Aus dem Leben der Margarete Turnowsky-Pinner – von Berlin nach Palästina (Geboren am 27. Februar 1894 in Kosten/Provinz Posen – gestorben 1982 in Tel Aviv)
1. Margarete Turnowsky-Pinners Ankunft in Tel Aviv 1933
Im Mai 1933 verließ Margarete Turnowsky-Pinner im Alter von 39 Jahren mit ihren beiden Töchtern, der zehnjährigen Miriam und der neunjährigen Rachel, Berlin und wanderte nach Palästina aus. Vom Herbst 1925 bis 1927 hatte Margarete bereits mit ihrem Mann und ihren Kindern in Jerusalem gelebt und sich der Stadt und dem Aufbauwerk der Juden in Palästina eng verbunden gefühlt.[1] Nach ihrer Scheidung war sie mit ihren Kindern nach Berlin zurückgekehrt und hatte die Entscheidung getroffen, einen Schlussstrich unter das „Kapitel Palästina“ zu ziehen, aber im Jahre 1933, nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler und der sich rasch etablierenden Diktatur blieb Margarete keine andere Wahl, als Deutschland für immer zu verlassen. Der Weg nach Palästina stand ihr und ihren Kindern offen, da ihr geschiedener Mann Walter Turnowsky die Möglichkeit hatte, ihnen eine Einreiseerlaubnis zu verschaffen. Ihre Töchter begrüßten das Vorhaben nach Palästina zu gehen voller Freude, war doch die Erinnerung an Jerusalem in ihnen lebendig geblieben. Zudem hatte der Vater oft geschrieben und sie jedes Jahr besucht. Mit Liebe hatte ihre Mutter von diesem Land gesprochen und mit einer kleinen Gruppe zionistischer Kinder hatten sie von einer palästinensischen Pädagogin, die für einige Monate zu Ausbildungszwecken nach Berlin gekommen war, Hebräisch gelernt.[2] Infolgedessen waren die beiden Mädchen sehr gut auf die Auswanderung vorbereitet und hatten bereits Berufswünsche gefasst. Miriam träumte davon, in Palästina Gärtnerin zu werden, um das „Land schön zu machen“.[3] Sie verließ Deutschland ohne Bedauern. Negative Erlebnisse hatten sich tief in ihre Kinderseele eingegraben und prägten sie. Von ihrer Turnlehrerin war sie vom Unterricht ausgeschlossen worden, Kinder hatten sie auf der Straße überfallen, ihr Gesicht mit übel riechenden Pflanzen eingerieben und hatten ihr „stinkendes Judenmädchen“ nachgerufen.[4] Das konnte sie nicht vergessen. Nun wurde die Stadt Tel Aviv die neue Heimat von Margarete und ihren Kindern, wie für viele Emigranten und Emigrantinnen auch.
2. Rückblick: Eine Freundschaft mit Ernst Toller aus der Heidelberger Studentenzeit
Margarete war sehr früh von ihrem fünf Jahre älteren Bruder Ernst vom zionistischen Gedankengut beeinflusst worden und bereits mit 18 Jahren Zionistin geworden. In jungen Jahren hatte sie sich bereits für zionistische Organisationen und für die Gleichstellung der Frauen eingesetzt. So war sie in Berlin im Jahre 1916 die Mitbegründerin eines Jüdischen Vereins für Studentinnen geworden und organisierte ein Jahr später eine Versammlung für Zionistinnen in Heidelberg.[5] Margarete kam aus einer Akademiker-Familie. Ihr Vater war Rechtsanwalt, zudem Vorstandsmitglied der jüdischen Gemeinde, ihre Mutter Lehrerin. Ihr Vater hatte seine Söhne und Tochter ohne Unterscheidung des Geschlechts darin bestärkt, den Doktortitel zu erwerben.[6] In Heidelberg kreuzten sich die Wege von Margarete Pinner und dem neun Jahre jüngeren Schriftsteller und Politiker Ernst Toller. Im Wintersemester 1917/18 studierten beide in Heidelberg. Viele Gemeinsamkeiten mögen zur Entstehung dieser Freundschaft beigetragen haben. Beide kamen aus jüdischen Familien, wurden in Posen geboren und wuchsen dort auf. Ungefähr dreißig Jahre nach dem Selbstmord von Ernst Toller widmet Margarete ihrem ehemaligen Freund einen Artikel von zwanzig Seiten A student’s friendship with Ernst Toller.