Rose Ausländer wurde 1901 als Rosalie Beatrice Scherzer in Czernowitz in der Bukowina (damals Österreich) geboren. Sie wuchs in einem jüdischen, liberalen und aufgeklärten Elternhaus auf. Während des Ersten Weltkriegs besetzten russische Truppen die Stadt, die Familie floh nach Wien, kehrte aber mit Kriegsende in das nun rumänische Czernowitz zurück. Rose Scherzer begann zu studieren, doch mit dem Tod des Vaters nahmen die finanziellen Schwierigkeiten zu, und sie emigrierte 1921 mit ihrem Studienfreund Ignaz Ausländer nach New York. Dort arbeitete sie als Redakteurin und begann zu publizieren. 1923 heiratete sie ihren Freund, trennte sich jedoch nach drei Jahren wieder und lebte mit dem Graphologen Helios Hecht bis 1936 zusammen. 1931 gingen beide nach Czernowitz. 1939 gelang es Rose Ausländer, vor dem zunehmenden Antisemitismus in die USA zu fliehen, doch kehrte sie zurück, als ihre Mutter erkrankte. 1941 bis 1944 besetzten die Nationalsozialisten die Stadt, Rose Ausländer lebte im Ghetto und musste Zwangsarbeit verrichten. Die Bukowina fiel nach dem Krieg an die UdSSR, die deutschsprachige Bevölkerung durfte nach Rumänien ausreisen. 1946 schiffte Rose Ausländer sich erneut nach New York ein. Sie reiste 1957 nach Europa und kam schließlich 1963 mit der Publikationserlaubnis ihres Gedichtbands „Blinder Sommer“ nach Wien, um dort zu bleiben. Sie zog aber von dort nach Düsseldorf um, um dem österreichischen Antisemitismus zu entgehen. Bis sie krank wurde und in ein Altenheim ging, reiste Rose Ausländer viel. 1978 wurde sie bettlägerig, schrieb aber weiter bis zu ihrem Tod 1988.
Biographische Notiz
Ich rede
von der brennenden Nacht
die gelöscht hat
der Pruth
von Trauerweiden
Blutbuchen
verstummtem Nachtigallsang
vom gelben Stern
auf dem wir
stündlich starben
in der Galgenzeit
nicht über Rosen
red ich
Fliegend
auf einer Luftschaukel
Europa Amerika Europa
ich wohne nicht
ich lebe
Der Titel Biographische Notiz verweist auf die vorgebliche Authentizität des vorliegenden Textes. Tatsächlich lässt sich ein direkter Bezug des Gedichts zu Ausländers Leben herstellen: Geboren im Buchenland, durch das der Fluss Pruth fließt, der Antisemitismus, die Gewalt und der Tod der Zeit des Nationalsozialismus, die Flugzeugreisen von Europa in die USA und zurück, die Unbehaustheit. Doch entspricht die Form des Gedichts weniger der Gattung Notiz, auch wenn es freie Verse mit unregelmäßigen Rhythmen sind. Das lyrische Ich stellt im ersten Vers fest: Ich rede – ganz allgemein anscheinend, doch im Gegensatz zu einem Schweigen, vielleicht einem Verschweigen durch die Täter oder einem Schweigen der stummen Opfer. Es redet von der brennenden Nacht/die gelöscht hat/der Pruth, vielleicht von dem Überfall der Nazis mit seinen himmelschreienden Schrecken und der Gewalt, die alles zerstört hat, bis auf den Fluss, Sinnbild der Natur, des Ewig-Gleichen, des Friedens, der Freude, des Lebens und der Heimat. Es redet weiter von Trauerweiden/Blutbuchen/verstummten Nachtigallsang. Die trostlose Natur wird zum Sinnbild entmenschter Menschheit, sie weist auf die allgegenwärtigen Gefühle und Erlebnisse hin. Die Natur ist stumm geworden angesichts der Schrecken, der Nachtigallsang ließe sich aber auch als Dichtung deuten, also als Hinweis auf das Ende der Naturlyrik. Gleichzeitig verweist das poetische Wort Nachtigallsang anstelle von Nachtigallgesang auf einen Rest von Kunst im Angesicht der Barbarei. Das lyrische Ich redet vom gelben Stern/auf dem wir/stündlich starben/in der Galgenzeit. Der Judenstern wird zu einem Ort, auf dem die Zeit und der natürliche Lauf des Lebens aufgehoben ist: Immer wieder ereignen sich neue Schrecken und Qualen für die, die als Juden gebrandmarkt sind – eine Galgenzeit, gekennzeichnet durch die Hinrichtung von Juden. Ausdrücklich nicht über Rosen/red ich, – das lyrische Ich spricht nicht von der Natur oder Gedichten – deutet man die Rose als Metapher in dieser Weise – , es flieht die Welt nicht, sondern sucht Worte, um das Unrecht zu benennen und darauf hinzuweisen. Gleichzeitig aber enthält die Negation das Positive, das es – trotz allem – noch gibt.
Ein Bruch setzt mit der nächsten Strophe ein: Fliegend/auf einer Luftschaukel/Europa Amerika Europa. Diese Verse enthalten keine Anklage mehr, sondern beschreiben eine neue Situation, die nicht mehr unmittelbar lebensgefährlich, sondern mit einem etwas spielerischen Gefühl verbunden ist. Doch schwingt bei dem Bild der Luftschaukel auch die Unsicherheit und Gefährdung mit. Das sprechende Ich konstatiert die eigene Heimatlosigkeit bei diesem Hin und Her, doch ist diese gar nicht entscheidend: ich wohne nicht/ich lebe. Das Leben, das Überleben und Weiterleben ist die Hauptsache. Der Parallelismus zum ersten Vers Ich rede erlaubt darüber hinaus die Gleichsetzung der Aussage: Reden – und da die Rede als Notiz vorliegt: Schreiben – bedeutet Leben, macht das Überleben möglich. Verstummen hieße Sterben. Im Schreiben steckt die Hoffnung, das Schreiben schafft einen Ort zum Leben, eine Heimat.
Noch ein weiteres Gedicht stellt Dichtung als Heimat dar: Die Dichterin schrieb Mein Venedig, nachdem sie bereits endgültig bettlägerig geworden war und keine Reisen mehr unternehmen konnte.
Mein Venedig
Venedig
meine Stadt
Ich fühle sie
von Welle zu Welle
von Brücke zu Brücke
Ich wohne
in jedem Palast
am großen Kanal
Meine Glocken
läuten Gedichte
Mein Venedig
versinkt nicht
Auch dieses Gedicht ist mehr als ein Reisebild: Venedig, die Traumstadt, gilt einerseits als Symbol der Romantik, andererseits aber auch als Symbol des Todes. Die Lagunenstadt droht zu versinken. Das Venedig Rose Ausländers jedoch versinkt nicht. Das poetische Wort bietet eine Heimstatt, wenn auch nur in der Imagination. Auch hier bleibt die Einschränkung durch das Possessivpronomen ambivalent: Mein Venedig als Metapher für die Dichtung betont sowohl die Besonderheit als auch die damit einhergehende Begrenztheit auf eine imaginäre Welt eines bestimmten Menschen – die eigene Heimat.
Autorin: Dr. Margret Karsch