Sie wird 1924 in eine unbeschwerte, bürgerlich behütete Kindheit hineingeboren. Der Vater betreibt das Kino „Palasttheater“ (später unter dem Namen „Kosmos“ bekannt) in der Alaunstraße 28. Die Mutter ist Hausfrau. Henny wächst behütet auf. Das Kindermädchen ist allgegenwärtig. Mit einem Zug von wehmütiger Erinnerung erzählt Frau Brenner über den Alltag des häuslichen Alltages. In behaglichen Wohnungen am Großen Garten und in der Mendelssohnallee 22 (früher Deutschen Kaiserallee) spielen sich ihre Kindheitsimpressionen ab.
Als 1933 Adolf Hitler zum Reichskanzler ausgerufen wird und mit ihm die NSDAP die totalitäre Macht in Deutschland übernimmt, ändert sich das gewohnte Leben.
Am Freitag, den 16. Februar 1945 sollen sich die letzten der noch in Dresden lebenden Juden im Grundstück Zeughausstraße 1 zum Arbeitseinsatz (sprich: zur Deportation) einfinden. „Nur ein Angriff kann uns retten“, sagte mein Vater. – Der Bomberangriff im Februar 1945 legt Dresden in Schutt und Asche; Kulturgüter, die historische Altstadt sind unwiederbringlich vernichtet, Tausende Menschen im Bombenhagel und nach Tieffliegerangriffen getötet. Paradox: Diese sinnlose Vernichtung menschlichen Lebens und Güter bringt den letzten hier lebenden jüdischen Mitbürgern die Befreiung nahe. Noch ein Vierteljahr und der endlos scheinende zwölfjährige Spuk ist vorbei. Welche Erlebnisse und Erfahrungen liegen dazwischen?
Henny Brenner erinnert sich, dass damals vor dem Kind keine politischen Themen erörtert wurden. Einerseits soll sie nicht belastet werden und andererseits herrscht, wie vielerorts, die Meinung vor, diese Herrschaft dauert sowieso nicht lange. In der Schule, im Unterricht beginnt die Ausgrenzung. Schulwechsel folgt auf Schulwechsel, die Einschränkungen reduzieren Bildungsmöglichkeiten auf ein Minimum. Zum Schluss bot nur noch die jüdische Schule Kurse an.
Im Juli 1941 wird sie zur Zwangsarbeit bei Zeiss-Ikon ins Groehle-Werk verpflichtet. Henny Brenner arbeitet im sogenannten „Kindergarten“. Die Jugendlichen stellen in Tag- und Nachtschichten im Akkord Zeitzünder und Uhrwerke für U-Boote her. Die Augen litten unter der tagtäglichen Fron bei künstlichem Licht und Leistungsdruck mit Pinzette und Lupe: Für 27 Pfennige Stundenlohn – abzüglich der „Judensteuer“.
Ab September 1941 beginnt das öffentliche Spießrutenlaufen, der Judenstern muss seit diesem Zeitpunkt immer getragen werden. Die Leute schauen hinter ihr her, tuscheln, denn mancher Hausbewohner und nächster Nachbar im Quartier wusste nicht, die Brenners sind Juden. Zeit der Einsamkeit, der Bedrohung, der Bedrückung – nimmt sie je ein Ende, habe ich eine Zukunft, fragt sich Henny Brenner. Sie richtet das „Judenlager am Hellerberg“ – ein Teil ihrer Verwandtschaft hauste zeitweise vor der Deportation nach Auschwitz hier – mit ein, wird in die Kartonagenfabrik Bauer in der Neuen Gasse, nahe des Pirnaischen Platzes, zur körperlich schweren Arbeit eingesetzt. Die Vernichtung Dresdens ist die Rettung ihrer Familie.
Die Befreier aus dem Osten erweisen sich nach Kriegsende und später als erneute Bedrohung. Die Flucht nach West-Berlin, später nach Weiden bleibt der einzige Ausweg, „unbeschwertes“, neues Leben zu beginnen. Henny Brenners Traum als Künstlerin zu wirken, erfüllt sich nicht. Mit ihrem schmalen autobiographischen Buch gibt sie Auskunft über ihr Schicksal.
Autor: Uwe Ullrich.
Brenner, Henny: „Das Lied ist aus. Ein jüdisches Schicksal in Dresden“; Pendo Verlag, Zürich 2001 (Neuauflage: ddp goldenbogen, Dresden 2005), sw-Abbildungen, 127 Seiten
Interview mit Henny Brenner
Im Jahr 1932 wohnten etwa 6.000 jüdische Bürger in Dresden, 170 erlebten den 8. Mai 1945. Henny Brenner, Jahrgang 1924, war eine der wenigen Überlebenden. In einem biographischen Abriss berichtet sie über Ihre Lebens- und Überlebenszeit in Dresden. Mit Frau Brenner sprach Uwe Ullrich.
Vor fast einem halben Jahrhundert verließen Sie Dresden. Welche Gedanken bewegen Sie, wenn Sie an Ihre Heimatstadt denken oder hier weilen?
