Eine Familienszene: Mutter und drei Kinder sitzen scheinbar gemütlich beim Picknick. Das Gras ist grün, die Stimmung gut. Die Szenerie erscheint für ein Picknick allerdings vollkommen ungeeignet. Aber warum? Die Familie sitzt vor den Sicherheitszäunen einer Atomteststation, also vor einem Ort, den man sich nicht unbedingt für ein Picknick aussuchen würde. Eine Stimme aus dem Off kommentiert und liefert Informationen über die Schlagkraft einer Atomwaffe. Skurril und wirkungsvoll zugleich.
Die Story: In Nuclear Family steigen die Regisseure Travis Wilkerson und Erin Wilkerson mitsamt ihrer drei Kinder in das Auto und beginnen einen Roadtrip entlang der Raketensilos, der sie in Landstriche führt, denen Bedrohung, Rassismus, Völkermord eingeschrieben sind.
Travis Wilkerson spricht in Bezug auf seinen Film daher von einem Family „Photo“. Und tatsächlich ist der Bezug zur eigenen Lebensgeschichte stark. Sein Vater war Pilot im amerikanischen Vietnam-Krieg. Bereits das verbindet die Wilkersons, denn auch Erin Wilkersons Vater war Pilot und im Vietnam-Krieg involviert. Während man in Travis Familie darüber sprach und seine Mutter sogar politisch aktiv war und gegen den Krieg und gegen Atomkraft und den Nuklearkrieg kämpfte, war es in Erins Familie genau gegenteilig, wie sie sich erinnert, denn: Jeder wusste davon, aber keiner sprach darüber.
Dies soll sich nicht zuletzt mit dem Film des Ehepaares ändern. Wilkerson war seit der Wahl Donald Trumps wieder von Albträumen geplagt, wie er verrät. Die nukleare Apokalypse erschien möglicher denn je. Die Entscheidung für einen Roadtrip entlang der Raketensilos gleicht daher der Entscheidung zu einer filmischen Konfrontationstherapie und lässt mit dem Roadtrip gleichzeitig die Familientradition wieder aufleben.
Was die Wilkersons auf ihrer Reise vorfinden, stellt sich im Film etwa so dar: Bilder eines Adventure Minigolf-Platzes: der Goldrausch. Eine mit USA beschriebene Rakete. Ein Gorilla. Ein Totenkopf. Alles Minigolf-Kurse, die das Spiel noch interessanter machen sollen. Das Banale wird mit dem Undenkbaren zusammengebracht. Eine Stimme aus dem Off kommentiert die in die Minigolf-Landschaft eingeschriebene Propaganda. Wieder gehört die Stimme dem Regisseur Travis Wilkerson. Dann ein kurzer Schnitt und das Bild zeigt zwei der drei Kinder Wilkersons. Für Wilkerson selbst stellt sein kühnes und mutiges wie innovatives Vorhaben auch deshalb ein „Familiy Photo“ dar, wie er sagt. Seinen Film hat er einmal als eine Komödie über den Atomkrieg bezeichnet, denn sein Anliegen sei es gewesen, einen Film zu drehen, der einerseits ernst sei, andererseits sich selbst aber nicht ernst nehme.
Der Roadtrip durch den Westen der USA lässt die Wilkersons eine Landschaft vorfinden, in die eine ältere Geschichte der Vernichtung, des Krieges und der Umweltkatastrophen eingeschrieben ist. Die Erinnerungen an die Massaker an den Native Americans überlappen sich mit den apokalyptischen Erlebnissen. Der Roadtrip ist kein abenteuerlustiger, verrückter und spannender Roadtrip, sondern ein apokalyptischer, nachdenklicher, der treffende und starke Diagnosen bietet, die im wahrsten Sinne des Wortes erschüttern und aufrütteln. Wenn ein Sommerurlaub mit Camping, Minigolf, Schwimmen und Baseball in Landschaften, die von Ausrottung, Völkermord und Krieg gezeichnet sind, stattfindet, dann führt das zwingend zu weiterführenden Gesprächen, die Travis mit seiner Stimme aus dem Off anregt. Wer über diesen Film nicht diskutiert, diskutiert niemals!
Der starke Bezug zur eigenen Lebensgeschichte sei motivgebend für seinen Film gewesen, sagt Travis, denn der Vater war nicht nur Pilot im Krieg in Vietnam, sondern starb auch an den Folgen von Agent Orange, einem chemischen Entlaubungsmittel, das die amerikanischen Streitkräfte einsetzten, damit die Guerilla-Bewegung Nahrung einbüßten und weniger Tarnung im Dschungel hatten.
Der Film läuft dem Zuschauer in Schwarz-Weiß und Farbe über die Leinwand. Die Kameraeinstellungen sind oftmals statisch: Umzäunte Landschaften, typisch amerikanische Motels und Botanik, inmitten dann die Familie. Die statischen Einstellungen werden immer wieder von Atomtest-Analogaufnahmen unterbrochen, die das Unheil ankündigen oder Vorwarnung sein mögen. Spektakuläre Farben flimmern über die Leinwand, wenn apokalyptische Pilzwolken zu Sun Ras „Nuclear War“ in den Himmel aufsteigen. Eindrucksvoll und schön möchte man das nennen und weiß doch um die alles vernichtende Kraft.
Mit Nuclear Family haben Travis und Erin Wilkerson nun auf der Berlinale auch dem europäischen Publikum einen Film vorgelegt, der zum Kopfschütteln, genießen, lernen und streiten gleichermaßen einlädt. Der Essayfilm macht in Zeiten, in denen vor allem Corona dominiert, dann eine ältere, aber deshalb nicht weniger reale Bedrohung der Welt aufmerksam und dies auf sehr persönliche Weise.
Der Film ist eigenwillig und unkonventionell. Das Politische wird mit dem Persönlichen vermischt. Travis Wilkerson und Erin Wilkerson sind bekannt für ihre Eigenwilligkeit, weshalb ihnen auch ihre Unabhängigkeit als Filmemacher besonders wichtig ist. Mit Nuclear Family liegt ein Werk vor, dass eine maximale Ästhetik mit radikalen, unbequemen politischen Ansichten verbindet. Wer das politische Gewissen des unabhängigen amerikanischen Kinos sehen will, der ist bei Nuclear Family genau richtig.
Nuclear Family
Regie: Erin Wilkerson und Travis Wilkerson
Singapur 2021
Berlinale – Sektion Forum