[7] Sie geht unter anderem auf seine Kindheit in Posen ein, seine Studentenzeit in Frankreich und Deutschland, seine freiwillige Teilnahme am Ersten Weltkrieg, seine aktive Beteiligung an der Münchener Räterepublik, auf seine sich anschließende Inhaftierung und auf seine schriftstellerischen Tätigkeiten und Erfolge. Margarete hatte Ernst Toller in einem Heidelberger Wirtshaus kennengelernt, in dem er seine Mittagsmahlzeiten einnahm und in dem sie sich und ihre Freundinnen Käthe Markus und Elli Harnisch eingemietet hatten. Das Quartett verband bald eine „romantische Freundschaft“,[8] um mit Margaretes Worten zu sprechen, unternahm gemeinsame Spaziergänge in der Umgebung Heidelbergs und Ruderfahrten auf dem Neckar. Margarete Pinner, die im späteren Verlauf ihres Lebens eine anerkannte Sozialwissenschaftlerin wurde und stets unter streng analytischen Prämissen Bücher und Artikel verfasste,[9] erwies sich in der Begegnung mit Ernst Toller als Naturfreundin und gefühlsbetonte Frau. Offensichtlich kamen sich diese beiden Menschen sehr nahe, ihre Gefühlswelt und ihre intellektuellen Interessen schienen eng miteinander verwoben zu sein. Noch nach jahrzehntelanger Emigration war Margarete im Besitz der Briefe ihres Freundes.
Die alltäglichen Kriegsgräuel beeinflussten sehr bald die Gedankenwelt und die Aktionen von Margarete Pinner und ihrem Freundeskreis. Ernst Toller war aus gesundheitlichen Gründen ab 1917 vom Kriegsdienst freigestellt worden, blieb aufgrund seiner Kriegserfahrungen schwer traumatisiert und war besessen von der Idee, dass der Krieg als Instrument zur Lösung von Konflikten abgeschafft werden müsse.[10] Gemeinsame leidvolle Erfahrungen der Freundinnen bestätigten Ernst Tollers politische Sichtweise: Vor kurzem hatte Käthe Markus ihren Bruder im Krieg verloren, Margarete Pinners Bruder Ernst lag schwer verwundet in einem Krankenhaus in Trier.[11] Margarete Pinner konnte Ernst Toller für den Kulturpolitischen Bund der Jugend gewinnen, der aus sieben Frauen und vier Männern bestand. Das Ziel des Bundes war es, seine Stimme für eine sozialistische Friedensordnung zu erheben.[12] Gemeinsam verfassten Ernst Toller und Margarete Pinner eine offizielle Friedenspetition, die auf eine sozialistische Weltfriedensordnung abzielte und an alle sozialistischen Studentengruppen der deutschen Universitäten im Jahre 1917 verschickt wurde. Politische Repressalien folgten und alle Mitglieder der Gruppe wurden aus Baden ausgewiesen.[13] Die Wege von Margarete Pinner und Ernst Toller trennten sich. 1933 ereilten Ernst Toller und Margarete Pinner-Turnowsky dasselbe Schicksal: Sie mussten Deutschland verlassen. Ernst Toller ging zunächst in die Schweiz ins Exil, beging 1939 Selbstmord in New York. Zweiundzwanzig Jahre nach ihrer Freundschaft in Heidelberg zog Margarete Turnowsky-Pinner Parallelen zu dem expressionistischen Drama Hinkemann, das Ernst Toller während seiner Haft in Niederschönenfeld verfasst hatte. Sie legte ihrem verstorbenen Freund die letzten Sätze von Hinkemann vor dessen Freitod in den Mund:
„I have no more strength. No more strength to fight, no more strength to live […]. For me all seeing turns to knowledge, all knowledge is suffering […]. Once all my suffering turned into will […]. I will no more.” [14]
2.1 Margarete Turnowsky-Pinners Engagement als Zionistin bis 1933
