2010 veröffentlichte der israelische und mit Deutschland bestens vertraute Philosoph und Historiker Moshe Zuckermann sein Buch „Antisemit! Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument“. Dieser Vorwurf trifft hierzulande in den letzten Jahren ausgerechnet und absurderweise linke und auch viele jüdische Intellektuelle und Künstler, die sich wagen, die fortgesetzte Okkupations- und Enteignungspolitik durch die rechte Regierung in Israel zu kritisieren. Kurzerhand unterstellt man ihnen Antisemitismus oder definiert sie als „selbsthassende Juden“. Karin Wetterau rekapituliert in ihrem neuen und wichtigen Buch den Streit um die Definition und Deutungshoheit des Begriffs Antisemitismus einerseits und zeigt, wie falsch Theodor Lessings problematischer Terminus des „selbsthassenden Juden“ benutzt wird. Gemeint waren Anfang des 20. Jahrhunderts Juden, die aufgrund von Verfolgung und Ausgrenzung ihre jüdische Identität völlig ablehnten. Der Verein „Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost“, wurde 2019 für sein Engagement mit dem Göttinger Friedenspreis ausgezeichnet wurde. Seine Mitglieder betonen bei ihrer Kritik an der israelischen Besatzungspolitik gerade ihre jüdische Identität.
Wetterau sieht im heutigen Streit um Antisemitismus Parallelen zu den großen historischen Debatten in der Bundesrepublik um die Schuldfrage des Ersten Weltkriegs (Fritz Fischer) und dem Historikerstreit um Ernst Nolte in den 1980er Jahren. Wer die seit vielen Monaten geführten Auseinandersetzungen in den Feuilletons verfolgt, wird Wetterau in der Bewertung nur zustimmen können. Allerdings schaltete sich, im Unterschied zu den beiden anderen historischen Debatten, hier das Parlament ein und beschloss im Mai 2019 mehrheitlich, der hierzulande unbedeutenden BDS-Bewegung entschlossen entgegenzutreten. Ursprünglich hatte die AfD-Fraktion ein Verbot der BDS-Bewegung in Deutschland beantragt, wodurch die anderen Parteien, mit Ausnahme der Linken, unter Zugzwang gerieten. „Boykott, Desinvestitionen, Sanktionen“ (BDS) wurde 2005 von 170 palästinensischen Organisationen der Zivilgesellschaft gegründet, lehnt Gewalt ab und wird von Menschen wie Bischof Tutu, Judith Butler und Roger Waters unterstützt. So verständlich es ist, den von BDS propagierten Boykott Israels als Deutsche/r nicht zu unterstützen, so ist deren Einschätzung als antisemitisch nicht nur fragwürdig, sondern falsch, wie Wolfgang Benz, Gründungsdirektor des Instituts für Antisemitismusforschung an der TU, befand.
Die BDS-Bewegung sei nicht judenfeindlich, sondern empfehle ein politisches Mittel, um eine politische Absicht durchzusetzen. Es geht gegen die Politik des Staates Israel, aber nicht um Juden, wie Benz neulich im Deutschlandfunk ausführte.
Auf der problematischen Gleichsetzung von Judentum und israelischem Staat, die die Diversität der Juden in Israel und in der Diaspora leugnet, beruht die deutsche Staatsräson, die die Sicherheit Israels garantieren will. Muss das aber gleich den Schulterschluss mit der rechten Netanjahu-Regierung bedeuten? Sollte die Bundesregierung nicht deutliche Kritik an der fortgesetzten Besatzung üben, die Israels Sicherheit nicht dient, sondern eher bedroht? Angriffe aus dem Umfeld Netanjahus gegen BDS und das Jüdische Museum Berlin mit dem damaligen Direktor Peter Schäfer wurden hier durch eine breite Phalanx unkritischer Israelfreunde 1:1 befeuert. Kein bisschen Kritik regt sich dagegen bei Netanjahus Allianzen mit Bolsonaro, dem Antisemiten Viktor Orban, der AfD und den ultrarechten US-Evangelikalen. An deren Beispiel zeigt Wetterau, dass Zionismus und Antisemitismus Hand in Hand gehen können.
Achille Mbembe, dem Theoretiker des Postkolonialismus, wurde aufgrund einer Nähe zu BDS (Kontaktschuld!) und seiner Sicht auf Israel, dessen kolonialistische Praxis er kritisiert, gleich Antisemitismus unterstellt. Von ihm wird die Übernahme der deutschen und schuldbeladenen Perspektive verlangt und offenbart eine deutschzentristische und paternalistische Haltung zugleich. Dagegen wenden sich viele Kulturinstitutionen mit ihrer Initiative GG 5.3., benannt nach dem Grundgesetzartikel, der die Freiheit von Kunst, Wissenschaft, Forschung und Lehre garantiert. Genau diese sehen zahlreiche und namhafte Institutionen und Personen bedroht. Karin Wetterau schildert viele besorgniserregende Vorkommnisse, die ein Klima von McCarthyismus mit Angst, Opportunismus und Denunziation schaffen.
Auch auf der Linken gab es Antisemitismus, den Versuch eines Anschlags mit einem Brandsatz auf die jüdische Gemeinde in Berlin 1969 oder die höchst verblendete Opfer-Täter-Umkehr in einer Erklärung von Ulrike Meinhof zum palästinensischen Attentat auf die israelische Olympia-Mannschaft 1972 in München. Dennoch sind antisemitische Positionen dort eher die Ausnahmen.
Götz Aly deutete nicht nur im Titel „Unser Kampf“ seiner 2008 erschienenen Abrechnung mit 1968 eine Kontinuität der Studenten zu der NS-belasteten Elterngeneration an und leugnet, dass die NS-Verbrechen überhaupt eine Rolle bei den 1968-ern gespielt hätten. In dem Kapitel „Umkämpfte Erinnerung“ widerlegt Wetterau diesen Unsinn, für den Aly sich in einer TV-Diskussion (KulturZeit extra) im selben Jahr geharnischte Kritik von Klaus Theweleit gefallen lassen musste. Denn, wie Wetterau ausführt, das erste „Antisemitismus“-Seminar nach 1945 wurde im Umfeld des SDS Anfang der 1960er Jahre organisiert.
Autor: Matthias Reichelt
Karin Wetterau: Neuer Antisemitismus? Spurensuche in den Abgründen einer politischen Kampagne, Vorwort von Wolfgang Benz, Bielefeld: Aisthesis Einwürfe 2020, 18 €