Am Morgen des 1. September 1939 nahm mit der Beschießung der polnischen Westerplatte durch das Linienschiff und spätere Schulschiff „Schleswig Holstein“ der Zweite Weltkrieg seinen grauenvollen Anfang. Lediglich 200 polnische Soldaten standen damals anstürmenden Einheiten von Wehrmacht, SS, und Luftwaffe gegenüber. Mindestens zwölf Stunden sollten sie ihre Stellung vor dem Angriff der Hitler-Truppen verteidigen. So lautete ihr Befehl. Doch die polnische Verteidigung hielt beachtenswerter Weise bis zum 6. September. Nicht beachtet hat das der Zögling eines Offiziers der faschistischen Kriegsmarine, Joachim Gauck, der nunmehr als deutscher Bundespräsident nach Gdansk/Westerplatte gekommen war.
Eingangs fand das Ausmaß und die Einzigartigkeit des Verbrechens: Zweiter Weltkrieg bundespräsidiale Erwähnung. Das hörte sich dann so an:
„Mehr als 110 Millionen Menschen standen unter Waffen, fast 60 Millionen kamen um. Mehr als 60 Staaten waren in diesen Krieg verwickelt, in einem Waffengang, der erst nach sechs Jahren endete und mit dem Völkermord an den Juden eine bis dahin unbekannte Grausamkeit und Menschenverachtung erreichte“. Hitlers Ideologie von Lebensraum und dessen Rassenwahn kamen bei ihm auch nicht gut weg – zu Recht! Ebenso verurteilte Gauck den Terror gegen die polnische Zivilbevölkerung. Ausdrücklich würdigte er den Widerstand, den das polnische Volk so lange, wie kaum ein anderes geleistet habe. Später vernahmen die Zuhörer noch, wie das deutsche Staatsoberhaupt bei ihnen u.a. die Erinnerung an den Kniefall von Willy Brandt in Warschau wachrief, die er eine „Demutsgeste mit der er um Vergebung für die deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg bat“ nannte.
Doch sonst? Sonst kam da nicht viel, was auf den globalen Charakter dieses Krieges schließen ließ, der am 1.September 1939 Polen seinen verhängnisvollen Lauf um die Welt begann, und der in einen verbrecherischen Vernichtungskrieg münden sollte. Nichts in der gesprochenen Rede ließ Gauck auf den Hauptschauplatz jenes Krieges kommen, der die Hauptlast des faschistischen Vernichtungswahns auszuhalten, abzuwehren und sich von ihm zu befreien hatte – dem Osten. Er kam nicht vor! Dem Unrecht, das allein dreißig Millionen sowjetischen Kriegstoten widerfahren war, versagte der Bundespräsident Worte des Gedenkens. Der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel meinte hingegen nach Gaucks Rede sagen zu müssen: „Es ist beruhigend zu wissen, dass es an der Spitze unseres Gemeinwesens einen Präsidenten gibt, der nicht nur den Toten und den Opfern seine Ehre erweist, sondern auch von dem spricht, was heute der Fall ist“ . Um es noch einmal zu betonen, eine ganze Gruppe von Opfern und Toten wurde überhaupt nicht, derlei Ehre erwiesen.
Geschichtsvergessene Historiker sind schon sehr seltsam, aber in dieser Art repräsentierende Bundespräsidenten sind einfach nur peinlich.
Nun müssen und können ein Bundespräsident, so wie auch seine Redenschreiber die Geschichte sicher nicht in jedem Detail kennen, wenn sie sich auf so einen Termin vorbereiten. Aber gewisse Grundkenntnisse und die Fähigkeit zur Recherche, sollte man in diesen Kreisen schon voraussetzen.
Gestatten wir uns hierzu einmal eine Replik auf den preußischen Militärreformer, General Scharnhorst. Geschichte – sie sollte für Scharnhorst nicht zu sehr Sache des Gedächtnisses, zu einem Wust unerheblicher, ewig in einem Kreis wiederkehrender Begebenheiten werden. Sie solle durch die Erzählung wichtiger Ereignisse auf das Herz wirken (…). Die Geschichte müsse mehr Philosophie, Erfahrungslehre der Handlung von Menschen als eine Anhäufung von Tatsachen sein. Ferner schrieb der General der Geschichte eine Rolle als Erziehungsfaktor zu.
