Ein wahrlich produktives Leben
Die Verbindungen des deutsch-niederländischen jüdischen Romanciers, Lyrikers, Essayisten, Musikers, Sportlehrers, Arztes, Pädagogen, Psychiaters, Psychoanalytikers, Wissenschaftlers, Gastprofessors und Präsidenten des Exil-PEN Dr. Hans Keilson mit dem am Rande des Oderbruchs gelegenen Bad Freienwalde sind ebenso vielfältig wie die hier versuchte knappe Aufzählung seiner Tätigkeiten. Nicht nur wurde Keilson in dieser „kleinen, bescheidenen Provinz- und Kreisstadt im Oderbruch“, wie er Bad Freienwalde fast einhundert Jahre später in seinen Erinnerungen liebevoll nennt, am 12. Dezember 1909 geboren. Hier wuchs er zusammen mit seiner älteren Schwester Hilde auf und bestand im Frühjahr 1928 am Gymnasium in der Weinbergstraße das Abitur. Seine Eltern Max und Else Keilson betrieben in der Königstraße seit 1904 ein Textilgeschäft. Wie Keilsons Erinnerungen zeigen, wurde bereits in jungen Jahren durch Freunde seine lebenslange Begeisterung für Literatur, namentlich Heinrich Heine, Hermann Hesse und Thomas Mann, begründet und sein musikalisches Talent entwickelt. Ebenso entdeckte er bereits hier die Psychoanalyse Sigmund Freuds für sich. Allerdings wurde er in Bad Freienwalde auch schon früh mit Antisemitismus und Ausgrenzung konfrontiert. Die prägenden ersten 18 Lebensjahre mögen Grund genug sein, dass Hans Keilson – er war 1936 vor den Nationalsozialisten in die Niederlande geflohen und dort nach 1945 geblieben – im hohen Alter wiederholt in seine Geburtsstadt zurückkehrte, die ihn im Februar 1990 zum Ehrenbürger machte und 2004 die Bibliothek nach ihm benannte. Es gibt möglicherweise einen weiteren Grund: Im Alter von 23 Jahren verfasste Keilson mit Das Leben geht weiter seinen ersten Roman, in dem er Bad Freienwalde ein Denkmal setzte. Präzise und zugleich anschaulich und spannend beschreibt er im Stil der Neuen Sachlichkeit am Beispiel des Kaufmanns Seldersen den Niedergang des Kleinbürgertums einer brandenburgischen Provinzstadt Ende der 20er / Anfang der 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Auch wenn der Name der Stadt nicht genannt wird, ist überdeutlich, dass der Verfasser Autobiografisches verarbeitet und die Zustände in seiner Geburtsstadt schildert.
Keilsons Leben blieb auch nach seiner Zeit in Bad Freienwalde vielfältig. Mehr als einmal wurde er mit unerwarteten Herausforderungen konfrontiert, musste Verluste und Trauer erleiden, durfte Liebe, Zuneigung und Solidarität erfahren. Wer Lust verspürt, sich mit diesem ebenso spannenden wie langen Leben zu beschäftigen, sollte zu der im Frühjahr 2024 erschienenen Biografie von Jos Versteegen greifen, die zu Recht den bezeichnenden Untertitel Immer wieder ein neues Leben trägt.
Im Mittelpunkt dieses umfangreichen Werks – allein der darstellende Teil umfasst fast 550 Seiten, hinzu kommen knapp 150 Seiten Anmerkungen und Erläuterungen – steht die weitestgehend chronologische Schilderung von Keilsons Leben. Vor allem auf drei Quellenbereiche stützte sich Versteegen für seine insgesamt sechs Jahre andauernde Arbeit: die gedruckt vorliegenden Texte Keilsons, insbesondere seine Romane und Gedichte; den offenbar überbordenden Nachlass voller unzähligen Briefe und unveröffentlichter Manuskripte; ausführliche, intensive Gespräche und Briefwechsel mit Familienangehörigen, Freunden, Bekannten sowie ehemaligen Patienten Keilsons. All diese Quellen nutzt der Autor, um seinen Leserinnen und Lesern schrittweise die einzelnen Lebensphasen seines Protagonisten in ihrer Kontinuität wie Widersprüchlichkeit detailliert vor Augen zu führen.
