Der Band 19 des Jahrbuchs für Exilforschung Jüdische Emigration. Zwischen Assimilation und Verfolgung, Akkulturation und jüdischer Identität ist eine wertvolle Zusammenstellung der unterschiedlichsten Aspekte der jüdischen Emigration während der Herrschaft des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges. Die Beiträge stammen nicht nur von Wissenschaftlern unterschiedlicher Generationen, sondern zeigen auch, wie erst durch einen interdisziplinären Zugang zum Thema die große Bandbreite an Fragestellungen beantwortet werden kann.
Im Folgenden sollen nur einige Aufsätze exemplarisch besprochen werden:
Der Literaturwissenschaftler Hans Otto Horch diskutiert in seinem Beitrag die Romantrilogie Wie eine Träne im Ozean des jüdischen Autors Manès Sperber im Kontext deutsch-jüdischer Exilliteratur. Zu Beginn reflektiert Horch über die Entwicklung der jüdischen Literatur und konstatiert, dass sich seit dem 19. Jahrhundert wenig positive Religiosität – ähnlich wie bei den nicht jüdischen Schriftstellern – aufzeigen lasse. Im Exil während der 1940er-Jahre aber habe eine Wende stattgefunden und es entstanden große Werke mit deutlichem Bezug zur jüdischen Tradition, von Autoren wie beispielsweise Karl Wolfskehl oder Nelly Sachs. Manès Sperbers Romantrilogie Wie eine Träne im Ozean könne als ein Beispiel eines jüdischen Autors gelten, der sich nicht als religiös verstand, der aber säkularisierte religiöse Elemente im Werk verarbeitet. Der aus dem galizischem Schtetl Zablotow stammende und dem Messianismus nahe stehenden Sperber erfährt erst seit dem „Dritten Reich“ ein Gefühl der Entwurzelung und verfasst seine Autobiographie All das Vergangene… als ein Dokument prinzipieller Absage gegen das Vergessen, so Horch. In seiner Romantrilogie gehe es im wesentlichen um die Existenz im Exil und um die grundlegende philosophische Orientierung in einer Welt ohne Gott. Einige markante Ausprägungen jüdischen Selbstverständnisses spiegeln sich in den Romanfiguren wider. Horch ist der Ansicht, dass Wie eine Träne im Ozean als eine Phänomenologie der jüdischen Existenz im Exil gelesen werden kann. Sperber stelle die Gegensätzlichkeit zwischen Ost- und Westjuden, zwischen wundergläubigen und aufgeklärten Juden dar. Dies macht die Trilogie, so Horch, zu einem Kompendium der neueren jüdischen Exilgeschichte.
Wolfgang Benz, Leiter des Instituts für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin, setzt sich in seiner, leider rein ereignisgeschichtlichen Darstellung mit der illegalen Einwanderung nach Palästina auseinander. So beschreibt er beispielsweise das Schicksal des Flüchtlingsschiffs Colorado, das Ende Juli 1939 vor Palästina von der britischen Mandatsmacht abgefangen wurde. Ein weiterer tragischer „Fall“ war die Fahrt der Pentcho, die mit 1.440 Passagieren lange Zeit auf der Donau festlag und am 9. Oktober 1940 vor der griechischen Insel Chamilonisi strandete. Ein parlamentarisches Nachspiel im britischen Unterhaus löste die Fahrt der Struma aus, die am 12. Dezember 1941 den rumänischen Hafen Konstanza mit 769 Flüchtlingen verließ und am 24. Februar 1942 unterging. Schließlich beschreibt Benz auch den bekanntesten Fall, die Exodus, die als Symbol des jüdischen Willens zur Einwanderung und des britischen Widerstands gilt. Im Juli 1947 startete das Schiff mit über 4.000 Flüchtlingen in Marseille und wurde vor der Küste Palästinas von den Briten abgewehrt und musste schließlich nach Europa umkehren.
Benz resümiert, dass die illegale Einwanderung eine oft vergebliche, vielfach tragische Anstrengung zur Überwindung äußerer Grenzen und eine kollektive Erfahrung des Unerwünschtseins, der Zurückweisung und des Unverständnisses für die jüdische Situation gewesen sei.
Mit einer speziellen Gruppe von Emigranten beschäftigt sich die Historikerin Gabriela Ann Eakin-Thimme in ihrem Aufsatz. Sie untersucht die Werdegänge von deutschen Historikern, die seit 1933 wegen ihres jüdischen Glaubens Deutschland verlassen mussten. Eakin-Thimme konzentriert sich dabei sowohl auf die lebensumständlichen Veränderungen für die Emigranten als auch auf deren intellektuelle Wendung. So befassten sich viele der emigrierten Historiker aufgrund der politischen Ereignisse vermehrt mit der Zeitgeschichte und machten diese zum wissenschaftlichen Thema. Dabei standen Themen wie Preußen, Nationalismus, Militarismus und Machtstaatsgedanken im Vordergrund des wissenschaftlichen Interesses, so Eakin-Thimme. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs habe sich der Fokus auf den Nationalsozialismus und das Jahr 1945 gerichtet. Ab Ende der 1940er-Jahre habe sich unter den in den USA lebenden und mittlerweile integrierten deutschen Historikern jüdischen Glaubens ein gemeinsames Deutungsmuster entwickelt, nämlich das der „western civilization“; die Anbindung Westdeutschlands an den Westen sei zum obersten Gebot geworden.
Während Eakin-Thimme eine ausgewählte Gruppe innerhalb der Emigranten untersucht, analysiert Julia Franke in ihrem Beitrag die Auswanderung in ein Land, nämlich Frankreich. Sie betont die Bedeutung der Hilfsgruppen in Frankreich für die Aufnahme und Integration jüdischer Flüchtlinge und beschreibt die wichtigsten Gruppierungen dieser Hilfsorganisationen.
Weitere Aufsätze des Band 19 des Jahrbuchs für Exilforschung zeigen die thematische, zeitliche und lokale Bandbreite des Themas Exil; sie greifen Themen auf wie Exil und Holocaust in Rumänien, Remigration nach Österreich, die Entstehung westdeutscher Nachkriegsliteratur oder die Situation des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens und die Emigration bis zur „Reichskristallnacht“.
Autorin (Rezensentin): Dr. Andrea Brill
Claus-Dieter Krohn (Hrsg.) u. a.: Jüdische Emigration. Zwischen Assimilation und Verfolgung, Akkulturation und jüdischer Identität (= Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, Band 19 / Herausgegeben von: Gesellschaft für Exilforschung). edition text+kritik, München 2001, 294 Seiten, ISBN 3-88377-672-6.