In diesem Sinne wäre der Bundespräsident auch noch ein verzogenes Kind. Hat er doch einfachste Regeln im Umgang mit der Geschichte nicht beherzigt. Denn statt auf einer Veranstaltung zum Beginn des Zweiten Weltkrieges mahnend allen (!) Kriegsopfern zu gedenken und vor Ewiggestrigen mit braunen Antlitz, die teils wieder in Parlamenten zu finden sind zu warnen, gefiel er sich in der Rolle als Schulmeister; Hauptfach Demokratie, Freiheit. Ohne Zweifel sind das unterstützenswerte Dinge – egal auf welchem politischen Terrain man zuhause ist. Aber diese Gedenkfeier auf der Westerplatte war das falsche Forum hierfür.
Stattdessen wurde Herr Gauck lieber zum – Grenzverletzer – und zog unzulässige historische Parallelen. Auf Nachkriegs-Polen schauend äußerte Gauck: „Mit der sowjetischen Herrschaft folgte eine Diktatur der Vorangegangenen .Frei wurde Polen erst dank Solidarność.“
Mit dem anderen Auge blickte er auf Russland und übte unbestritten notwendige Kritik an Putins Politik, gegenüber der Ukraine. Doch die gemeinsame Suche nach friedlichen Konfliktlösungen gehören in entsprechende Gremien; UNO, OSZE und EU. Dies gehört auf den Verhandlungstisch aber nicht auf eine Gedenkfeier. Denn noch einmal, es war unpassend die gegenwärtige Putin-Politik in der Ukraine an diesem Tag, an diesem Ort derart zu thematisieren und gleichzeitig die Folgen des Kriegsbeginns am 1. September 1939, für die Völker der Sowjetunion auszublenden.
Ebenso sollte einem verwesten DDR-Bürger, wie Gauck klar sein, Kritik ist selten eine Einbahnstraße. Oft fällt sie auf den Kritiker zurück und schließt ihn ein. Denn nicht nur Russland und die islamischen Terroristen, denen er den Bruch des Völkerrechts und völkerrechtswidrige Kriege vorwarf, hat derartiges vorzuweisen, sondern auch das Deutschland nach 1990. Als weltweit drittstärkster Rüstungsexporteur kommt man auch nicht gerade in den Ruf als besonderer Förderer von Frieden und von kollektiver Sicherheit zu gelten. Erst Recht nicht, wenn der Kritisierte auf der Westerplatte ausspricht: „für alle Nachgeborenen in Deutschland, erwächst aus der Schuld von gestern eine besondere Verantwortung für heute und morgen“. Und man weiß, Gauck definiert die Wahrnehmung von mehr Verantwortung mit noch mehr Auslandseinsätzen der Bundeswehr.
Schließlich: Demokratie und die Teilhabe an ihr ist oft auch eine Sache des Geldes. Zehn Jahre der unseligen Praxis von HARTZ-IV haben gezeigt, wie Menschen in Deutschland von dieser Teilhabe ausgeschlossen werden. Ex-Pfarrer Gauck stand im übrigen nie auf der Seite der HARTZ-IV-Gegner. Und der Bürgerrechtler Gauck, sofern es ihn gab, auch nicht.
Letztlich: Wenn man als politisierender Redner, noch dazu als Staatsoberhaupt,eingeladen wird, sollte man wissen wohin die Reise geht: Zu einer Gedenkfeier oder zu einer außenpolitischen Grundsatzrede. Vorwerfen muss man dem Gauck-Vortrag zudem, das er mit so viel arrogant wirkenden Fingerzeigen und vor allem mit so viel erbärmlicher Ignoranz gegenüber einem Kriegsopfer; der Sowjetunion, gehalten wurde. Doch ein Schulmeister, der an andere Noten verteilt und selbst das Thema verfehlt hat, das kommt gar nicht gut. Da möchte man eigentlich immer schwänzen.
Was bleibt ist die Frage, hätte ein deutscher Bundespräsident, das ihm auf einer Gedenkfeier fünfundsiebzig Jahre nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges eingeräumte Rederecht, nicht klüger nutzen können? Aber vielleicht muss einer so reden, wie er redete….
Autor: René Lindenau