Als Margarete Turnowsky-Pinner nach ihrer Scheidung im Jahre 1927 nach Deutschland zurückgekehrt war,[15] setzte sie sich wieder gezielt für die Gleichberechtigung der zionistischen Frau ein. Sie knüpfte an ihr Engagement vor ihrer Auswanderung nach Palästina an, denn bereits im Jahre 1923 hatte sich Margarete in der Leitung des Bundes zionistischer Frauen (BZF) engagiert.[16] In den folgenden Jahren wurde sie immer wieder in den Vorstand gewählt, nahm als Delegierte an internationalen zionistischen Kongressen teil und war in verschiedenen Gremien zionistischer Strukturen aktiv.[17] Die proklamierte Ausübung von Wohltätigkeit zielte im Besonderen auf die osteuropäischen Flüchtlinge ab. So wurden 200 Kinder im Jiddischen unterrichtet und 500 Personen in einem Flüchtlingsheim betreut. Dort wurde den Frauen Kleidung und Essen zur Verfügung gestellt. Die im Bund organisierten Zionistinnen errichteten ferner eine Jüdische Kinderhilfe und arbeiteten mit Schulen und Kindergärten zusammen.[18] Das Hauptanliegen des Bundes blieb jedoch die nationale Erziehung der Frau zur überzeugten Jüdin. Durch Einzelvorträge und kontinuierliche Kurse bestärkte der Bund die zionistischen Frauenvereinigungen in ihrer Arbeit und versuchte Frauen dazu zu motivieren, nach Palästina auszuwandern, blieb doch der Prozentsatz der Einwanderung von deutschen Zionistinnen weiterhin gering.[19]
3. Die Familie Ernst Pinner – Gründe für ihre Auswanderung nach Palästina
Im Jahre 1939 erwartete Margarete Turnowsky-Pinner in Tel Aviv die Ankunft ihres Bruders Ernst aus Deutschland. Sechs Jahre lang hatten die Geschwister einen regelmäßigen Briefwechsel gepflegt, sich auch persönlich getroffen.[20] Ein Brief pro Woche aus Deutschland, der von Woche zu Woche und von Jahr zu Jahr unheilvollere Nachrichten enthielt. Margarete hatte alle Stationen der Entwürdigung ihres Bruders erlebt: Der Entzug seines Notariats bis zur völligen Aufgabe seiner beruflichen Tätigkeit, der Verlust des Pinnerschen Hausstandes und die gesellschaftliche und soziale Isolation.[21] Trotz aller Demütigungen und Diskriminierungen konnte sich Ernst Pinner jahrelang nicht zu einer Ausreise nach Palästina entschließen. Als ehemaliger Frontkämpfer im Ersten Weltkrieg hing er am deutschen Vaterland und er wollte seine deutsche Staatsbürgerschaft nicht aufgeben.[22]
Erst Ende Juni 1938 war die Ausreise beschlossen. Die hohe Anzahl der verabschiedeten antijüdischen Gesetze in der ersten Hälfte des Jahres 1938 mögen den Entscheidungsprozess von Ernst Pinner beschleunigt haben:
„Ja, ich bin soweit, dass ich nun heraus will. Wie ich dir schon schrieb, ist mir der Gedanke an Palästina willkommen.“[23]
Gedanklich hatte sich ihr Bruder schnellstens auf die Bedürfnisse Palästinas eingestellt. Landwirtschaftliche Produktivgenossenschaften waren für den Aufbau des Landes erforderlich und in diesen Bereichen wollte er seine Arbeitskraft zur Verfügung stellen.
Überraschenderweise hatte Margaretes Neffe Hananja einen Ausbildungsplatz in einer großen Keramikfabrik in Stoke-on-Trent (England) erhalten.[24] Stefan, ihr zweiter Neffe, hatte sich im Besonderen um die Ausreisepapiere bei den deutschen Ämtern bemüht.
Die Einwanderung von Ernst Pinner und seiner Frau Rozalia mit ihren Kindern Magdalena und Stefan erfolgte am 10. September 1939 in Tel Aviv.[25] Hananja war in den Keramikwerken in Stoke-On-Trent nicht ausgebildet und schlecht bezahlt worden. Bevor er sich einen neuen Ausbildungsplatz suchen konnte, wurde er in England aufgrund des ausgebrochenen Krieges mit der nationalsozialistischen Diktatur interniert und anschließend nach Australien in ein Lager gebracht. 1943 durfte er nach Palästina ausreisen.[26]
Der Justizrat Sigismund Pinner, der Vater von Margarete und Ernst, verstarb am 25. März 1941 im Exil in Birmingham. Die jüngste Schwester des Vaters Recha Cohn, ihre Tochter und deren Mann kamen in Theresienstadt ums Leben.[27]
Autorin: Dr. Christiane Goldenstedt
Anmerkungen
[1] Vgl. Aus den Briefen von Ernst Pinner an seine Schwester Margarete Turnowsky-Pinner in Palästina, 1933-1938, File 56, Leo Baeck Archiv Jerusalem, S. 1.