Ausgehend von den Jahren in Bad Freienwalde schildert Versteegen die Zeit des Medizinstudiums und der parallelen Sportlehrerausbildung in Berlin, an deren Ende die Tätigkeit als Sportlehrer an jüdischen Schulen stand. Bereits in den ersten Jahren in den Niederlanden arbeitete Keilson zusammen mit einem Montessori-Projekt mit Kindern, die im normalen Bildungssystem Probleme hatten. Schon Ende der 30er Jahre sah er sich in den Niederlanden nicht nur anti-deutschen, sondern auch anti-semitischen Ressentiments ausgesetzt, war das Leben im Exil von ständiger Unsicherheit bestimmt. Das verschärfte sich mit der Okkupation der Niederlande durch Deutschland und führte dazu, dass Keilson zeitweise untertauchte und aktiv im antideutschen Widerstand tätig war. Nach der Befreiung der Niederlande setzte er seine Arbeit mit Kindern und Jugendlichen fort. Im Mittelpunkt standen jetzt junge Juden, die durch das NS-Regime entweder zu Waisen geworden waren oder über längere Zeit den Kontakt zu ihren Eltern verloren hatten. Aus dieser Tätigkeit entstand Keilsons Theorie der sequentiellen Traumatisierung, die seinen Ruf als Wissenschaftler begründete.
Versteegen beschränkt sich nicht darauf, das Leben seines Protagonisten einfach zu schildern. Zum einen bettet er die Darstellung der einzelnen Phasen klug und anschaulich in den jeweiligen historischen Kontext ein und zeigt die konkreten Auswirkungen politischer Entscheidungen und Gegebenheiten auf Keilsons Leben. Dabei thematisiert er auch dessen Reaktion auf die damalige Politik, wenn er zum Beispiel – eine wahre Trouvaille aus dem Nachlass – auf einen langen, vermutlich nie abgesandten Brief Keilsons an Chamberlain hinweist, in dem dieser die Appeasement-Politik differenziert kritisiert.
Ausführlich geht der Autor auf die Personen ein, zu denen Keilson Kontakt hatte. Die Familienmitglieder, die (zahlreichen) Geliebten, Freunde, Bekannte und Kollegen werden nicht nur in ihrer Beziehung zu und Bedeutung für den Protagonisten eingehend vorgestellt, sie werden bisweilen auch darüber hinaus in ihrer Lebensleistung gewürdigt. Das liest sich zwar kurzweilig, sprengt aber nicht selten den Rahmen einer Biografie. Hilfreich für das Verständnis von Keilsons komplexer Persönlichkeit sind hingegen die in erster Linie auf Briefen und Interviews beruhenden detaillierten Darlegungen seines Verhältnisses zu seiner Schwester Hilde, zu seinen Frauen Gertrud und Marita sowie zu seinen beiden Töchtern. Erhellend sind die Schilderungen der äußerst schwierigen Beziehung zu Hilde und der von Ambivalenzen geprägten Ehe mit seiner ersten Ehefrau Gertrud.
Jos Versteegen ist Schriftsteller, Dozent und Übersetzer und hat zahlreiche Gedichte Keilsons, der seine literarischen Texte grundsätzlich auf Deutsch verfasste, ins Niederländische übertragen. Vermutlich ist es dieser Profession des Biografen zuzuschreiben, dass das literarische Werk Keilsons hier eine herausragende Rolle einnimmt. Die enge Verknüpfung von realem Leben und literarischen Texten macht die besondere Qualität dieser Biografie aus. Mit präzisen Interpretationen verdeutlicht der Verfasser den Zusammenhang zwischen konkreten Lebenssituationen und einzelnen literarischen Werken Keilsons. Diese biografischen Bezüge sind augenfällig in den beiden Romanen und der Novelle; Keilson selbst hat wiederholt darauf verwiesen, dass das eigene Erleben eine wichtige Quelle seines literarischen Schaffens sei. Diesen Ansatz verfolgt Versteegen mit großem Gewinn auch bei der Interpretation der Lyrik, insbesondere bei den Gedichten zur Exil-Situation und denen für seine Geliebte Hanna. Sie werden damit einer überzeugenden Deutung zugeführt und tragen zugleich wesentlich zum Verständnis ihres Verfassers bei, ohne ihres Charakters als eigenständige Kunstwerke beraubt zu werden. Wünschenswert wäre es gewesen, wenn alle angesprochenen Gedichte vollständig zitiert worden wären.
