Auf der Berlinale 2019 hat der Dokumentarfilm „Midnight Traveler“ gerade Premiere. Das knapp anderthalbstündige Werk ist in mehrfacher Hinsicht gleichermaßen aktuell wie realistisch: Thema ist die Flucht einer afghanischen Familie nach Europa. Das technische Equipment der Filmemacher passt in drei Hosentaschen.
Für Dokumentarfilmer sind sie hoch spannend: die dramatischen, aber realen Ereignisse des wahren Lebens, die echten Überraschungsmomente erfahrener Wirklichkeit irgendwo zwischen Alltag und Ausnahmezustand. Alles, was den Figuren eines Dokumentarfilm-Projektes tatsächlich widerfährt, liefert Stoff. Je drastischer, umso besser.
Wenn jedoch Protagonisten und Filmemacher ein und dieselben Personen sind – wie im Fall von Midnight Traveler -, verschärft sich diese Spannung. Das selbst Erlebte filmisch zu dokumentieren – was jeder Szene eine vielfach übersteigerte Unmittelbarkeit verleiht – erfordert permanentes Hadern mit dem eigenen Gewissen. Wo zieht man die Grenze zwischen Privatsphäre und Zeigen-Wollen? Zwischen schicksalhaftem Leid und Sensationsgier? Wo schaltet man die Kamera aus, weil die Ethik es verlangt oder Gefahr im Verzug ist, wo hält man drauf? Fragen, die sich das Filmemacher-Ehepaar Hassan Fazili und seine Frau Fatima Hussaini während der Arbeit an ihrem Werk „Midnight Traveler“ wahrscheinlich allzu oft stellten. Denn ihr Film erzählt die Geschichte der dreijährigen Flucht ihrer Familie aus Afghanistan nach Europa.
Unter dem Druck der Taliban, die dem Ehepaar und ihren beiden Töchtern Nargis (11) und Zahra (6) mit Tötung drohen, entscheidet sich die vierköpfige Familie im Jahr 2015 das Land zu verlassen, um nach Europa zu fliehen. Filme zu machen, das war schon im Heimatland die Profession der Eltern – er als Regisseur, sie als Schauspielerin. Das künstlerische Schaffen der beiden ist einer der Gründe, weshalb sie fliehen müssen.
In Europa erhofft die Familie sich Schutz und Sicherheit – wie so viele Fliehende vor und mit ihnen. Die einzig realisierbare Möglichkeit, diese unfreiwillige Reise filmisch zu dokumentieren, besteht darin, die eigenen Smartphones dafür zu verwenden.
Als ohnehin ständige Begleiter verwandeln sich die Mobiltelefone in multimediale Tagebücher: Sie geben Hoffnung und Perspektive, der Welt eines Tages zeigen zu können, wie solch eine Flucht tatsächlich vonstatten geht und wie die Betroffenen sich währenddessen verändern und entwickeln. Das Mitschneiden zahlloser von Hindernissen und Rückschlägen geprägten Episoden scheint der Familie Trost und Kraft zu spenden: Wir werden das hier überleben, und wir werden den Menschen vorführen, was wir erlebt haben.
Und so stellt „Midnight Traveler“ dar, wie die Familie sich auf eine jahrelange Irrfahrt begibt, die sie entlang der Balkanroute von einem Flüchtlingslager zum anderen führt. Und die sie unterwegs Erfahrungen machen lässt, mit denen sie – im doppelten Sinne – an Grenzen stoßen. An geografische und bürokratische Grenzen. An grenzwertige Arten der Fortbewegung. Und immer wieder an die Grenzen menschlicher Belastbarkeit.
Die Geschehnisse als solche sind einerseits jene, die man aus anderen Berichten und Dokumentationen zum Thema Flucht kennt: Da sind Menschen auf engstem Raum unter chaotischen Bedingungen untergebracht; Hunger, Angst, Ungewissheit und Verzweiflung wechseln sich ab mit Lichtblicken und Zuversicht. Man wird Zeuge, wie Schlepper große Versprechungen machen, die sie nicht einhalten. Wie zwielichtige Polizisten den Fliehenden ihre Handys abnehmen. Und wie Fliehende auch (oder gerade) unter den unmenschlichsten Umständen versuchen, menschlich zu bleiben.
Was allerdings „Midnight Traveler“ so besonders macht, ist, dass eben alles authentisch und hautnah stattfindet – in eben jener visuellen Rohheit, die jeder Besitzer eines Smartphones von eigenen Aufnahmeversuchen kennt. Und da Fazilis Kameraleute bei jedem Dreh persönlich mitten im Geschehen stecken – mit allen Gefahren und Unvorhersehbarkeiten – erinnern auch die Kamerafahrten an die improvisierte Regieführung, mit der Amateure ihr Leben in animierte Selfies zwängen. Nur mit dem Unterschied, dass wir Mitteleuropäer keine Zwangslagen dokumentieren, sondern uns bevorzugt mit Banalitäten befassen.
Dass aus den Videodateien der drei Smartphones (die nach Beschlagnahmungen dann doch wieder bei ihren Besitzern gelandet sind) ein vollständiger Dokumentarfilm zusammengeschnitten werden konnte, führt zu einem logischen Schluss: Anscheinend ist die Flucht der Familie gelungen.
Und so wie der Film zum Glück „fertig“ geworden ist – und im Verlauf seiner Spielzeit zahllose eindringliche Momente vorführt – so ist auch die Familie zu guter Letzt in Europa „angekommen“. Und ebenso ungewiss und fraglich, wie sich die tatsächliche Zukunft der Familie darstellt, so offen bleibt auch „Midnight Traveler“. Die Geschichte verzichtet auf ein Happy End, da auch über den Biografien der Protagonisten noch etliche Fragezeichen kreisen.
Ähnlich wie bei den Tausenden von Geflüchteten, die in einer vergleichbaren Lage stecken – die sich nur kein mediales Denkmal setzen konnten – für die aber „Midnight Traveler“ ein ebenso wichtiges Zeugnis ist wie für die Familie des Urhebers Hassan Fazili.
Midnight Traveler
Regie: Hassan Fazili
USA / Großbritannien / Katar / Kanada 2019, Persisch, Englisch
87 Min · Farbe
Berlinale – Sektion Panorama Dokumente