Ich fahre jetzt wieder gern nach Dresden, hier liegen meine Wurzeln. Aber: Manchmal erinnere ich mich, wie ich, ein Mädchen, eine junge Frau, gekennzeichnet mit dem Judenstern durch die Straßen laufen musste. Ich sehe aber auch das Schöne, alles entwickelt sich.
Die Mutter Jüdin, der Vater Protestant, ist das nicht ungewöhnlich?
Viele Mischehen zwischen Juden und Christen gab es nicht. Aber ungewöhnlich, nein. Meine Großeltern hegten zuerst Vorbehalte als meine Mutter ihnen mitteilte, meinen Vater heiraten zu wollen. Kein jüdischer Schwiegersohn? Sie hielten an den jüdischen Traditionen fest, waren aber nicht orthodox. Später schlossen sie ihn ins Herz.
Mein Vater war im allgemeinen tolerant. Religion interessierte ihn nicht. Er war kein kirchlicher Mensch. In dieser Beziehung erwies er sich Zeit seines Lebens als gleichgültig.
Und Kindererziehung? Mein Vater sagte, das Kind kommt nach der Schule und auch sonst meist zuerst zu seiner Mutter, berichtet und fragt sie.
Manche Mitmenschen beschreiben Sie in Ihrem Buch während des „Dritten Reiches“ als desinteressiert und feige, am Schicksal der jüdischen Bevölkerung nicht teilnehmend.
Natürlich, die meisten Menschen sahen weg. Manche Leute waren gemein, freuten sich über all die Bedrängnisse anderer. Ich habe diese Menschen in Erinnerung behalten.
Aber es halfen uns auch Mitbürger. Ich denke dabei an den im Mai 1945 hinterrücks von SS-Leuten erschossenen Dr. Fetscher, und – wie in meinem Buch beschrieben – an eine junge Frau, die mir heimlich Fleischmarken zusteckte, an die Verkäuferin in der Bäckerei, die mir weißes statt graues Mehl gab und Brötchen, ….
Es gab solidarische Hilfe. Nur, die Hilfe hätte umgekehrt proportional zu den Verfolgungen sein müssen. Aber dann wäre Hitlers Machtübernahme 1933 nicht möglich gewesen.
Frau Brenner, glauben Sie, dass sich die Menschen heute gegenüber Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit grundlegend anders verhalten?
Vor zehn Jahren sah ich optimistisch in die Zukunft, heute nicht mehr in dem selben Maß. Manches, ich verweise nur auf die langwierige Diskussion über die Entschädigung der Zwangsarbeiter und des Holocaustdenkmals in Berlin, die Bereitstellung der Gelder, … Jedoch, wiederholen wird sich das Abgleiten in eine nächste Barbarei nicht. Davon bin ich überzeugt. Dazu vertraue ich den heute lebenden Menschen zu sehr.
Ist das der Grund, auch heute noch an Schulen Erinnerungsarbeit zu leisten?
Vor allem will ich die Jugend über eine Zeit informieren, die ihr fern ist. Dieser Teil deutscher Geschichte, das „Dritte Reich“ war von Verfolgung, Verbrechen und Terror geprägt. Ich bin eine der letzten lebenden Zeitzeugen. Erinnerungsarbeit leiste ich nicht nur an Schulen, sondern ebenso vor Vereinsversammlungen und bei kirchlichen Zusammenkünften. Mein öffentliches aufklärerisches Wirken begann vor langer Zeit, schon weit vor der Wende. Genau weiß ich es schon nicht mehr. Früher hier in Weiden und bis nach München. Nun seit geraumer Zeit auch in Dresden.
Nach 1945 waren Sie und Ihre Eltern der Meinung „trotz des Schrecklichen nicht aus Dresden und Deutschland zu gehen“?
Mir ging es gut. Ich fühlte mich frei nach all den bedrückenden Jahren der Bedrohung, der Demütigung und der Angst ums nackte Leben. Ich war jung, hatte das Leben wieder vor mir. Ich bekam keine künstlerische Ausbildung, wie ich es mir viele Jahre erhofft hatte. Weder Arbeiter- oder Bauernkind noch Mitglied der staatstragenden Partei, besaß ich keine Möglichkeit für die gewünschte Studienrichtung an der Kunstakademie. Wir blieben trotzdem.
Vater hoffte, sein Kino wiederzubekommen. Seine Hoffnung erfüllte sich nicht. An Rückgabe „arisierten“ Vermögens war in der SBZ/DDR nicht zu denken. Er baute sich eine Existenz als Textilhändler auf.
Dann holten sie führende (jüdische) Funktionäre und leitende Angestellte ab. Die geplante Durchführung von Schauprozessen – in der Tschechoslowakei gegen Slansky verwirklicht – gegen jüdische Partei- und Staatsfunktionäre machte uns Angst. Dem „Großen Bruder“ Sowjetunion alles nachmachen, trauten wir der DDR zu. Noch einmal nicht, sagte mein Vater, und wir gingen 1952 nach West-Berlin. Ein Schritt, den ich bis heute nicht bereue.
Frau Brenner, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Autor: Uwe Ullrich