Hans Keilson. Immer wieder ein neues Leben zeigt seinen Protagonisten als komplexen, widersprüchlichen Charakter. Während seines gesamten Lebens haderte er mit dem Judentum, definierte sich zwar als Jude, ohne aber die Bräuche und Rituale dieser Religion konsequent zu beachten. Sein Umgang mit Frauen war nicht frei von traditionellem Besitzdenken: Während er sich selbst wiederholt außereheliche Beziehungen erlaubte, war er andererseits voller Eifersucht. Er war eitel und um Anerkennung bemüht, trat zum Beispiel immer wieder mit Verlegern in Kontakt, um Buchprojekte voranzubringen, und schlug sich selbst für Ehrungen und Auszeichnungen vor.
Keilsons gesamtes Erwachsenendasein war bestimmt von der Trauer um die 1943 in Auschwitz ermordeten Eltern. Bis zu seinem Tod 2011 quälte ihn der Selbstvorwurf, die Eltern, die ihm schutzsuchend in die Niederlande gefolgt waren, nicht vor der Ermordung durch die Nationalsozialisten bewahrt zu haben. Dieses aus der Wissenschaft bekannte ‚Schuldgefühl des Überlebenden‘ dürfte der wesentliche Antrieb für seine Arbeit als Arzt, Psychoanalytiker und Wissenschaftler gewesen sein. Versteegen geht in seiner Biografie auf diesen Teil von Keilsons Leben zu knapp ein. Zwar beschreibt er die psychoanalytische Arbeit seines Protagonisten und dessen Ziel, seine wissenschaftliche Tätigkeit mit einer Dissertation zu krönen; auch erwähnt er eine in diesen Zusammenhang gehörende Israel-Reise und die Resonanz, die die Dissertation nach ihrer Veröffentlichung erfuhr. Den wissenschaftlichen Kern der Traumatheorie thematisiert der Autor hingegen zu knapp. Das ist umso bedauerlicher, als Keilson vor allem in seinen letzten Lebensjahren diese Theorie und seine Arbeit als Mediziner wiederholt als eigentlichen Kern seines Lebens bezeichnet hat.
Kurz nach seinem einhundertsten Geburtstag wurde Keilson gefragt, was ihm in seinem Leben das Wichtigste gewesen sei. Die knappe Antwort: „Überlebt zu haben. Produktiv gewesen zu sein.“ Versteegens Buch legt, trotz der formulierten Kritik, von beidem überzeugend Zeugnis ab.
Wie jede Biografie lädt auch diese dazu ein, sich mit der geschilderten Person und ihren Lebensumständen weiter zu befassen. In diesem Fall lautet die Empfehlung, chronologisch mit der Lektüre der drei längeren Prosatexte oder der Erinnerungen zu beginnen. Wer sich eher für den Wissenschaftler Keilson interessiert, findet einen ersten Zugang durch seinen Essay Die Faszination des Hasses. Das Verhältnis von Juden und Christen in Deutschland – ein Versuch, veröffentlicht in Kein Plädoyer für eine Luftschaukel.
Autor: Tomas Unglaube
Bibliografische Angaben:
Jos Versteegen:
Hans Keilson. Immer wieder ein neues Leben. Biographie. Aus dem Niederländischen von Marita Keilson-Lauritz, Frankfurt/Main: Fischer 2024
Hans Keilson: Das Leben geht weiter, EA 1933
Hans Keilson: Komödie in Moll, EA 1947
Hans Keilson: Der Tod des Widersachers, EA 1959
Hans Keilson: Da steht mein Haus. Erinnerungen, EA 2011
Hans Keilson: Kein Plädoyer für eine Luftschaukel. Essays, Reden, Gespräche, EA 2011
Hans Keilson: Tagebuch 1944 und 46 Sonette, EA 2014
Hans Keilson: Sequentielle Traumatisierungen bei Kindern. Deskriptiv-klinische und quantifizierend-statistische follow-up Untersuchung zum Schicksal der jüdischen Kriegswaisen in den Niederlanden, EA 1979
Hans Keilson: Werke in zwei Bänden. Band 1: Romane und Erzählungen, Band 2: Gedichte und Essays, Frankfurt/Main: Fischer 2005 u. ö.