Singer, Isaac Bashevis: Schatten über dem Hudson, München 2002.
Isaac Bashevis Singer wurde 1904 in der Nähe von Warschau als Sohn eines Rabbiners geboren. Seit 1935 lebte er in den USA, wo er 1991 stirbt. 1978 erhielt er den Literaturnobelpreis. Ein Thema, das all seine Werke durchzieht, ist das Ostjudentum und das jüdische Exilleben nach dem Holocaust.
Eingebettet in eine Liebesgeschichte erzählt sein Roman „Schatten über dem Hudson“ die Lebensläufe und individuellen Schicksale ostjüdischer Emigranten in den USA. Ausgangspunkt der Geschichte ist New York im Jahr 1947/48. Hier lebt der holocaustüberlebende osteuropäische Jude Boris Makaver. Obwohl ihm die Anpassung an die „Neue Welt“ sehr schwer fällt, ist es ihm gelungen, finanziell sehr erfolgreich zu sein. Vielfältig greift er seinen jüdischen Freunden, die es nicht geschafft haben, unter die Arme. Die unbeantwortete Frage, warum die Welt nach Hitlers Höllensystem so weiter lebt als wäre nichts gewesen, stärkt seinen Glauben und sein Leben in der jüdischen Tradition.
Als seine Tochter Anna mit ihrem ehemaligen Nachhilfelehrer Hertz Grein durchbrennt, bricht für ihn eine Welt zusammen und er sagt sich von ihr los. Annas zweiter Ehemann, Stanislaw Luria, hat mit Anna einen Halt in seiner Trauer um seine von den Nazis ermordete Familie gefunden. Ihr Weggang führt zur Enttäuschung, zur Wut, zum völligen Zusammenbruch und seine nie geheilte Wunde bricht wieder auf. Er verkommt und stirbt schließlich am gebrochenen Herzen. Herzt Greins Schuldgefühl der moralischen Verfehlung steigert sich mit Lurias tragischem Tod. Als seine Frau Leah auch noch an Krebs erkrankt und er erkennt, dass seine Kinder mit dem Judentum nichts mehr gemein haben, versucht er zu seinem Glauben zurückzufinden. Doch der Versuch misslingt und er flüchtet mit seiner Ex-Geliebten Esther, von der er nie lassen konnte, auf eine Farm. Die Einsamkeit erdrückt Esther und sie verlässt ihn. Boris Makaver hat unterdessen noch einmal geheiratet. Nach einem geschäftlichen Fehlgang, der ihn fast in den Ruin treibt, versöhnt er sich mit seiner Tochter Anna, die unterdessen wieder mit ihrem ersten Ehemann, einem Schauspieler, liiert ist. Für seinen kommunistischen Neffen Herman, der die stalinistische Wirklichkeit nicht wahrhaben will und nach Russland geht, richtet er eine in jüdischen Gebräuchen stattfindende Hochzeit aus. Greins ungläubiger Sohn Jack heiratet eine Nichtjüdin. Als sie ihr erstes Kind erwartet, konvertiert sie zum Judentum. Hertz Grein ist auf der Suche nach sich selbst nach Israel ausgewandert, wo er ein traditionell jüdisch-religiöses Leben führt. Dies ist sein Weg, den Versuchungen der dekadenten Welt zu widerstehen.
Singer versteht es, mit klaren und realistischen Worten ruinierte Lebensläufe und individuelle Schicksale der osteuropäischen Juden anhand einer Liebesgeschichte zu beschreiben. Die durch den Holocaust erzwungene Emigration führt zu finanziellem und menschlichem Verlust und nicht allen Figuren gelingt es, wieder Fuß zu fassen. Da sind die Schwierigkeiten, wenn Boris Makaver versucht, seine alte Welt zu bewahren, während seine Tochter Anna mit den jüdischen sittlichen Wertmaßstäben bricht, indem sie mit Hertz Grein fremdgeht. Boris Makaver ruft nach menschlicher Verantwortung, den höllischen Holocaust nicht im Alltagsgeschehen zu vergessen und zu verschweigen. Der allwissende Erzähler sieht die Schatten der Vergangenheit, die die Figuren ständig begleiten. So kann Stanislaw Luria unmöglich glücklich sein, wenn er seine ermordete Familie betrauert, Hertz Grein versucht, seinen Konflikt mit Gott und dem Holocaust durch ein ausschweifendes erotisches Leben zu lösen. Andere wie Anna sagen sich von Gott los oder werden Kommunisten wie Hertz Greins Sohn Jack und Boris‘ Neffe Herman.
Mit klangvollen Bildern fängt Singer die Stimmungen seiner Figuren ein. Er lässt sie sehr viel zu Wort kommen. Dadurch entsteht ein inhaltlich und emotional dichtes Bild der Vernichtung menschlicher Existenzen und ihrer Folgen: Hoffnungs- und Ziellosigkeit, moralische Verfehlungen, Niedergang der Traditionen, des jüdischen Lebens, die Frage nach Schuld und Vergebung, nach Gott und dem Leben, die Suche nach einem Halt und der Vergangenheit. Der gewählte Zeitraum von acht Monaten kommt nicht nur der Figur Anna, sondern auch dem Leser wie Jahre vor. Singers Figuren verschwinden aber allzu plötzlich aus dem Blickfeld. Schade, denn sie hätten noch so viel zu sagen. Der Epilog verweist auf den Neuanfang des jungen Staates Israel, der bis heute mit den Schatten der Vergangenheit kämpft.
Autorin: Soraya Levin. Erstveröffentlicht auf rezensionen.ch.
Singer, Isaac Bashevis: Schatten über dem Hudson, Roman, Deutsch von Christa Schuenke, München, Dezember 2002, Deutscher Taschenbuchverlag GmbH & Co. KG, 748 S., Einband, 15,00 €, 25,90 CHF, ISBN 3-423-13021-0, Titel der amerikanischen Originalausgabe: Shadows on the Hudson.