Im Roman „Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur“ verarbeitete der Schriftsteller die auf Tonbandkassetten konservierten Lebenserinnerungen seiner Großmutter. 15 Jahre lagerten sie, bevor Vertlib sich reif und erfahren genug fühlte, die Selbstprotokolle literarisch zu verarbeiten, berichtet er im dritten Text „Das gebrochene Bild des Eigenen“. Dabei arbeitet er einen wesentlichen Aspekt heraus, den der Authentizität, die praktisch nicht möglich ist, weil sie durch die Konstruktion des Romans aufgehoben wird: „durch die eigene Perspektive, durch die Perspektive (und Intention) der Romanfigur Rosa Masur, die diese Geschichte erzählt, und diejenige des Erzählers“ (S. 92).
In den Beiträgen vier („Der subversive Mut zur Naivität“) und fünf („Ein deutsch schreibender jüdischer Russe, der zur Zeit in Österreich lebt“) setzt sich Vertlieb mit den grundsätzlichen Problemen auseinander: Die Stellung literarischer Arbeit und künstlerischen Schöpfertums im Rahmen der kulturellen Wahrnehmung in den sich ständig verändernden gesellschaftlichen Erscheinungswelten. Vertlib versucht dabei dem Sinn des literarischen und journalistischen Schreibens auf die Spur zu kommen und referiert über die Rezeption der eigenen Texte.
Im Anhang des schmalen Bandes finden sich die Vita und eine ausführliche Bibliographie des Autors. Im Nachwort rezensieren und interpretieren Anette Teufel und Walter Schmitz die „Wahrheit und subversives Gedächtnis. Die Geschichte(n) von Vladimir Vertlib“ aus literaturwissenschaftlicher Sicht.
Autor: Uwe Ullrich
Vladimir Vertlib: Spiegel im fremden Wort. Die Erfindung des Lebens als Literatur. Dresdner Chamisso- Poetikvorlesungen 2006; Mit einem Nachwort von Anette Teufel und Walter Schmitz; Broschur, 255 S.; Thelem, Dresden 2008; 12,80 Euro