[2] Vgl. Aus den Briefen von Ernst Pinner an seine Schwester, a.a.O, S. 1f.
[3] Vgl. Aus den Briefen von Ernst Pinner an seine Schwester, a.a.O., S. 2.
[4] Vgl. Aus den Briefen von Ernst Pinner an seine Schwester, a.a.O, S. 2.
[5] Vgl. Frederik Steven Louis Schoten, Ernst Toller: An intellectual Youth Biography 1893-1918, European University Institute, S. 157f.. http://cadmus.eui.eu/bitstream/handle/1814/8432/2007_07_SCHOUTEN.pdf?sequence=3, (gesehen 11.02.2015)
[6] Vgl. Jutta Dick, Marina Sassenberg (Hrsg.), Jüdische Frauen im 19. Und 20. Jahrhundert, Reinbek bei Hamburg 1993, S. 376.
[7] Vgl. Margarete Turnowsky-Pinner, A student’s friendship with Ernst Toller, Year-book 15 (1970), Leo Baeck Institute, S. 211-222. Eine Übersetzung des Artikels liegt jetzt in deutscher Sprache vor: Oliver Schlaudt, Margarete Turnowsky-Pinner: „Eine Studienfreundschaft mit Ernst Toller“ in: Markus Bitterolf, Oliver Schlaudt, Stefan Schöbel (Hrsg.), Intellektuelle in Heidelberg 1910-1933. Ein Lesebuch, Heidelberg 2014, S. 359-376.
[8] Vgl. Margarete Turnowsky-Pinner, A student’s friendship with Ernst Toller, a.a.O., S. 215.
[9] Vgl. Margarete Turnowsky-Pinner, Die zweite Generation mitteleuropäischer Siedler in Israel, Tübingen 1962. Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Institute of Jews from Germany, Bd. 5.
[10] Vgl. Margarete Turnowsky-Pinner, A student’s friendship wirth Ernst Toller, a.a.O., S. 214.
[11] Vgl. Margarete Turnowsky-Pinner, A student’s friendship wirth Ernst Toller, a.a.O., S. 215.
[12] Vgl. Margarete Turnowsky-Pinner, A student’s friendship with Ernst Toller. a.a.O., S.216f.
[13] Vgl. Margarete Turnowsky-Pinner, A student’s friendship with Ernst Toller, a.a.O., S. 217ff.
[14] Margarete Turnowsky-Pinner, A student’s friendship with Ernst Toller, a.a.O., S. 222.
[15] Dagmar Schneider, Juden in Lichtenrade, Geschichtswerkstatt Berlin-Lichtenrade. Direkt vor der Haustür. Berlin-Lichtenrade im Nationalsozialismus, Januar 1990, S. 174.
[16] Tamara Or, Vorkämpferinnen und Mütter des Zionismus. Die deutsch-zionistischen Frauenorganisationen 1897-1938, Band 3, Frankfurt am Main 2009, S. 193.
[17] Vgl. Tamara Or, a.a.O., S. 192-195, S. 197, S. 207f., 211, S. 220.
[18] Vgl. Tamara Or, a.a.O., S. 195.
[19] Vgl. Tamara Or, a.a.O., S. 195.
[20] Vgl. Aus den Briefen von Ernst Pinner an seine Schwester, a.a.O., S. 2.
[21] Vgl. Aus den Briefen von Ernst Pinner an seine Schwester, a.a.O., S. 1-44.
[22] Vgl. Aus den Briefen von Ernst Pinner an seine Schwester, a.a.O., Ende Juni 1933, S. 4.
[23] Aus den Briefen von Ernst Pinner an seine Schwester, a.a.O., 30.6.1938, S. 23.
[24] Vgl. Ernst Pinner, a.a.O., S. 33.
[25] Vgl. Dagmar Schneider, a.a.O., S. 211f.
[26] Vgl. Dagmar Schneider, a.a.O., S. 211f.
[27] Vgl. Aus den Briefen von Ernst Pinner an seine Schwester, a.a.O., S. 42.